41

Willow

Ich starrte die Frau an, von ihrem Seidenkleid tropften die Überreste des Blutes des Covenant. Sie berührte Grays Arm, als sie an ihm vorbeiging, drückte ihn mit einer Vertrautheit, die alles in mir erstarren ließ. Sie verweilte nicht bei ihm, sondern überbrückte mit langsamen, gleichmäßigen Schritten die Distanz zwischen uns, bis sie direkt vor mir stehen blieb.

Eine jugendliche Hand berührte mein Gesicht und umfasste meine Wange, während sie auf mich herabblickte und lächelte.

»Ich verstehe das nicht«, flüsterte ich und schaute über ihre Schulter zu Gray, der uns aufmerksam beobachtete.

»Ich glaube doch, dass du verstehst«, gab die Frau zurück, nahm ihre Hand von meinem Gesicht und strich mit einem Finger über die Knochenkette. Dann ergriff sie meine Hände.

Ich hielt inne und starrte in diese alterslosen Augen, die bis in mein Inneres zu sehen schienen – die mich auf eine Weise zu verstehen schienen, wie es sonst niemand tat. Ich konnte mir die Verbindung nicht erklären und auch nicht, wie das Gewicht dieses Blicks etwas in mir zum Beben brachte.

»Charlotte?«, fragte ich und musterte ihre Zähne, als ihr Lächeln breiter wurde.

Sie nickte und drückte meine Hände, während ich sie anstarrte. Ich verstand nicht, was die Wiederauferstehung von Charlotte Hecate bedeutete oder warum sie so wichtig war, aber bevor ich weitere Fragen stellen konnte, drehte sie sich mit einem finsteren Blick zu meinem Vater um.

»Du hast geschworen, meine Schwester zurückzubringen!«, rief er, sein Gesicht war rotfleckig und zornig, als er den wütenden Blick auf Gray richtete. Die Hülle zeigte sich unbeeindruckt und säuberte mit dem Dolch seine Nägel. Er hatte ihn eilig aufgehoben, so als fürchtete er, ich könnte versuchen, ihn mit dem spitzen Ende zu erstechen.

Ich war entschlossen, mich für diesen Gefallen zu revanchieren.

Charlotte bewegte sich auf meinen Vater zu, ihr schleppender Gang war unheimlich und furchterregend, da hob sie eine Hand. Mein Vater schnappte nach Luft, ließ das Messer los, das er Ash an die Kehle gehalten hatte, und griff an seinen eigenen Hals und krallte sich in seine Haut. Er versuchte, sich von der Hexe zu befreien, die ihn erwürgte, ohne jemals Hand an ihn gelegt zu haben.

»Nur die schlimmste Sorte Mann würde seiner eigenen Tochter schaden wollen«, sagte Charlotte.

Ash stürmte von meinem Vater weg und rannte in die Mitte des Tribunalkreises. Ich sank auf die Knie, als er sich mir gegen die Brust warf und mich auf die Fußballen zurückkatapultierte, während ich ihn in die Arme schloss.

»Low«, murmelte er, während ein lautes Schluchzen seinen kleinen Körper schüttelte.

»Pssst«, flüsterte ich und zwang mich zu einem falschen Lächeln. Auch wenn er es nicht sehen konnte, weil er sich zu eng in meiner Brust vergraben hatte, fühlte es sich wichtig an. »Es wird alles wieder gut. Ich verspreche dir, dass es dir gut gehen wird.«

Ich drückte ihn fest an mich, während ich beobachtete, wie Charlotte auf meinen Vater zuging. Sie stampfte mit dem Fuß auf den Boden des Tribunalraums und die Steine und Fliesen teilten sich unter ihr. Die Grube, die sich zwischen ihr und meinem Vater auftat, war klein und eng, und sie trat um sie herum, um ihn an der Rückseite seines Shirts zu packen.

»Mal sehen, wie dir das Leben in der Dunkelheit gefällt«, knurrte sie und schleuderte ihn in die Grube.

Er schrie auf, als sie mit der Hand über der Grube winkte, kämpfte gegen den Dreck an, der wieder hineinfiel, um ihn zu bedecken. Der Stein und die Fliesen setzten sich in einer langsamen Welle wieder zusammen und schoben sich über die Oberseite des Lochs, bis es aussah, als wäre nie etwas beschädigt gewesen.

Charlotte hatte meinen Vater unter der Schule begraben, und als ihr Blick zu mir wanderte und sie ihr Kinn reckte, verstand ich.

Sie wusste es. Sie wusste, was ich erleiden musste, wenn ich ihn enttäuscht hatte. Sie wusste von der kleinen sargförmigen Nische, die er in der Ecke seines Kellers ausgehoben hatte und aus der der einzige Weg durch eine verschlossene Tür zu meinen Füßen führte.

Sie wusste, wie der Schmutz durch die Ritzen im Holz rieselte und auf mein Gesicht traf, sie wusste, wie sich die Dunkelheit in meiner Seele eingenistet hatte.

Ich schluckte und stand auf, als sie sich näherte. Ash klammerte sich an meine Beine, schlang seine Arme fest darum und weigerte sich, mich loszulassen. Ich sagte kein Wort über das, was Charlotte wusste. Das Verständnis spannte sich zwischen uns, als sie sanft eine Hand auf den Kopf meines Bruders legte und vor ihm in die Hocke ging.

»Juliet wird dich jetzt zu deinem Vater zurückbringen, Bug«, erklärte sie.

Ich schüttelte den Kopf, schlang meinen Arm fester um seine Schulter und drückte ihn an mich. Charlottes Blick war mitfühlend und traurig, als sie zu mir aufsah.

»Zwing mich nicht, mich noch einmal zu verabschieden«, flehte ich.

»Dieser Abschied ist nicht für immer, nur für den Moment«, sagte sie und schaute die Hülle über meine Schulter hinweg an. Juliet trat vor und hielt Ash eine Hand hin, während ich auf ihn hinunterblickte und erneut den Kopf schüttelte.

»Ich kann nicht«, flüsterte ich.

Charlotte stand auf, nahm mein Gesicht in ihre Hände und strich mit ihrem Daumen durch die Tränen, die sich unter meinen Augen gesammelt hatten. »Du hast dein Schicksal noch nicht erfüllt, mein Schatz. Solange du das nicht tust, ist es hier nicht sicher für ihn.«

Ich schloss die Augen und beugte mich nach unten, um meine Lippen auf Ashs Scheitel zu pressen.

»Nein, Low«, flehte er, als Juliet seine Hand nahm und ihn sanft wegzog.

»Ich hab dich lieb«, sagte ich, und meine Nasenflügel bebten, als ich versuchte, das Schluchzen in meiner Kehle zu unterdrücken. Ich bemühte mich, die endlose Flut von Tränen zu kontrollieren, die mit den überwältigenden Gefühlen kam. »Ich werde dich immer beschützen, auch wenn ich diejenige bin, vor der du beschützt werden musst.«

»Low!«, schrie er und klammerte sich an meiner Hand fest, als Juliet ihn in ihre Arme zog.

Sie behandelte ihn sanft, als wäre er für sie genauso wertvoll wie für mich. Wir tauschten einen Blick aus und sie nickte verständnisvoll, als hätte sie meine Worte gehört.

Wenn ihm irgendetwas zustoßen würde, würde ich ihre Hülle unschädlich machen und ihren Dämon in einen Kreis sperren, mit dem ich dann wochenlang spielen würde.

Ashs Finger glitten durch meine durch, als ich ihn nicht mehr länger festhielt, und ich spürte, wie jedes Stück seiner Haut über meine glitt.

»Ich nahm an, dass ich bereits meinen Teil dazu beigetragen habe, dich zurückzubringen«, sagte ich zu Charlotte und die Melancholie in meiner Stimme klang selbst für mich seltsam. Es war nicht normal, dass ich mich so ausgehöhlt fühlte, dass die Leere, die ich in meinem Inneren gefangen hielt, aufstieg und mich ganz verschlang.

Aber wozu war das gut gewesen?

Mein ganzes Leben war darauf ausgerichtet, die Knochen zu finden, und ich wusste nicht einmal, warum .

»Ich bin nicht dein Schicksal«, entgegnete meine Vorfahrin und ergriff meine Hand. Sie führte mich zurück zu dem Spiegel auf dem Boden und wir starrten auf unsere Reflexion im Glas. »Ich bin nur ein Geschenk deines Ehemannes, damit du das, was jetzt kommt, überleben kannst.«

Sie berührte mit ihrer freien Hand meine Schulter und drückte mich vor dem Spiegel auf die Knie, während ich verwirrt zu ihrem Spiegelbild blinzelte.

»Ich habe keinen Ehemann«, erwiderte ich und versuchte zu ignorieren, dass sich mir bei ihrem Lächeln, das sie mir als Antwort gab, die Nackenhaare aufstellten.

Sie schob ihre Finger unter den Saum meines Pullovers und zog den Stoff zur Seite, sodass das Auge des Teufels sichtbar wurde. Sie drückte ihren Finger zielsicher in die Mitte des Mals und beugte sich vor, um meinem Blick im Spiegel zu begegnen. »Dieses Zeichen sagt etwas anderes.«

Ich schluckte und folgte ihr mit dem Blick, als sie auf die andere Seite des Spiegels trat und sich vor mich kniete. »Ich habe so viele Fragen. Ich verstehe das alles nicht. Der Knochen gehörte mir nicht. Wie ist er …«

»Ich habe ihn in der Nacht, in der du geboren wurdest, dorthin gelegt«, antwortete Gray und stellte sich hinter mich. Er berührte mit dem Finger das Auge des Teufels und brachte den scharfen Schmerz an die Oberfläche. »Vor langer Zeit bat mich Charlotte, dafür zu sorgen, dass sie immer bei dir sein würde.«

»Ich – aber warum ? Das ergibt doch alles keinen Sinn«, rief ich, als Charlotte meine Hände in die ihren nahm.

»Du warst der Preis für meinen Pakt, Willow«, sagte sie und strich mit ihren Daumen über meine Handrücken.

»Die Hüllen waren der Preis für den Pakt«, widersprach ich.

»Die Hüllen waren eine Ablenkung. Sie waren meine Art, die Möglichkeiten der Dämonen einzuschränken, Menschen zu verletzen. Ich zwang sie somit, in der Nähe des Coven zu bleiben. Sie waren nie der Preis, den der Teufel für die Magie verlangte, die Er mir gab. Das warst immer du«, sagte Charlotte und schüttelte traurig den Kopf. »Nur die Tochter zweier Blutlinien, zweier Magien, kann das Siegel öffnen.«

Ich starrte in den Spiegel, sah das Gesicht der Frau, das in den Stein gemeißelt war, der das Glas umgab. »Warum ist dein Gesicht auf dem Spiegel?«, fragte ich und irgendetwas an meinen Worten säte Zweifel. Irgendetwas in mir hatte begonnen, die Punkte zu verbinden und die Teile zusammenzufügen.

»Schau noch mal hin. Das ist nicht mein Gesicht, Liebes«, sagte sie und bestätigte damit mein wachsendes Entsetzen. Gray stellte sich hinter mich, eine starke Präsenz an meiner Wirbelsäule, während Charlotte meine Hände so führte, dass sie knapp über dem Glas verharrten.

Die Frau im Stein starrte mich an, die Züge ihres Gesichts waren mir so vertraut, weil ich sie jeden Tag betrachtet hatte. Das Kleid und die Krone, die sie trug, waren anders als alles, was ich je gesehen hatte, und ich hatte den Zusammenhang nicht erkannt.

Aber sie war ich, in Stein gemeißelt – nur der Teufel wusste, wie viele Jahre vor meiner Geburt.

Charlotte drückte erst meine eine Hand auf das Glas und dann direkt danach die zweite, während ich versuchte zu verstehen, was passierte. Der Schmerz explodierte in meinen Fingerspitzen und brannte, als ob ich meine Hände in die Flammen der Hölle gehalten hätte. Meine zaghafte Berührung wurde fester, das Glas zog mich von der anderen Seite, während Charlotte meine Hände mit ihren bedeckte.

»Was auch immer du tust, lass nicht los, bis ich es dir sage«, wies sie mich an und ihr Gesicht verzerrte sich mit demselben Schmerz, der auch mich verzehrte. Flammen breiteten sich auf meinen Armen aus und ließen meine Haut unversehrt, aber der Schmerz, der meinen Körper durchzog, war real. »Du stirbst sonst, wenn du das tust.«

Der Spiegel zersplitterte unter meinen Händen, das Glas trudelte hinab in eine schier bodenlose Grube, die sich unter uns auftat. Der Fall dauerte eine Ewigkeit, doch irgendwann verschmolzen die Scherben mit der Dunkelheit. Ein einzelnes Licht erglomm und breitete sich in dem Abgrund aus, während sich die Magie entfaltete. Eine Wendeltreppe erschien langsam, Stufe um Stufe, und wand sich tief bis in die Grube hinein. Erst als das Licht der Treppe den Boden berührte, wurde mir bewusst, was ich da sah.

»Dann lass mich sterben«, sagte ich und zerrte an meinen Händen. Obwohl das Glas weg war, wollte es mich nicht loslassen.

»Du musst leben. Du musst leben, weil du die einzige Hoffnung bist, das wiedergutzumachen, was ich getan habe«, sagte Charlotte mit entsetzter Stimme, als die erste der Kreaturen ihren Fuß auf die unterste Stufe setzte. »Es tut mir so leid.«

Das Wesen dort unten war fast menschenähnlich, als es mit scheußlich roten Augen zu mir aufblickte und langsam die Treppe erklomm. Die Flügel einer Fledermaus wölbten sich um seine Schultern und schleiften fast über den Boden, während es hinaufstieg. Ich wusste nicht, warum diese Kreatur nicht einfach flog, aber ich schluckte, als ich erneut versuchte, die Magie loszulassen, die die Schlünde der Hölle zur Erde öffnete.

Beelzebub erreichte das obere Ende der Treppe, krallte sich mit einer Hand am Boden des Tribunalraums fest und zog sich heraus, während er den Nacken dehnte. Sein lederner Flügel streifte meine Wange, als er heraustrat und einen Schritt nach vorne machte, damit derjenige, der ihm folgte, Platz hatte.

Satanus folgte hinter ihm, sein Körper war viel größer als der des geflügelten Wesens, das vor ihm gekommen war. Seine Brust war breiter als die von zwei Männern zusammen. Er schrumpfte leicht, als er sich aus der Grube hochzog, aber die Hörner auf seinem Kopf unterschieden ihn trotzdem von den anderen.

Leviathan kam als Nächster und hielt das eine Ende einer Art Trage hinter sich. Die Finger, die er um die Hebestange geschlungen hatte, waren lang und spindeldürr, mit zu viel Schwimmhäuten zwischen den Fingern. Die Krallen waren monströs, wie von etwas, das man aus der Tiefe gezogen hatte. Aber es war die schlafende Gestalt auf der Trage, die mir den Atem raubte.

Er lag mit dem Gesicht nach unten und die offenen, nässenden Wunden, wo eigentlich Flügel sein sollten, passten genau zu dem Porträt in Grays Büro. Er bewegte sich nicht, sein Brustkorb hob und senkte sich auch nicht, selbst als Belphegor das andere Ende der Trage heraushob. Sie bugsierten Lucifer hoch und aus der Grube heraus. Die Gestalt, die vor mir auf der Trage lag, war tot, ohne jedes Anzeichen von Leben.

Aber der Teufel konnte nicht sterben.

»Warum liegt Er so da? Warum bewegt Er sich nicht?«, fragte ich Charlotte und weigerte mich, in die Gruben zu spähen und zu beobachten, wie die restlichen der sieben Erzdämonen der Hölle sich auf den Weg zum Loch zwischen den Welten machten.

Das Loch, das ich geöffnet hatte, als ich das Siegel brach.

Charlotte lächelte traurig und hielt meinem fassungslosen Blick mit sanfter Miene stand.

»Oh, mein Schatz, weil Seine Seele schon längst hier ist.«