29

Willow

Ich krümmte meinen Finger zweimal und rief Iban nach vorne. Er schüttelte den Kopf und sein jugendliches, ungläubiges Lächeln erinnerte mich daran, wie jung er war.

Wie jung wir waren und welche Wahl er hatte treffen müssen, noch bevor er alt genug war, um die Tragweite dessen zu verstehen.

»Hast du es jemals bereut?«, fragte ich und wich zurück, als er sich auf mich stürzte. Seine Hände fuhren durch leere Luft und die Stelle, an der ich noch kurz zuvor gestanden hatte, war jetzt völlig verlassen.

Ich schlug ihm mit der Seite meines Arms auf den Rücken und nutzte seinen Schwung gegen ihn.

Durch meinen Stoß geriet er ins Trudeln, seine Arme fuchtelten ein bisschen, als er um sein Gleichgewicht kämpfte, und er drehte sich um seine Achse, um mich anzuschauen. Überall auf dem Gelände vor der Schule taten die anderen Schülerinnen und Schüler das Gleiche. Hexen fanden sich mit anderen Hexen zusammen, Hüllen beobachteten in erster Linie, mischten sich aber ein, wenn sie dachten, dass sie sich als passende Gegner erweisen würden.

»Hin und wieder«, antwortete Iban und zuckte mit den Schultern, als ob es keine Rolle spielen würde.

Wahrscheinlich war es in gewisser Weise wirklich egal, da niemand etwas daran ändern konnte. Ich hoffte, dass er wenigstens eines Tages finden würde, wonach er suchte. Aber die Tatsache, dass er die Fähigkeit, Kinder zu zeugen, der Hexenkraft vorgezogen hatte, obwohl Susannah sie sowieso alle sterben lassen wollte …

Ich seufzte, drehte mich und zielte mit einem Tritt direkt auf sein Gesicht, als er auf mich zustürmte. Er blieb gerade noch rechtzeitig stehen, mein Bein in die Luft gereckt, sodass die Sohle meines Sneakers nur wenige Zentimeter von seiner Nase entfernt war. Er grinste und berührte die nackte Haut an meinem Knöchel, die unter meiner schwarzen Leggings hervorlugte.

Der Stoff war dünn und schmiegte sich perfekt an meine Kurven. Zwischen meinen Schenkeln gab es keine Lücke, und ich genoss das Gefühl, eine Hose zu tragen, die mir seit meiner Ankunft in Crystal Hollow verwehrt geblieben war. Ich hatte mich viel zu sehr daran gewöhnt, mir jeden Morgen die Innenseite meiner Oberschenkel mit Deo einzureiben, um zu vermeiden, dass sie sich wundscheuerten, wenn ich an einem Tag zu oft von einer Seite der Schule zur anderen laufen musste.

Ich befreite meinen Fuß aus seinem Griff, legte den Kopf schräg und warf ihm einen Blick zu, der ihm sagte, er solle sich konzentrieren. Er lächelte unschuldig, als ich einen Schritt zurücktrat, meine Schultern straffte und mich auf den nächsten Scheinangriff vorbereitete.

»Glauben Sie, Sie tun ihr damit einen Gefallen?«, fragte Gray und stellte sich neben Iban.

»Hören Sie auf«, zischte ich und funkelte ihn wütend aus den Augenwinkeln an.

Er hob spöttisch eine Augenbraue und ich wartete nur darauf, dass er die Worte aussprach, deretwegen sich seine Lippen zu einem Grinsen verzogen.

Ich konnte sie hören, als hätte er sie laut gesagt; ich spürte, wie sie zwischen uns hingen.

Das war nicht das, was du gesagt hast, als mein Mund auf deiner Pussy war.

Ich schluckte, wandte den Blick ab und ballte die Hände zu Fäusten. Ich wartete, bis Iban sich nach der Unterbrechung wieder gesammelt hatte, dann hob er seine Hände ebenfalls und kam auf mich zu. Er bewegte sich langsamer, als er es normalerweise draufhatte, denn die Augen, die jede seiner Bewegungen überwachten, machten ihn nervös.

»Es gibt einen Mörder in dieser Schule«, sagte Gray und seine Stimme wurde leise, als er Iban eine Hand auf die Schulter legte und ihn wegschob. Die anderen um uns herum verstummten bei dieser Erwähnung, bei der Mahnung, dass wir zwölf sehr verletzlich waren. »Wenn Sie ihre Sicherheit nicht ernst nehmen, dann lassen Sie sie mit jemandem kämpfen, der es tut.«

»Mit Ihnen?«, fragte Iban und die Herausforderung in diesen Worten war mir nicht entgangen. Es war ein Eingeständnis dessen, was Gray hätte effektiver verbergen sollen, denn er wusste, dass eine Beziehung zwischen uns ein Geheimnis bleiben sollte.

Gray ignorierte Iban, drehte sich zu mir um und stellte seine Füße schulterbreit auseinander. Es war das erste Mal, dass ich ihn bei Tageslicht ohne Anzug sah. Seine schwarze Jogginghose ließ die ausgeprägten Muskeln seiner Oberschenkel erahnen und sein schwarzes T-Shirt war so eng geschnitten, dass jeder erkennen konnte, wie breit seine Schultern und seine Brust waren.

Er erhob nicht einmal die Hand gegen mich, sondern zog nur die Augenbraue hoch und wartete darauf, dass ich zuschlug.

»Ich werde wohl kaum diejenige sein, die angreift«, murmelte ich und er lachte. Seine Brust bebte unter der Wucht des Lachens, während er den Kopf nach vorne neigte und die Augen schloss.

»Haben Sie sich schon mal selbst getroffen«, fragte er und sein Atem war ein tiefes Schnauben, das sogar Iban ein Lachen entlockte, als er unseren Austausch beobachtete.

»Wie unhöflich«, fauchte ich und verschränkte die Arme vor der Brust. Ich war mir des allzu neugierigen Blicks des anderen Mannes, der mich ins Bett kriegen wollte, viel zu bewusst und traute niemandem in dieser Schule so weit, wie ich ihn werfen konnte. Iban war lieb und ich vermutete, dass er letztendlich gute Absichten hatte.

Das bedeutete jedoch nicht, dass Susannah ihn nicht schon längst um den kleinen Fingerknochen gewickelt hatte.

Ich hatte ihre Worte nicht abschütteln können, nachdem sie bereit gewesen war, mich in den tiefen Schlaf zu versetzen. Sie war sich gewiss, dass Iban überzeugt werden konnte, mir beizuwohnen. Ich war mir da nicht so sicher, denn schließlich hatte ich den Verdacht, dass er sich unter einer Familie eine Ehefrau vorstellte und nicht jemanden, der im ewigen Schlaf lag und ihn mit einem Kind allein ließ.

Gray bewegte sich schnell und überbrückte die Distanz zwischen uns. Ich hatte kaum Zeit, meine Arme zu verschränken, bevor seine flache Hand gegen meine Brust knallte.

Ich fiel zurück auf den Boden, mir wurde die Luft aus der Lunge gepresst, während ich die Hände unter mich schob, um mit einem schnellen Sprung wieder auf die Füße zu kommen.

»Schon wieder so unhöflich «, sagte ich, rollte den Nacken und versuchte, meinen Körper locker zu machen.

Ich durfte mich nicht von Ibans wachsamen Blicken ablenken lassen, wenn ich den Kampf mit einer Hülle einigermaßen unbeschadet überstehen wollte.

»Das ist meine kleine Lieblingshexe«, murmelte Gray und das Lob entzündete einen Funken Wärme in mir.

»Soll ich mich geschmeichelt fühlen?«, hielt ich dagegen und starrte ihn finster an, trotz der Art und Weise, wie mein Körper reagierte. Mein Magen drehte sich um und ich fühlte mich für einen Moment verletzlich und entblößt. Ich schüttelte das Unwohlsein ab, als Gray ein Bein nach meinen Füßen schwang und mir gerade genug Zeit gab, darüber zu springen, bevor seine Faust auf mein Gesicht zielte.

Sie streifte meine Wange, als ich den Kopf drehte, um dem Schlag knapp auszuweichen. Ich funkelte ihn an, während ich näher an ihn herantrat. Meine Arme waren so viel kürzer als seine, die endlos zu sein schienen und mich zwangen, weiter in seinen Raum einzudringen.

Er könnte und würde mich packen, aber dann hätte er nicht die Möglichkeit, mit demselben Schwung einen Schlag zu landen. Er griff nach mir und versuchte, seine Arme um meinen Rücken zu schlingen, als ich tief einatmete und auf die Knie sank.

Ich hätte vielleicht eine bissige Bemerkung darüber gemacht, wie recht er gehabt hatte, dass ich als Nächstes auf den Knien sein würde – hätte ich nicht schnell sein müssen. Ich riss den Arm zurück und versetzte ihm einen scharfen Schlag in den Magen, der auf seine Milz zielte. Ich war mir nicht einmal sicher, ob Hüllen überhaupt Organe besaßen, aber es schien einen Versuch wert zu sein.

Meine Knie schlugen auf dem Boden auf und ich presste meine Handflächen zusammen. Nachdem ich sie zwischen seine Beine geschoben hatte, spreizte ich sie weit und verhakte sie hinter seinen Knien, dann zog ich. Grays Beine beugten sich nach vorne. Ich beeilte mich, meine Hände freizubekommen, bevor sie eingeklemmt wurden, sprang auf die Füße und hob ein Bein.

Der Roundhousekick traf ihn seitlich im Gesicht und schleuderte seinen Kopf zur Seite. Er erwischte meinen Knöchel und nutzte ihn, um meinen Körper zu verdrehen. Mein anderes Bein hob vom Boden ab und ließ mich in der Luft trudeln, während ich zu Boden krachte. Als ich mit dem Rücken auf dem Boden aufschlug, keuchte ich und bemühte mich, wieder auf die Beine zu kommen.

»Fuck«, stöhnte ich und presste eine Hand auf meine Brust.

Gray verringerte den Abstand, kroch über meinen liegenden Körper, setzte sich rittlings auf meine Hüften und starrte mich an. Aus seinem Mundwinkel quoll Blut und es erfüllte mich mit Stolz zu wissen, dass ich ihn zumindest verletzt hatte, bevor er mich auf die Bretter schickte.

»Noch nicht, kleine Hexe. Dafür brauchen wir kein Publikum«, sagte er und seine Worte waren so leise, dass sie nur für mich bestimmt waren.

Er starrte auf mich herab und schien sich überhaupt nicht darum zu kümmern, was die anderen um uns herum tuschelten, als er nach meinen Handgelenken griff. Ich schlug ihm ins Gesicht und vergrößerte den Riss in seiner Lippe, doch er lächelte, bekam mich schließlich zu fassen und drückte meine Hände neben meinem Kopf auf den Boden.

Ich konnte dem Drang kaum widerstehen, ihm ins Gesicht zu spucken.

»Du kannst mich hassen, so viel du willst, kleine Hexe. Ich versuche, dich am Leben zu erhalten«, sagte er und schnitt mir das Wort ab, als er sich nach vorne beugte. »Du bist kein Mensch. Also hör auf, wie einer zu kämpfen.«

Ich schluckte, denn ich hatte während unseres Sparrings nicht ein einziges Mal nach meiner Magie gegriffen. Ich nahm an, das sei normal, aber als ich mich umsah, schienen die anderen Schülerinnen und Schüler ihre Magie zu Hilfe zu rufen, wenn sie sich bewegten.

Mein Vater hatte mir das Kämpfen beigebracht. Mein Vater – in dessen Adern nicht einmal ein Hauch von Magie floss.

Ich schluckte und nickte ausnahmsweise zustimmend. Unbestreitbar kannten wir beide die Wahrheit. Schließlich ließ er mich los und stand auf, ich blieb auf dem Boden liegen.

»Steh auf«, murmelte er und straffte sich noch einmal.

Ich kam viel langsamer auf die Beine, konzentrierte mich auf meine Atmung und ließ mich an den Ort sinken, den meine Mutter mich zu berühren gelehrt hatte. Ihn zu hegen und zu nähren. Die Magie der Erde floss durch meine Adern. Ihre Stimmen flüsterten mir zu; ich musste nur zuhören.

Meine Lider schlossen sich, als ich das berührte, was vom Leben um mich herum übrig geblieben war. Gray starrte mich an, als ich meine Augen öffnete, und gab mir den Moment, den ich brauchte, um mich vorzubereiten.

Diesmal stürzte ich mich zuerst auf ihn und zielte auf sein Gesicht. Er wich aus, als ich mit meiner Magie am Gras zog und es zum Wachsen und Ausbreiten anregte. Als er sich bewegte, wickelte sich das Gras um seine Füße und hielt ihn fest, während ich es erneut versuchte.

Er wich immer noch aus, seine Geschwindigkeit war viel zu hoch, als dass ich auch nur daran denken konnte, mit ihm mitzuhalten. Es war unmöglich , ihn im Zweikampf zu erwischen, und meine Frustration wuchs.

»Du bist eine Hexe, Willow. Also sei eine verdammte Hexe und arbeite mit deiner Magie zusammen.«

Ich knurrte und griff nach dem Dreck, als er sich von den Grashalmen losriss und mich um die Taille packte. Seine Hände pressten sich in meinen Bauch, er hob mich vom Boden hoch und schleuderte mich nach hinten. Diesmal kam mir die Erde entgegen, fing mich auf und wiegte mich, als ich ausgestreckt auf dem Rücken landete.

Der Scheißkerl schnippte einen Krümel Dreck von seinem Shirt, starrte auf mich herab und brachte mein Blut zum Kochen.

»Noch mal.«

Und ich griff wieder an.