Einzig in der Rückschau, in seinem millionenfach aufgelegten Machwerk Mein Kampf, präsentierte sich Hitler als früher fanatischer Antisemit.
Ralf Georg Reuth, Historiker1
Die Grenzen zwischen Obsession und Wahn sind fließend. Weder qualitativ noch quantitativ lässt sich exakt beschreiben, wann und warum eine Zwangsvorstellung in schieren Irrsinn umschlägt. Wer jedoch dieselbe falsche Ansicht über Jahrzehnte hinweg unzählige Male immer wiederholt, in buchstäblich Tausenden Varianten, der ist mit Sicherheit nicht mehr obsessiv, sondern schlicht wahnsinnig.
Schon die früheste im eigentlichen Sinne politische Äußerung von Adolf Hitler drehte sich um »Juden« und ihre Diskriminierung. In einem Brief an Adolf Gemlich, einen Ulmer Soldaten, schrieb er im Auftrag seines militärischen Vorgesetzten Hauptmann Karl Mayr: »Der Antisemitismus aus rein gefühlsmäßigen Gründen wird seinen letzten Ausdruck finden in der Form von Pogromen. Der Antisemitismus der Vernunft jedoch muss führen zur planmäßigen gesetzlichen Bekämpfung und Beseitigung der Vorrechte des Juden, die er nur zum Unterschied der anderen zwischen uns lebenden Fremden besitzt (Fremdengesetzgebung). Sein letztes Ziel aber muss unverrückbar die Entfernung der Juden überhaupt sein.«2 Der Brief ging am 16. September 1919 ab – also nur vier Tage, nachdem Hitler zum ersten Mal an einer Versammlung der völkischen Splittergruppe mit dem Namen Deutsche Arbeiterpartei teilgenommen hatte. Und auch im letzten Dokument seines Lebens, dem politischen Testament vom 29. April 1945, spielte der Antisemitismus eine überragende Rolle: Verantwortlich für den verlorenen Weltkrieg seien ausschließlich »jene internationalen Staatsmänner, die entweder jüdischer Herkunft waren oder für jüdische Interessen arbeiteten«. Deshalb werde sich »aus den Ruinen unserer Städte und Kunstdenkmäler« der »Hass gegen das letzten Endes verantwortliche Volk immer wieder erneuern, dem wir das alles zu verdanken haben: dem internationalen Judentum und seinen Helfern«. Sein abschließender Auftrag an seine Nachfolger und das deutsche Volk lautete: »Vor allem verpflichte ich die Führung der Nation und die Gefolgschaft zur peinlichen Einhaltung der Rassegesetze und zum unbarmherzigen Widerstand gegen den Weltvergifter aller Völker, das internationale Judentum.«3
Der Antisemitismus war der Kern von Hitlers Weltanschauung; entsprechend prägte er auch sein Bekenntnisbuch Mein Kampf. Schon rein statistisch, denn auf den 780 reinen Textseiten fanden sich fast 600 Wendungen, die von Judenhass getrieben waren. Mal waren es einzelne Schimpfwörter, mal ganze Absätze mit eindeutiger Tendenz. Natürlich verteilten sich diese Ausfälle nicht gleichmäßig über die 27 Kapitel des Buches. Häufungen gab es vor allem im Kapitel »Volk und Rasse« des ersten Bandes, das eine reine Aneinanderreihung von Vorurteilen und Stereotypen war, sowie im 13. und 14. Kapitel des zweiten Bandes, die beide die deutsche Bündnispolitik und ihre künftige Ausrichtung behandelten. Doch auch im übrigen Text fanden sich an zahlreichen Stellen judenfeindliche Ausfälle. Hitler griff praktisch jede Behauptung auf, die Antisemiten vor ihm aufgestellt hatten, und radikalisierte sie vielfach.
Neben den Protokollen der Weisen von Zion gehörte um 1920 zu den am weitesten verbreiteten antisemitischen Gerüchten die Behauptung, die »Angehörigen des auserwählten Volkes« hätten sich im Weltkrieg vor dem Frontdienst gedrückt. Weil diese und ähnliche Behauptungen immer lauter erhoben wurden, fand zum Stichtag 1. November 1916 eine »Judenzählung« im gesamten deutschen Heer statt, deren Ergebnisse allerdings zunächst geheim gehalten wurden – und gerade dadurch Spekulationen anheizten. Bald hieß es nun, jeder neunte Soldat in der Etappe sei ein Jude gewesen, in den Schützengräben dagegen wäre unter jeweils 180 Männern nur einer jüdischen Glaubens. Bei einem durchschnittlichen Anteil von Juden an der deutschen Gesamtbevölkerung von einem Prozent hätte das bedeutet, dass sich die Hälfte der deutschen Juden vor dem Frontdienst gedrückt hätte, während sie in der relativ ungefährlichen Etappe zehnfach überrepräsentiert gewesen wären.4
In Wirklichkeit allerdings hatte die »Judenzählung« völlig andere Ergebnisse erbracht. Demnach waren jüdische deutsche Männer sogar zu einem etwas größeren Prozentsatz eingezogen worden als christliche Deutsche, und an der Front kämpfte annähernd derselbe Anteil, wobei sich die geringen Unterschiede durch das etwas höhere Durchschnittsalter der Juden erklärten.5 Eine nennenswert über dem statistisch zu erwartenden Wert liegende Verwendung in der Etappe konnte dagegen nicht festgestellt werden. Warum das Ministerium die durch Fragebögen bei Truppenoffizieren eingeholten Zahlen nicht veröffentlichte, ist unklar. Vielleicht, weil sie klar der unterstellten »Drückebergerei« widersprachen?
Obwohl diese Fakten spätestens seit 1922 durch Veröffentlichungen jüdischer Wissenschaftler bekannt waren, schilderte Hitler noch zwei Jahre später die Sachlage angeblich aus eigener Anschauung entgegengesetzt. Im ersten Band von Mein Kampf behauptete er: »Die Drückebergerei galt schon fast als Zeichen höherer Klugheit, das treue Ausharren aber als Merkmal innerer Schwäche und Borniertheit. Die Kanzleien waren mit Juden besetzt. Fast jeder Schreiber ein Jude und jeder Jude ein Schreiber. Ich staunte über diese Fülle von Kämpfern des auserwählten Volkes und konnte nicht anders, als sie mit den spärlichen Vertretern an der Front zu vergleichen.«6 Der Nationalökonom Franz Oppenheimer, selbst als Referent im Kriegsministerium mit der »Judenzählung« befasst, hatte vorausgesehen, dass alle Aufklärung über die tatsächlichen Ergebnisse der Statistik ignoriert werden würde: »Die Herren vom Hakenkreuz, die Antisemiten von Beruf, werden unentwegt behaupten, dass sich in der Etappe elf Prozent Juden befunden haben«, schrieb er: »Wir müssten die Mentalität des Völkchens schlecht kennen, wenn sie nicht sogar in dieser Widerlegung eine Probe jüdischer Frechheit erblickten.«7 Mein Kampf bestätigte diese Annahme.
Aber woher kam Hitlers Fixierung auf »die Juden«? In seinem Buch beschrieb er, wie er Antisemit geworden sei. Dieser Darstellung zufolge handelte es sich um einen etwa fünf Jahre andauernden Prozess: »Es ist für mich heute schwer, wenn nicht unmöglich, zu sagen, wann mir zum ersten Mal das Wort ›Jude‹ Anlass zu besonderen Gedanken gab. Im väterlichen Hause erinnere ich mich überhaupt nicht, zu Lebzeiten des Vaters das Wort auch nur gehört zu haben.« Auch an der Schule in Linz habe er nur einen jüdischen Jungen kennengelernt, »der von uns allen mit Vorsicht behandelt wurde, jedoch nur, weil wir ihm in Bezug auf seine Schweigsamkeit, durch verschiedene Erfahrungen gewitzigt, nicht sonderlich vertrauten«. Erst um 1903/04 sei er »öfters auf das Wort ›Jude‹, zum Teil im Zusammenhange mit politischen Gesprächen«, gestoßen. Dabei habe er »leichte Abneigung« und ein »unangenehmes Gefühl« verspürt, mehr aber nicht: »Vom Vorhandensein einer planmäßigen Judengegnerschaft ahnte ich überhaupt noch nichts.«8
Erst nach seiner Übersiedlung nach Wien Anfang 1908 sei er auf die »Judenfrage« aufmerksam geworden. Nachdem er hier zum ersten Mal einen vermeintlich typischen Ostjuden im langen Kaftan und mit Löckchen gesehen hatte, begann er Mein Kampf zufolge, antisemitische Broschüren zu lesen; fortan nahm er überall und bevorzugt in privilegierten Positionen »Juden« wahr. Besonders habe ihn ihre Rolle in der Presse und im Kulturleben gestört, außerdem die angebliche Tatsache, dass die Führer der österreichischen Sozialdemokratie vorwiegend jüdischen Glaubens gewesen seien. Ihre Botschaften habe er schnell durchschaut: »Das war Pestilenz, geistige Pestilenz, schlimmer als der schwarze Tod von einst, mit der man da das Volk infizierte. Und in welcher Menge dabei dieses Gift erzeugt und verbreitet wurde!« Stolz bemerkte er: »Ich war vom schwächlichen Weltbürger zum fanatischen Antisemiten geworden.« Der Grund dafür seien die vermeintlich kaum erträglich harten Wiener Jahre gewesen: »Ich weiß nicht, wie meine Stellung zum Judentum, zur Sozialdemokratie, besser zum gesamten Marxismus, zur sozialen Frage usw. heute wäre, wenn nicht schon ein Grundstock persönlicher Anschauungen in so früher Zeit durch den Druck des Schicksals und durch eigenes Lernen sich gebildet hätte.«9
Die anschließenden Erfahrungen in München hätten ihn in dieser Überzeugung noch bestärkt. Er erkannte Mein Kampf zufolge, dass die »internationale jüdische Weltfinanz« einen langfristigen Plan verfolge, nämlich die »Vernichtung des in die allgemeine überstaatliche Finanz- und Wirtschaftskontrolle noch nicht sich fügenden Deutschlands« durchzuführen. Ein Weg dazu sei der Weltkrieg gewesen, in den das »Weltjudentum« Europa gehetzt habe. Abermals sah sich Hitler in den Jahren 1914 bis 1918 in seinem Hass angeblich bestätigt: »Während der Jude die gesamte Nation bestahl und unter seine Herrschaft presste, hetzte man gegen die ›Preußen‹. Genau wie an der Front, geschah auch zu Hause von oben gegen diese Giftpropaganda nichts«, klagte er: »Mir tat dies Gebaren unendlich leid. Ich konnte in ihm nur den genialsten Trick des Juden sehen, der die allgemeine Aufmerksamkeit von sich ab- und auf andere hinlenken sollte. Während Bayer und Preuße stritten, zog er beiden die Existenz unter der Nase fort; während man in Bayern gegen den Preußen schimpfte, organisierte der Jude die Revolution und zerschlug Preußen und Bayern zugleich.« Doch auch erst mit dem Ende des Kaiserreichs und der Ausrufung der Republik, also im November 1918, habe er die eindeutige Konsequenz gezogen: »Mit dem Juden gibt es kein Paktieren, sondern nur das harte Entweder-Oder.«10
Das klang schlüssig: Binnen gut zehn Jahren wollte Hitler seinen radikalen Antisemitismus schrittweise entwickelt haben, immer wieder gestützt durch konkrete Erfahrungen. Allerdings hatte diese Selbstdarstellung einen wesentlichen Mangel: Sie traf nicht zu. Aus Hitlers Wiener Zeit existiert nämlich nicht ein einziges zeitgenössisches Zeugnis, das ihn als Judenfeind kennzeichnen würde. Im Gegenteil gehörten zu seinen wenigen Freunden im Männerwohnheim mehrere Juden, zum Beispiel Josef Neumann, den Hitler wohl hoch achtete; Siegfried Löffner, der ihm in der Auseinandersetzung mit seinem ehemaligen Kompagnon Reinhold Hanisch half; schließlich Simon Robinson, der schon mal mit etwas Geld aushalf. Seine nach Fotopostkarten gemalten Bilder verkaufte Hitler überwiegend an jüdische Händler. 1908 war er mehrfach bei Hausmusikabenden der Familie Jahoda zu Gast, typischen assimilierten Wiener Juden. Eingeführt hatte ihn sein Jugendfreund August Kubizek, der dort gelegentlich gegen Honorar Bratsche spielte: »Adolf ging auch tatsächlich mit. Es gefiel ihm auch ausnehmend gut. Insbesondere imponierte ihm die Bibliothek, die sich Doktor Jahoda eingerichtet hatte und die für Adolf einen wesentlichen Maßstab zur Beurteilung der hier versammelten Menschen bedeutete.«11 Das passte kaum zu dem von Kubizek später behaupteten Hass schon des jungen Hitler auf alles Jüdische.
Ebenso wenig wie aus der Wiener Zeit sind aus seinen rund eineinviertel Münchner Jahren bis Kriegsbeginn zeitgenössische Belege für einen radikalen Antisemitismus überliefert. Zwar gab es in der bayerischen Residenz eine weit verbreitete Judenfeindschaft sowohl in kleinbürgerlichen, streng katholischen Kreisen wie im nationalistisch gesinnten Bürgertum. Doch Hitler verbrachte seine Zeit außer bei seinen Vermietern, wo er für seinen Lebensunterhalt Aquarelle malte und in seiner Freizeit Bücher aus der Staatsbibliothek las, gelegentlich in jenen Schwabinger Künstlerkneipen, in denen die Bohème verkehrte. Sie war politisch eher links orientiert; auch gehörten zahlreiche Juden zu ihr. Das störte Hitler offensichtlich wenig. In Mein Kampf behauptete er allerdings, in dieser Zeit das »Verhältnis von Marxismus und Judentum einer weiteren gründlichen Prüfung unterzogen« zu haben – mit einem klaren Ergebnis: »Die Frage der Zukunft der deutschen Nation« sei die »Frage der Vernichtung des Marxismus«, der natürlich jüdisch sei.12 Jedoch erinnerte sich kein einziger Zeuge an solche Aussagen Hitlers 1913/14, und keines seiner, allerdings äußerst spärlichen, echten schriftlichen Zeugnisse aus der Vorkriegszeit enthielt irgendeinen Hinweis auf Antisemitismus.
Auch der Beginn des Krieges machte aus dem Freiwilligen noch keinen Judenhasser. Zwar schrieb er Anfang Februar 1915 an einen Bekannten in der bayerischen Residenz: »Ich denke so oft an München, und jeder von uns hat nur den Wunsch, dass es bald zur endgültigen Abrechnung mit der Bande kommen möge.«13 Doch blieb unklar, ob mit der »Bande« die feindlichen Soldaten gemeint waren, die geschlagen werden mussten, bevor an eine Rückkehr in die Heimat gedacht werden könne, oder irgendwelche Feinde in München selbst. Weitere politische Äußerungen enthalten seine überlieferten Briefe aus dem Krieg nicht. Auch konnten sich mehrere Kameraden aus seinem Regiment, sein damaliger Vorgesetzter Max Amann ebenso wie andere Meldegänger, nicht erinnern, in den Jahren bis 1918 von Hitler »politische Äußerungen« vernommen zu haben, schon gar nicht zur »Judenfrage«.14 Sein Freund Ernst Schmidt sagte 1934 einem britischen Journalisten erstaunlich offen: »Er versuchte nicht, irgendeinen politischen Einfluss auf andere auszuüben.«15 Ein weiterer Kamerad, Ignatz Westenkirchner, erinnerte sich sogar, dass Hitler über Wien und die dortigen Juden sprach, dabei aber »keinerlei Gehässigkeit« erkennen ließ.16 In einem der für Mein Kampf typischen inneren Widersprüche bestätigte er das auch: »Ich war damals Soldat und wollte nicht politisieren. Es war hierzu auch wirklich nicht die Zeit.« Wenige Zeilen später aber schrieb er das Gegenteil: »Ich wollte also damals von Politik nichts wissen, konnte aber doch nicht anders, als zu gewissen Erscheinungen Stellung zu nehmen, die nun einmal die ganze Nation betrafen, besonders aber uns Soldaten angingen.« Er meinte einerseits die übertriebene Siegesgewissheit in der Heimat und andererseits die verbreitete Ignoranz gegenüber den angeblichen Gefahren des »Marxismus«, über die »an den verjudeten Universitäten« nichts zu hören gewesen sei.17
Die jüdischen Vorgesetzten im Regiment List konnten ebenfalls nicht der Grund für Hitlers obzessiven Antisemitismus sein. Das stellte zumindest der ehemalige Regimentsadjutant Fritz Wiedemann rückblickend fest: »Die Erfahrungen mit jüdischen Offizieren während des Weltkrieges konnten dazu wenig beigetragen haben.«18 Im Gegenteil: An der Verleihung des Eisernen Kreuzes Erster Klasse an Hitler am 4. August 1918 war wahrscheinlich der jüdische Leutnant Hugo Gutmann wesentlich beteiligt, wenn er Hitlers Auszeichnung nicht sogar selbst initiiert hatte. Das hätte er wohl eher nicht getan, wenn der Meldegänger sich zu dieser Zeit im Kameradenkreis als aggressiver Antisemit präsentiert hätte.
Weder in Wien noch in München oder während des Weltkrieges war Hitler zum Judenhasser geworden. Doch auch die Revolution im November 1918 machte ihn nicht zum Antisemiten. Zwar war er wohl wirklich erschüttert von der Niederlage, doch andererseits froh über das Ende der Kämpfe. Als er das Lazarett in Pasewalk zehn Tage später verlassen konnte und über Berlin nach München zurückfuhr, erlebte er in der Reichshauptstadt den Trauerzug für die bei Unruhen in der vorangegangenen Woche getöteten Arbeiter. Vielleicht marschierte er sogar ein Stück mit, als er vom Stettiner Kopfbahnhof nördlich der Innenstadt, wo er angekommen war, zum Anhalter Bahnhof südlich des Zentrums unterwegs war, wo er den nächsten Zug nehmen musste. Jedenfalls beschrieb er die Demonstration im zweiten Band von Mein Kampf: »Nach dem Krieg erlebte ich dann in Berlin eine Massenkundgebung des Marxismus vor dem Königlichen Schloss und Lustgarten. Ein Meer von roten Fahnen, roten Binden und roten Blumen gab dieser Kundgebung, an der schätzungsweise 120 000 Personen teilnahmen, ein schon rein äußerlich gewaltiges Ansehen. Ich konnte selbst fühlen und verstehen, wie leicht der Mann aus dem Volk dem suggestiven Zauber eines solchen grandios wirkenden Schauspiels unterliegt.«19
Doch besonders stark kann seine Abneigung gegen den »jüdischen Marxismus« nicht gewesen sein. Zwar behauptete er: »Noch Ende November 1918 kam ich nach München zurück. Ich fuhr wieder zum Ersatzbataillon meines Regimentes, das sich in der Hand von ›Soldatenräten‹ befand. Der ganze Betrieb war so widerlich, dass ich mich sofort entschloss, wenn möglich wieder fortzugehen.«20 Doch nach einem kurzen Aufenthalt in Traunstein kehrte er zurück und nahm möglicherweise Ende Februar 1919 am Trauermarsch für den ermordeten Revolutionsministerpräsidenten Kurt Eisner teil – darauf deutet jedenfalls ein Schnappschuss vom 26. Februar 1919 hin, der offenbar Hitler zeigt.21 Trifft das zu, wäre es zumindest ungewöhnlich für einen Antimarxisten und Antisemiten, der Hitler zu dieser Zeit laut Mein Kampf schon längst gewesen sein wollte. Denn Eisner war Sozialist und stammte aus einer jüdischen Familie.
Sechs Wochen später, inzwischen tobten in München schon die ersten heftigen Bürgerkriegskämpfe zwischen republikanischen Einheiten und den Anhängern der inzwischen regierenden Räterepublik, ließ Hitler sich sogar zum Ersatzmitglied eines der ihm angeblich so verhassten Soldatenräte wählen. Immerhin 19 Stimmen entfielen auf ihn.22 Die Wahl am 15. April 1919 fand statt nach dem Palmsonntagsputsch loyalistischer Einheiten unter SPD-Führung, der von kommunistischen Freischärlern rasch niedergeschlagen wurde, weil sich nicht wie erwartet die Münchner Garnisonen auf die Seite der legitimen Regierung gestellt hatten. Vertreter von Soldaten- und Arbeiterräten hatten danach die kommunistische Diktatur ausgerufen. Auch die neu gewählten Räte erklärten, dass sie »mit aller Kraft die Räterepublik« verteidigen wollten.23 Deren führende Köpfe stammten teilweise aus jüdischen Familien, wie Eugen Levine, Tobias Axelrod oder Ernst Toller; darüber klagte ein vollständig assimilierter jüdischer Karlsruher 1925: »Vielleicht wäre den bayerischen Juden manches Ungemach erspart geblieben, wenn die jüdischen, insbesondere ostjüdischen Kommunisten in der bayerischen Revolution nicht hervorgetreten wären.«24 Allerdings gab es auch fälschlich als »Juden« bezeichnete Vertreter wie Max Levien – die nationalistischen Gegner der Räterepublik identifizierten die Revolutionäre mit ihrem antisemitischen Feindbild. Dazu dürfte beigetragen haben, dass die Revolutionäre bürgerliche Geiseln nahmen und mindestens zehn von ihnen erschossen. Diese Morde wurden als Beginn des »roten Terrors« auf deutschem Boden wahrgenommen, als vermeintlich typisch jüdisch.
Als Soldatenrat entwickelte Hitler keine nachweisbare Aktivität. In Mein Kampf verschwieg er diese Funktion aber nicht nur, sondern behauptete sogar, als Gegner der Räterepublik aufgetreten und deshalb ins Fadenkreuz der Revolutionäre geraten zu sein: »Am 27. April 1919 früh morgens sollte ich verhaftet werden – die drei Burschen aber besaßen angesichts des vorgehaltenen Karabiners nicht den nötigen Mut und zogen wieder ab, wie sie gekommen waren.«25 Dabei handelte es sich mit großer Wahrscheinlichkeit um eine Selbststilisierung, denn Datum und Beschreibung der angeblich gescheiterten Festnahme entsprachen irritierend genau ähnlichen Berichten, die etwa der völkische Schriftsteller Dietrich Eckart und Hitlers Regimentskamerad Fridolin Solleder veröffentlichten.26
Die Machtübernahme der kommunistischen Räte in München löste harte Gegenmaßnahmen der Reichsregierung in Berlin aus: Mehrere zehntausend Mann reguläre und gut ausgerüstete Truppen, außerdem loyale Freikorps machten sich auf den Weg nach Oberbayern, um den »Karneval des Wahnsinns« gewaltsam zu beenden.27 In der zweiten Aprilhälfte zeigte sich, dass die Zerschlagung der Räterepublik nur noch eine Frage von Tagen war. Die »Rote Armee« der Revolutionäre hatte gegen die zahlenmäßig weit überlegenen Truppen ihrer Gegner keine Chance. Anfang Mai 1919 meldeten ihre Kommandeure dem für innere Sicherheit zuständigen Volksbeauftragten, also Minister Gustav Noske, Vollzug: Die Revolution in München war niedergeschlagen; mindestens 606, wahrscheinlich aber mehr als tausend Menschen waren getötet worden, überwiegend Aufständische, aber auch unbeteiligte Zivilisten.
Wahrscheinlich zu dieser Zeit entwickelte sich Hitler zum radikalen Antisemiten; möglicherweise handelte es sich um die Nebenwirkung seines Versuchs, das kurze Engagement als Soldatenrat »wiedergutzumachen«. Jedenfalls untersuchte er schon wenige Tage nach dem Ende der Räterepublik als Mitglied einer Kommission, wer seiner Regimentskameraden die Revolution unterstützt hatte. Dabei bezichtigte er unter anderem die Soldaten Georg Dufter und Jakob Seihs, die bei der Wahl drei Wochen zuvor deutlich mehr Stimmen erhalten hatten: »Dass einzelne Teile des Regiments der Roten Armee sich anschlossen, ist jedenfalls auf die Propagandatätigkeit des Dufter und des Bataillonsrates Seihs zurückzuführen.«28 Ungefähr gleichzeitig, genau am 7. Mai 1919, wurden die harten Bedingungen der Versailler Friedenskonferenz veröffentlicht – und lösten in fast ganz Deutschland einen Schock aus, von der linken Sozialdemokratie bis zu rechtsextremen Fanatikern. Vor allem in völkischen Kreisen verschmolzen nun der angeblich jüdische Bolschewismus und sein deutscher Ableger, die Räterepublik, untrennbar mit den feindlichen auswärtigen Mächten, die als unerträglich wahrgenommene Reparationen forderten.
Spätestens im Juni oder Juli 1919 hatte Hitlers Vorgesetzter Karl Mayr genügend Vertrauen zu dem schon 30-jährigen Gefreiten gefasst, um ihn für eine größere Aufgabe geeignet zu halten: Er wurde offiziell zu einem Lehrgang abgeordnet, der ihn befähigen sollte, antibolschewistische Propaganda zu betreiben: »Schon wenige Wochen darauf erhielt ich den Befehl, an einem ›Kurs‹ teilzunehmen, der für Angehörige der Wehrmacht abgehalten wurde. In ihm sollte der Soldat bestimmte Grundlagen zu staatsbürgerlichem Denken erhalten«, schrieb er in Mein Kampf.29 Die Dozenten waren durchweg von deutschnationaler oder völkischer Gesinnung, mehrere auch bekennende Antisemiten. Ihre Botschaften bestätigten Hitler offenbar: »Ich meldete mich eines Tages zur Aussprache. Einer der Teilnehmer glaubte, für die Juden eine Lanze brechen zu müssen, und begann sie in längeren Ausführungen zu verteidigen. Dieses reizte mich zu einer Entgegnung. Die weitaus überwiegende Anzahl der anwesenden Kursteilnehmer stellte sich auf meinen Standpunkt.«30 Allerdings waren offene Diskussionen bei diesen Lehrgängen in Wirklichkeit offenbar unerwünscht; überzeugte Antisemiten beschwerten sich, dass eine Auseinandersetzung mit der »Judenfrage« verhindert worden sei.31
Doch Mayr, selbst Antisemit, hatte das agitatorische Talent und die inzwischen gefestigte Überzeugung seines Schützlings erkannt. Er hielt Hitler für einen seiner zuverlässigsten Männer und protegierte ihn nach Kräften. Deshalb gab er ihm am 10. September 1919 den Auftrag, dem Ulmer Soldaten Adolf Gemlich zu antworten; der hatte schriftlich gefragt: »Ist die Regierung zu schwach, um gegen ein gefährliches Judentum einzuschreiten?« Mayr wies seinen Untergebenen an, ihm eine »ein bis zwei Seiten lange Ausführung zu den Fragepunkten zur Verfügung zu stellen«.32 So kurz fassen konnte sich der Antisemit Adolf Hitler aber nicht: Er brauchte vier eng beschriebene Seiten, um seinen Judenhass zum ersten Mal schriftlich zu formulieren. Darin führte er Vorurteile und Feindbilder zusammen, die in München seinerzeit gängig waren, aber schon gemischt mit jener rücksichtslosen Überzeugtheit, die wenig später enorme Wirkung auf das Publikum des Redners Hitler entfalten sollte.
Kein anderes Thema, nicht einmal die Gier nach »Lebensraum«, prägte Mein Kampf so sehr wie der Antisemitismus. Doch die in dem Buch beschriebene Entstehung dieses Judenhasses war zu großen Teilen eine Projektion; Hitler schilderte dessen Ursprünge nachweislich unaufrichtig. Fest steht: Zwischen Mai und September 1919 wurde aus dem politisch indifferenten Gefreiten ein überzeugter Antisemit. Über die Hintergründe dieses Wandels kann man nichts Eindeutiges feststellen. Viel spricht allerdings dafür, in Hitlers überbordender Wut auf Juden eine Überkompensation seiner rückblickend als Irrweg empfundenen, kurzen und unbedeutenden Mitwirkung an der Münchner Räterepublik zu sehen.