35

Willow

Gray trat schließlich vom Fenster weg, um mir eine Pause von seinen wachsamen Blicken zu verschaffen. Ich war in die Gärten gekommen, um ein paar Augenblicke allein zu sein und mich in das Einzige zu versenken, was für mich Sinn ergab.

Die Natur war beständig. Sie wogte und floss, aber ihre Kraft blieb immer in der Erde und wartete darauf, dass sie an die Oberfläche geholt wurde.

Sie wartete auf jemanden, der sie liebte, damit sie ihr volles Potenzial entfalten konnte.

Der Rosenstrauch tauchte einen Stängel in die Erde, ein einzelnes Blatt bildete eine Schale, um ein wenig Erde aufzunehmen. Es hob die Krumen zu meiner Hand, ließ die Erde in meine offene Handfläche fallen und die Wunde heilen, die ich geschaffen hatte, um ihnen neues Leben zu geben.

»Bene facis« , murmelte ich und fuhr mit der Spitze meines Zeigefingers über die scharfe Kante des Blättchens.

Ich erhob mich und ging lächelnd von dem Teil des Gartens weg, den ich bereits wiederhergestellt hatte. Ich würde nicht zulassen, dass Susannahs Machenschaften, die Erde zu verschmutzen, weitergingen. Ich würde alles in meiner Macht Stehende tun, um die Erde und ihre Magie zu bewahren. Sie waren das einzig wirklich Unschuldige an Susannahs Taten. Ich wanderte durch die Gärten und verlor die Zeit aus den Augen, als ich meinen Gedanken freien Lauf ließ. Ich wusste nicht, was die letzte Nacht für meine Aufgabe bedeutete. Würde ich die Knochen finden, wenn Gray mir half, wie er es versprochen hatte.

Und was, wenn er es tat? Würde ich mich umdrehen und ihn danach zerfallen lassen?

Ich starrte zur Schule, taumelte in Richtung der Steine des Gebäudes und fuhr mit den Fingern über die raue Oberfläche. Es gab das Böse und Korruption innerhalb dieser Mauern. Das ließ sich nicht leugnen.

Aber da war auch Della mit ihrer Freundlichkeit und ihrem Mitgefühl, das sie mir entgegengebracht hatte, als ich in der Nacht der Ernte durchgedreht war. Sie war viel geduldiger gewesen als nötig, drängte mich nie nach mehr Informationen, um ihre Neugierde zu stillen.

Sie war eine Freundin für mich gewesen, als ich sie am meisten brauchte.

Da war auch Iban mit seiner ruhigen Standhaftigkeit und seiner Flirterei. Iban, der so entschlossen war, die Liebe seines Lebens zu finden, dass er einen großen Teil von sich selbst aufgegeben hatte.

Margot, die gelitten hatte und sich nicht gerne berühren ließ, aber niemand hatte ihr je beigebracht, dass ihre Magie nicht bloß auf Begierde beruhte, sondern dass sie sich auch daran beteiligen musste.

Es gab zwar Korruption, aber es gab auch anständige Menschen, die es nicht besser wussten oder nicht verstanden, welche Konsequenzen der Coven verursachen würde.

Mein Nacken kribbelte und zwang mich, mich zurückzudrehen, um auf den Weg zu sehen. Die Haare auf meinen Armen stellten sich auf und warnten mich vor etwas, das sich näherte und das ich nicht verstand. Bevor ich nach Crystal Hollow gekommen war, hatte ich noch nie derartige Wahrnehmungen gehabt.

Ich hatte nie gespürt, dass etwas auf mich zukam, oder die Vergangenheit in meinen Träumen gesehen. Ich fragte mich, ob es die Nähe zu den Knochen war. Reichte es sogar schon aus, ihnen nah zu sein, um meine Fähigkeiten zu einem gewissen Grad an die Oberfläche zu bringen.

Nicht die physische, sondern die innere Magie.

Die Knochen der Covenant kamen auf mich zu, als ob ich sie mit meinen Gedanken herbeigerufen hätte. Ihr Kiefer sah so angespannt aus, dass ich eine Gänsehaut bekam.

»Susannah«, sagte ich vorsichtig. Ich hatte nicht vergessen, was sie das letzte Mal getan hatte, als wir allein waren.

Was sie mir angedroht hatte.

Aber diese Gärten waren mein Territorium und die Rosen schwankten in den Weg und hinderten sie daran, mich zu erreichen.

»Ich habe nicht die Absicht, dir heute wehzutun, Willow«, erklärte Susannah, als wäre ich ein unerträgliches Problem, das sie loswerden wollte.

»Was willst du dann?«, fragte ich und winkte mit der Hand.

Die Rosen zogen sich in ihre Beete zurück und hielten sich bereit, falls Susannah ihre Meinung ändern sollte. Mein Blut war hier so frisch, dass sie mich auch ohne meine Bitte verteidigen würden.

»Ich wusste sofort, dass mit dir etwas nicht stimmt«, sagte sie und ließ ihren Blick auf die frischen punktförmigen Wunden an meinem Hals fallen. Auf jeder Seite waren zwei, eine von letzter Nacht und eine von heute Morgen, und Susannah steckte ihre Hand in ihre Tasche, während sie angewidert seufzte.

»Kann ich nur zurückgeben«, sagte ich und lächelte süßlich. »Obwohl ich glaube, dass es bei dir wahrscheinlich etwas offensichtlicher ist. Du weißt schon, Knochengerippe und so.«

»Ich habe zu lange gebraucht, um herauszufinden, warum du mir so bekannt vorkommst, obwohl du überhaupt nicht wie Flora aussiehst«, wandte Susannah ein und zog langsam ihre Hand aus der Tasche.

Ich schluckte und mein Blick fiel auf das Schwarz-Weiß-Bild, das sie in ihren Händen hielt. Das Gesicht einer Frau starrte mich an, als sie es mir hinhielt. Ich griff danach. Es war ein Gesicht, das ich viel zu oft in der Hütte meines Vaters gesehen hatte.

Eines, das ich in meinem Traum gesehen hatte.

Eines, das er nur ungern erkannte, wenn er mich ansah.

»Du bist Loralei wie aus dem Gesicht geschnitten, Mädchen«, sagte sie und ihre Stimme wurde leiser, als sie die Worte sprach. »Deine Tante, nehme ich an?«

»Ich weiß nicht, wovon du redest«, sagte ich und schüttelte den Kopf. »Ich habe diese Frau noch nie gesehen.«

»Natürlich nicht«, schnaufte Susannah. »Sie wurde in diesen Mauern ermordet, lange bevor du geboren warst. Das heißt aber nicht, dass du nicht genau weißt, was sie ist.«

Ich ließ meine Hand mit dem Bild an meine Seite sinken, während ich meine Möglichkeiten überdachte. Jetzt, wo Susannah wusste, wonach sie Ausschau halten musste, würde es nicht mehr lange dauern, meinen Vater ausfindig zu machen. Es musste irgendwo Aufzeichnungen über seine Geburt geben, und alles Verborgene konnte ans Licht gebracht werden, wenn man wusste, wonach man suchen musste.

»Und was willst du mit diesem Wissen tun? Mich umbringen?«, fragte ich und wusste nicht, ob ich gerade meinem Tod ins Gesicht starrte. Ich ließ einen Finger kreisen und rüttelte die Pflanzen neben mir auf. Sie wichen zurück und machten sich bereit zuzuschlagen, falls sie mich verteidigen mussten.

»Du bist die Letzte meiner Blutlinie. Du musst doch wissen, dass ich alles tun würde, um sie zu erhalten«, sagte Susannah und ließ ihren Kopf nach vorne hängen. Sie kniff sich ins Nasenbein. »Geh. Verlasse diesen Ort und kehre nie wieder zurück. Schütze dich, damit der Covenant und Alaric dich nicht finden können. Ich werde dich aus Loyalität zu unserem gemeinsamen Blut am Leben lassen, aber du kannst hier nicht bleiben.«

Ein paar Wochen zuvor wäre das Angebot alles gewesen, was ich gewollt hätte. Ich hatte versucht, meine Pflicht zu erfüllen, und war gescheitert, aber ich hatte getan, was ich konnte. Sie hatte mir die Erlaubnis gegeben, zu Ash zu gehen und unser Leben frei vom Coven zu leben.

Und dennoch …

»Wo sind die Knochen, Susannah?«, fragte ich und starrte ihr ins Gesicht. Das war das, was einem Geständnis von mir am nächsten kam, das Bekenntnis, dass ich nach etwas suchte, das nur eine Hecate interessierte.

Susannah lachte, wobei der Ton unangenehm gegen ihre Rippenknochen vibrierte. Ein Schauer lief mir über den Rücken. Ich wollte nicht darüber nachdenken, was sie an all dem unterhaltsam fand. Ich warf einen Blick auf den Rosenstrauch an meiner Seite und schluckte, als sie einen Schritt auf mich zu machte.

»Dummes Mädchen, dein Liebhaber hat sie die ganze Zeit gehabt. Sicherlich weißt du das und deshalb hast du ihm erlaubt, dich zu berühren. Darum hast du ihm solche Freiheiten gewährt.«

Die Gewissheit in ihrer Stimme ließ mein Herz einen Schlag aussetzen. Wie selbstbewusst sie ihre Behauptung aufstellte. Ich konnte mir nicht sicher sein, ob sie log, um mich auszutricksen, aber ich hatte das Gefühl, gegen den plötzlichen Druck in meiner Brust nicht mehr anatmen zu können.

»Du irrst dich«, sagte ich und zwang mich, den Schmerz wegzulachen. »Gray weiß, was ich bin. Er sagte, er würde mir helfen, die Knochen zu finden. Er hätte sie mir gegeben, wenn er sie hätte.«

Susannah erstarrte und ließ den Schädel hängen, als die Spuren der Belustigung aus ihren Knochen verschwanden. »Er weiß es?« Das Zittern in ihrer Stimme kam wohl so etwas wie Angst am nächsten, als sie auf mich zukam und meine Hände festhielt. »Um der Hölle willen, Willow. Hör mir zu. Wenn du nur auf eine Sache hörst, die ich dir sage, dann soll es diese sein. Lauf weg. Lauf weg und komm nie wieder zurück«, befahl sie und zuckte zusammen, als die dornigen Ranken der Rosen sich um ihre Knochen schlangen und ihren Arm von mir wegzogen.

»Warum sollte ich weglaufen? Die Hüllen haben Charlotte für das geliebt, was sie für sie war«, sagte ich und lachte über ihr Entsetzen. Doch ich konnte das mulmige Gefühl in meinem Bauch nicht abschütteln, so sehr ich mich auch bemühte. Nicht einmal, als die Rosen sich um Susannahs Taille legten und sie sich nicht wehrte.

»Alles, was ich getan habe – die Wahl, die Hexer treffen müssen –, war nur, um ihn davon abzuhalten, dich in die Finger zu bekommen«, sagte sie, als der Rosenstrauch sie zu Boden zerrte.

Ich befahl ihnen nicht, aufzuhören; das konnte ich nicht. Nicht, wenn ich davon ausgehen musste, dass Susannah mich nicht am Leben lassen würde.

Nicht, wenn sie wusste, wer ich war.

»Das ergibt keinen Sinn«, sagte ich und schüttelte den Kopf in Verleugnung.

»Diese Knochen sind es nicht wert, was du entfesseln wirst, wenn du hierbleibst. Du kennst ihn nicht, Willow. Der Pakt hat alle, die ihn kennen, zur Verschwiegenheit verpflichtet«, sagte sie und etwas, das einem erstickten Schluchzen ähnelte, entrang sich ihr, als der Rosenstrauch sie in die frische Erde im Gartenbeet zog. Er schleifte sie über den Boden und brach ihre Knochen und ich zuckte zusammen. Sie war nur noch ein Haufen aus Gebeinen, als die Blumen und Dornen sie umschlangen und in die Erde zerrten.

Sie verschwand Stück für Stück, während die Pflanzen sie immer weiter nach unten drückten.

»Ich werde nichts entfesseln. Ich will nur tun, was richtig ist.«

»Dein Schicksal ist es nicht, das Richtige zu tun. Dein Schicksal ist es, uns alle zu vernichten.« Susannah warf mir noch einen letzten entsetzten Blick zu, bevor ihr Schädel in der Erde verschwand.

Der Rosenstrauch verdeckte das Grab, in dem er die Covenant lebendig begraben hatte, und ich blinzelte geschockt. Meine Unterlippe zitterte, als ich aufstand und zu den Türen der Schule zurückblickte.

Ich ging einen Schritt, entschlossen, Gray zu fragen, was sie gemeint hatte.

Ich hielt inne.

Susannah hatte sich nicht gewehrt. Sie war die Covenant , und Pflanzen hin oder her, sie hätte leicht fliehen können. Sie hatte das aber nicht gewollt, nicht wenn …

Lauf.

Ich wandte meinen Blick von der Schule ab und drehte mich in Richtung des Waldes, der Hollow’s Grove umgab.

Ich warf einen letzten Blick über die Schulter und atmete tief durch, um meine Panik zu besänftigen, dann rannte ich los.