Fortsetzung

Für Hitler gab es, das macht sein Zweites Buch erneut sichtbar, nur einige wenige formelhafte Fixpunkte politisch-weltanschaulicher Argumentation, an denen er stets festgehalten hat.

Martin Broszat, Historiker1

Vorhandenes zu erweitern scheint auf den ersten Blick leichter als Neues zu schaffen. Doch genauso gut kann das Gegenteil zutreffen. Denn um für die Fortsetzung eines Buches Leser zu gewinnen, muss sich der Inhalt unterscheiden, ohne dem bereits erschienenen Vorläufer allzu sehr zu widersprechen. Zu seinen außenpolitischen Vorstellungen hatte sich Adolf Hitler bereits in den beiden Bänden von Mein Kampf geäußert, allerdings nicht systematisch, sondern eher in zwei längeren Exkursen zur deutschen Bündnispolitik. Der Kerngedanke war in beiden Abschnitten ähnlich: Deutschland müsse sich mit Großbritannien und Italien verbünden, um im Konflikt mit Frankreich zur Hegemonialmacht auf dem Kontinent aufzusteigen und anschließend neuen »Lebensraum« in Osteuropa zu erobern, im Wesentlichen auf Kosten der Sowjetunion.

Das war ein bewusstes Kontrastprogramm zur internationalen Politik der Regierung in Berlin. Der seit 1923 amtierende Außenminister Gustav Stresemann setzte ebenso wie seine Vorgänger auf eine Politik des Ausgleichs mit Frankreich, die im Beitritt zum Völkerbund 1926 gipfelte. Auch im Verhältnis zur Sowjetunion strebte die Reichsregierung eine Verständigung an, was sich im Berliner Vertrag aus demselben Jahr niederschlug. Einen einzigen Streit in Europa hielt Stresemann bewusst offen: Ein Abkommen mit Polen einschließlich einer bindenden Anerkennung der Grenzverschiebungen von 1919 bis 1922 lehnte er wie die breite Mehrheit der deutschen Gesellschaft ab; der Berliner Vertrag enthielt sogar eine Neutralitätsklausel, die sich erkennbar nur auf einen denkbaren Revanchekrieg der Sowjetunion gegen Polen beziehen konnte – ein diplomatisch wenig freundlicher Akt, gegen den nicht einmal die NSDAP etwas einzuwenden hatte.2 Trotz dieser partiellen Übereinstimmung den östlichen Nachbarstaat betreffend machte Hitler den nationalliberalen Außenminister nach Kräften lächerlich und witzelte etwa in einer Rede im August 1927 in Heidelberg, »dass Stresemann von dem und dem Staatsmann empfangen worden ist, und dreiviertel Stunden mit dem und dem Staatsmann sprechen konnte, dass er letzte Woche eine Stunde gesprochen hat, und nächste Woche hört man, dass er zwei Stunden sprechen« werde.3

Doch zugleich hatte die NSDAP außenpolitisch eine offene Flanke, denn neben der Revision der deutsch-polnischen Grenze brachte Mitte der 1920er-Jahre die Südtirol-Frage die nationalbewussten Gemüter in Deutschland wie in Österreich in Wallung. Infolge des Friedensvertrages von Saint-Germain vom 10. September 1919, der für die Wiener Republik dem Versailler Vertrag der Westmächte mit Deutschland entsprach, hatte Österreich nicht nur Triest, Istrien und das vorwiegend italienisch besiedelte Trentino an Italien abtreten müssen, sondern auch Südtirol. Eine Petition aller 172 deutschsprachigen Gemeinden Südtirols, die ihr Selbstbestimmungsrecht einforderten, hatte das Parlament in Rom demonstrativ ignoriert. In Deutschland bestand in der Weimarer Republik von der linken Sozialdemokratie bis zum reaktionären Flügel des Zentrums und zur scharf rechten Deutschnationalen Volkspartei praktisch Einigkeit, dass der Verlust des kulturell eindeutig deutschen Südtirol revidiert werden müsse.

Nur die NSDAP schloss sich dieser Mehrheitsmeinung nicht an – obwohl zu ihren Grundsätzen der Satz aus Mein Kampf gehörte: »Gleiches Blut gehört in ein gemeinsames Reich.«4 Das hatte zwei Gründe: Einerseits setzte Hitlers außenpolitisches Konzept ein Bündnis mit der Seemacht Großbritannien und dem auf das Mittelmeer und nach Nordafrika orientierten Italien voraus; dazu passte es nicht, Südtirol zurückzufordern. Andererseits herrschte in Rom seit Oktober 1922 Benito Mussolini, in dessen faschistischer Bewegung und ihrem Aufstieg zur Macht Hitler jedenfalls in den 1920er-Jahren noch sein großes Vorbild sah. Den einzigen Regierungschef Europas mit jedenfalls zum größeren Teil vergleichbarer Ideologie konnte er kaum attackieren.

Schon im November 1922 hatte sich Hitler, wahrscheinlich nicht zufällig in Anwesenheit des italienischen Diplomaten Adolfo Tedaldi, ganz eindeutig geäußert: »Aus der augenblicklichen Lage können wir uns nur mit der Unterstützung einer Großmacht befreien, und aus tausend Gründen ist Italien dafür die geeignetste. Doch gegenüber einem Italien, das uns zu helfen bereit ist, haben wir heute und in Zukunft die Pflicht absoluter Loyalität. Wir dürfen nicht aus einem, sei es noch so menschlichen Gefühl der Brüderlichkeit gegenüber 200 000 gut behandelten Deutschen vergessen, dass es anderswo Millionen wirklich unterdrückter Deutscher gibt, und dass vor allem anderen die Existenz Bayerns auf dem Spiele steht. Wir müssen Italien offen und aufrichtig erklären, dass für uns die Südtiroler Frage nicht existiert und niemals existieren wird.«5 Wiederholt äußerte sich Hitler in den folgenden Jahren ähnlich, sowohl öffentlich als auch in vertraulichen Gesprächen: »Dazu ist nötig ein klarer und bündiger Verzicht Deutschlands auf die Deutschen in Südtirol«, sagte er zum Beispiel in einer Rede vor Sympathisanten.6 Im zweiten Band von Mein Kampf schrieb er, 1914 bis 1918 habe er mit dort gestanden, wo über das Schicksal Südtirols entschieden worden sei, nämlich im Heer: »Ich habe in diesen Jahren meinen Teil mitgekämpft, nicht damit Südtirol verloren geht, sondern damit es genau so wie jedes andere deutsche Land dem Vaterland erhalten bleibt.« Offensichtlich störte ihn nicht, dass sein bayerisches Regiment niemals auch nur in die Nähe der Alpenfront gekommen war. Schon zwei Seiten weiter gab er den Anspruch auf Südtirol aber faktisch auf, weil dieser Streit einer deutsch-italienischen Verständigung nicht im Wege stehen dürfe: »Juden und habsburgische Legitimisten haben das größte Interesse daran, eine Bündnispolitik Deutschlands zu verhindern, die eines Tages zur Wiederauferstehung eines deutschen freien Vaterlandes führen könnte. Nicht aus Liebe zu Südtirol macht man heute dieses Getue, denn dem wird dadurch nicht geholfen, sondern nur geschadet, sondern aus Angst vor einer etwa möglichen deutsch-italienischen Verständigung.«7

So wichtig war Hitler dieses Thema, dass er das Kapitel im Februar 1926 aus dem noch unfertigen zweiten Band vorab als Broschüre unter dem Titel Die Südtiroler Frage und das deutsche Bündnisproblem in einer Auflage von 10 000 Exemplaren veröffentlichen ließ.8 Im eigens verfassten Vorwort schrieb er: »Was heute die öffentliche Meinung gegen Italien aufrührt, ist nicht die Sorge um das Schicksal des Deutschtums in Südtirol, sondern der Hass gegen die augenblickliche italienische Regierung und vor allem gegen den Mann, der als überragendes Genie das nationale Gewissen Italiens verkörpert.«9 Ganz ähnlich argumentierte Alfred Rosenberg, der Chefredakteur des Völkischen Beobachters, ein Jahr später in einem Aufsatz seiner Zeitschrift Der Weltkampf: »Der Kampf geht heute gegen Mussolini als Freimaurerfeind und gegen das deutsche Volk überhaupt, um seine letzten aufkeimenden Kräfte zu zerschlagen. Das ist das Wesen des heutigen künstlich gezüchteten Problems Deutschland – Italien.«10

Diese Erledigung des Themas Südtirol stieß in der deutschen Öffentlichkeit auf wenig Verständnis, besonders als Anfang 1928 die Regierung in Rom die Gangart gegenüber den renitenten Neubürgern in den Alpen verschärfte. In Österreich und leicht abgeschwächt auch in Deutschland erregte man sich über die zwangsweise Einführung italienischsprachigen Religionsunterrichts in den Schulen Südtirols; es begann eine Pressekampagne. Doch ausgerechnet der Völkische Beobachter durfte, der Linie Hitlers und Rosenberg folgend, gegen Italien nicht auftrumpfen, sondern musste ganz ungewohnt defensiv argumentieren. Immerhin nannte das Blatt italienische Begründungen für seine Südtirol-Politik »ungerechtfertigt«, kündigte aber zugleich eine klärende Mussolini-Rede zu diesem Thema für das Ende der Woche an.11 Jedoch enttäuschte diese Ansprache Rosenberg offenbar, denn er beschränkte sich zunächst auf eine betont neutrale Widergabe.12

Einen Tag später hatte er die Zumutungen des italienischen Ministerpräsidenten verdaut und kehrte zur gewohnten Argumentation zurück. Bei genauer Betrachtung, so der Artikel unter der Überschrift Der marxistische Weltbetrug, enthalte die Rede zum Thema Südtirol gar nicht so viel Negatives. Es wäre im Interesse Deutschlands, darauf zustimmend zu reagieren, doch die »sogenannte deutsche Politik« habe die in Italien vorhandenen Sympathien nicht genutzt, »um in Verbindung mit italienischen Interessen ein Loch in die Entente zu schlagen«. Vielmehr habe man sich mit den Todfeinden Deutschlands eingelassen: mit »Franzosen, Polacken und jüdischer Finanz«. Besonders Sozialdemokraten schürten die nationale Sympathie mit den Südtirolern einzig, »um die marxistisch-jüdische Weltrevolution entfachen und dann das ganze Deutschtum erledigen zu können«.13 Diese konstruierte Darstellung konnte freilich kaum überzeugen.

Im Vorfeld der für den 20. Mai 1928 angesetzten Reichstagswahl schwächte die Debatte um Südtirol die NSDAP weiter. In einigen Reden ging Hitler zwar darauf ein, konnte aber den offensichtlichen Widerspruch zwischen ihrem völkischen Anspruch und dem gleichzeitigen Zurückweichen gegenüber Italien nicht überzeugend erklären.14 Wohl deshalb blendete er das Thema in anderen Ansprachen aus. Der Oberbayerische Generalanzeiger etwa griff diesen Mangel nach einem Auftritt in Landsberg am 23. April 1928 auf: »Bei all seinen Ausführungen, die sich zum Teil, besonders aber in der zweiten Stunde des Vortrages, in oft gewagten Vergleichen und Nutzanwendungen ergingen, fanden wir ein Thema nicht erwähnt: Was ist mit den Auslandsdeutschen, was ist vor allem mit Südtirol? Diese brennende Frage berührte Herr Hitler mit keinem Worte.«15 Andere Zeitungen, wie das Deutsche Tageblatt, der Bayerische Kurier und die Münchner Post, erhoben sogar den Vorwurf, der Wahlkampf der NSDAP werde von Italien finanziert, als Gegenleistung für den Verzicht auf Südtirol. Am Wahlsonntag selbst startete dann die Münchner SPD eine Plakatkampagne: Auf großformatigen Anschlägen wurde Hitler vorgeworfen, Südtirol gegen finanzielle Hilfe im Wahlkampf an Mussolini verkauft zu haben. Der NSDAP-Chef erstattete umgehend Strafanzeige. Nach Verfahren in mehreren Instanzen stellte das Landgericht München fest, dass der Vorwurf nicht zu beweisen und daher unzulässig gewesen sei.16

Doch der Stachel Südtirol saß tief. Am 23. Mai 1928, drei Tage nach dem niederschmetternden Ergebnis bei der Wahl mit reichsweit nur 810 000 Stimmen für die NSDAP, umgerechnet 2,6 Prozent und zwölf Mandaten, sprach Hitler so ausführlich wie noch nie über dieses Thema. Neue, überzeugendere Gedankengänge konnte er freilich nicht vortragen. Trotzdem entschied er sich ungefähr zur selben Zeit, seine außenpolitischen Vorstellungen in einem weiteren Buch detailliert darzulegen. Jedenfalls zog er sich für die nächsten sechs Wochen aus der Öffentlichkeit und bald auch aus München zurück, ins Haus Wachenfels auf dem Obersalzberg, das er seit einigen Monaten gemietet hatte; erst Anfang Juli 1928 kehrte er zurück. Wie schon im Sommer 1926 beim zweiten Band von Mein Kampf diktierte er seine Ausführungen einer Schreibkraft, vermutlich der Privatsekretärin Hertha Frey, direkt in die Schreibmaschine. Darauf deutet jedenfalls das überlieferte Typoskript hin, das vor Interpunktionen oft Leerstellen enthält sowie viele getippte Verbesserungen, die bei der Abschrift eines Stenogramms so nicht vorkommen können. Es handelt sich offensichtlich um einen Entwurf, der mit Durchschlagpapier in zwei Exemplaren geschrieben wurde; erhalten sind die ersten 239 Blatt als Erstschrift, die restlichen 86 Blatt als Zweitschrift. Mindestens drei der Kapitel brechen mitten im Text ab; ob die übrigen Abschnitte vollständig sind, lässt sich angesichts von Hitlers sprunghafter Argumentation nicht mit Sicherheit sagen.

Im Vorwort begründete Hitler, warum er ein weiteres Buch schreibe: »Gegen diese mächtige Koalition, die aus den verschiedensten Gesichtspunkten heraus versucht, die Südtiroler Frage zum Angelpunkt der deutschen Außenpolitik zu machen, kämpft die nationalsozialistische Bewegung, indem sie entgegen der herrschenden frankophilen Tendenz unentwegt für ein Bündnis mit Italien eintritt. Sie betont dabei und steht damit im Gegensatz zur gesamten öffentlichen Meinung in Deutschland, dass Südtirol weder so noch so ein Hindernis für diese Politik sein kann und sein darf.« Diese Überzeugung habe, so Hitler weiter, die NSDAP in der deutschen Parteienlandschaft zwar isoliert, werde aber »die Ursache des Wiederaufstiegs der deutschen Nation« sein. »Um aber diese gläubige Auffassung im Einzelnen zu begründen und verständlich zu machen, schreibe ich dieses Werk.«17

Im ersten Kapitel legte Hitler seine sozialdarwinistische Auffassung vom Leben als Kampf dar; es war ausführlicher, unterschied sich sonst aber nicht wesentlich von entsprechenden Ausführungen in Mein Kampf: »Ungezählt sind die Arten aller Lebewesen der Erde, unbegrenzt jeweils im Einzelnen ihr Selbsterhaltungstrieb sowie die Sehnsucht der Forterhaltung, begrenzt hingegen der Raum, auf dem dieser gesamte Lebensprozess sich abspielt. Es ist die Oberfläche einer genau bemessenen Kugel, auf der das Ringen von Milliarden und Abermilliarden von Einzelwesen um Leben und Lebensnachfolge stattfindet. In dieser Begrenzung des Lebensraumes liegt der Zwang zum Lebenskampf, im Lebenskampf dafür aber die Voraussetzung zur Entwicklung.« Gewaltsame Konflikte um jeden Preis zu vermeiden sei keine Alternative: »Eine Politik des Friedens, die versagt, führt genau so zur Vernichtung eines Volkes, also zur Auslöschung seiner Substanz aus Fleisch und Blut, wie eine Politik des Krieges, die missglückt.« Aber ebenso riskant sei eine Politik des ewigen Krieges, denn langfristig gelte: »Der Held stirbt, der Verbrecher bleibt erhalten.« Das Bevölkerungswachstum durch Fortpflanzungskontrolle zu beschränken sei auch keine Lösung: »Ein einziges Jahr Geburtenbeschränkung in Europa tötet mehr Menschen, als seit der Französischen Revolution bis heute in allen Kriegen in Europa einschließlich dem Weltkrieg an Menschen gefallen sind.«18 Der Schluss des ersten Kapitels erinnerte an typische rhetorische Pointen aus Hitler-Reden: »Denn man macht nicht Politik, um sterben zu können, sondern man darf nur manches Mal Menschen sterben lassen, auf dass ein Volk leben kann.«19

Der nächste Abschnitt griff die Argumentation der vier möglichen Wege deutscher Politik auf, die sowohl im ersten wie im zweiten Band von Mein Kampf schon behandelt worden waren.20 Hitler wiederholte seine Auffassung, dass eine Stärkung der Ökonomie mit dem Ziel, Außenhandel zu treiben, keine Alternative für das langfristige Überleben eines Volkes sei; vielmehr hänge es allein vom zur Verfügung stehenden Boden ab. Selbst wenn eine auf Handelsüberschüsse und Importe ausgerichtete Politik kurz- und mittelfristig erfolgreich zu sein scheine, trage sie doch die Saat des Scheiterns in sich: »Eine besondere Gefahr der sogenannten wirtschaftsfriedlichen Politik eines Volkes liegt aber darin, dass durch sie zunächst eine Vermehrung der Volkszahl möglich wird, die endlich in keinem Verhältnis mehr steht zu den Lebenserträgnissen des eigenen Grund und Bodens. Diese Überfüllung eines ungenügend großen Lebensraumes mit Menschen führt dabei nicht selten auch zu schweren sozialen Schäden, indem die Menschen nun in Arbeitszentren zusammengefasst werden, die dann weniger Kulturstätten gleichen als vielmehr Abszessen am Volkskörper, in denen sich alle üblen Laster, Untugenden und Krankheiten zu vereinigen scheinen.«21 Das Kapitel schloss unvermittelt mit prägnanten Definitionen, die Hitlers Politikverständnis präzise zusammenfassten: »Politik ist die Kunst der Durchführung des Lebenskampfes eines Volkes um sein irdisches Dasein, Außenpolitik ist die Kunst, einem Volke den jeweils notwendigen Lebensraum in Größe und Güte zu sichern. Innenpolitik ist die Kunst, einem Volke den dafür notwendigen Machteinsatz in Form seines Rassenwertes und seiner Zahl zu erhalten.« Ähnlich hatte sich Hitler schon in einigen Reden und in einem Aufsatz von 1927 geäußert.22

Auch das dritte und vierte Kapitel enthielten vor allem bekannte Behauptungen in lediglich abgewandelter Form. Grundlage des richtigen Verständnisses des Lebens sei die Anerkennung des »Rassen«-Prinzips. Wer es nicht beachte, führe sein Volk unweigerlich in den Untergang. Die Demokratie verhindere den Aufstieg der »wirklich großen führenden Köpfe[n] «, die aber unbedingt notwendig seien: »Die Völker müssen sich entscheiden. Entweder sie wollen Majoritäten oder Köpfe. Beide zusammen vertragen sich nie.«23 Es folgte eine Variation der Ausführungen zu den Ernährungsgrundlagen, also dem Boden, als Grundlage jeder Politik. Abschließend formulierte er dann ein Prinzip, dass er bis zum Untergang des Dritten Reiches beibehalten sollte: »Ich werde mich dann dafür einsetzen zu versuchen, das, was an Erfolgswahrscheinlichkeit oder Erfolgsgröße fehlt, durch größere Entschlossenheit noch aufzuwiegen und diesen Geist auf die von mir geführte Bewegung zu übertragen.«24

Auf ein unvollendetes Kapitel, in dem es um den Gegensatz zwischen der »Germanisierung« fremder Völker, wie sie bürgerliche Politiker anstrebten, und nationalsozialistischer »Raumpolitik« ging, folgten erneut breite, vermeintlich historische Ausführungen über die Unterschiede zwischen Bismarcks Zeit und Hitlers Gegenwart. All das war, in anderen Formulierungen und knapper, auch schon in Mein Kampf zu lesen gewesen. Das Gleiche galt für die Ausführungen zur verfehlten Politik des Kaiserreiches vor 1914, die weitgehend eine Wiederholung aus dem dritten und dem vierten Kapitel des ersten Bandes darstellten. Ausführlicher als im zweiten Band stellte Hitler sodann dar, warum der Status quo vor dem Weltkrieg für ihn kein Ziel war: »Würde das deutsche Volk die Wiederherstellung der Grenzen des Jahres 1914 tatsächlich erreichen, so wären nichtsdestoweniger die Opfer des Weltkrieges umsonst gewesen. Aber auch die Zukunft unseres Volkes würde nicht im Geringsten gewinnen durch eine solche Wiederherstellung.«25 Auch dieses Kapitel brach mitten im Text ab.

Im nächsten Abschnitt verwarf Hitler die denkbaren Alternativen einer Bodenpolitik. Weder eine Wiederherstellung historischer Grenzen noch eine expansive Wirtschaftspolitik seien denkbare Alternativen, auch ein paneuropäischer Staat nicht. Das Argument, dass in den Vereinigten Staaten genau so ein Weg Erfolg gehabt habe, treffe für Europa nicht zu: »Wirklich nicht widerlegt zu werden braucht aber die Meinung, dass, weil in der amerikanischen Union eine Verschmelzung von Menschen verschiedenster Volksabstammung stattgefunden hat, dies auch in Europa möglich sein müsste.« Denn die Vereinigten Staaten hätten »Menschen verschiedener Volkszugehörigkeit zu einem jungen Volk zusammengefügt«, die »rassisch gleichen oder zumindest verwandten Grundelementen angehören«. Wo dies nicht der Fall war, fühlte sich der NSDAP-Chef bestätigt: »Blutfremde Menschen mit ausgeprägt eigenem Nationalgefühl oder Rasseinstinkt hat übrigens auch die amerikanische Union nicht einzuschmelzen vermocht. Sowohl gegenüber dem chinesischen als auch gegenüber dem japanischen Element hat die Assimilierungskraft der amerikanischen Union versagt.«26

Dennoch hatte Hitler Respekt vor der Leistung der Vereinigten Staaten – und betrachtete sie als Hauptgegner künftiger Jahrzehnte: »Es ist aber leichtsinnig zu glauben, dass die Auseinandersetzung zwischen Europa und Amerika nur immer wirtschaftsfriedlicher Natur sein würde.« Im Gegenteil erwartete er langfristig einen bewaffneten Konflikt; er schrieb: »Nordamerika wird in der Zukunft nur der Staat die Stirne zu bieten vermögen, der es verstanden hat, durch das Wesen seines inneren Lebens sowohl als durch den Sinn seiner äußeren Politik den Wert seines Volkstums rassisch zu heben und staatlich in die hierfür zweckmäßigste Form zu bringen.«27 Bis zur Formulierung dieser Sätze hatten die Vereinigten Staaten in Hitlers Denken stets eine untergeordnete Rolle gespielt. Und auch in den kommenden Jahren griff er diesen Gedanken so gut wie nie mehr auf – mit Ausnahme einer Rede in Berlin am 13. Juli 1928, bald nach seiner Rückkehr vom Diktat in Berchtesgaden, als er Amerika ausdrücklich den »Zukunftsfeind« nannte.28

Auch in einer ausdrücklichen Neutralität Deutschlands sah Hitler natürlich keine politische Alternative. »Der Weltkrieg hat eines jedenfalls unzweideutig bewiesen: Wer in großen weltgeschichtlichen Auseinandersetzungen sich neutral verhält, vermag vielleicht zunächst kleine Geschäfte zu machen, er wird aber machtpolitisch damit auch endgültig von einer Mitbestimmung der Schicksale der Welt ausscheiden.« Hätten die Vereinigten Staaten 1917 nicht Deutschland den Krieg erklärt, wären sie zur Macht zweiten Ranges abgestiegen, behauptete er: »Dass die amerikanische Union in den Kampf eintrat, hat sie maritim zur Stärke Englands emporgehoben, weltpolitisch aber zu einer Macht von ausschlaggebender Bedeutung gestempelt.«29 Auch ein Bündnis mit Russland käme für Deutschland keinesfalls in Frage, fuhr Hitler fort. Abermals glichen seine wesentlichen Darlegungen den einschlägigen Passagen in Mein Kampf, waren aber durch Exkurse ergänzt. So machte er sich Sorgen um die möglichen Folgen eines Luftkrieges des Westens, vor allem Frankreichs gegen Deutschland: »Es gibt bei der heutigen Lage der deutschen Grenzen nur mehr ein ganz kleines, wenige Quadratkilometer umfassendes Gebiet, das nicht innerhalb der ersten Stunde bereits den Besuch feindlicher Flugzeuge erhalten könnte.«30 In Hitlers Reden gibt es 1927/28 keine entsprechenden Ausführungen; daher ist anzunehmen, dass sich der NSDAP-Chef zu dieser Bemerkung durch die aktuelle Lektüre in Zeitungen oder Zeitschriften hatte anregen lassen.

Das letzte Drittel des Typoskripts, rund hundert Seiten, war dann tatsächlich einer nationalsozialistischen Außenpolitik im engeren Sinne gewidmet. Es begann mit acht Feststellungen über die Ausgangslage. Vom Völkerbund erhoffte sich Hitler erwartungsgemäß nichts, stellte aber auch fest, dass mit militärischen Mitteln allein die Situation Deutschlands nicht zu verbessern wäre. Notwendig sei, dass es »seiner bisherigen schwankenden Schaukelpolitik endgültig entsagt und sich dafür grundsätzlich nach einer Richtung hin entscheidet und dabei auch alle Konsequenzen übernimmt und trägt«.31 Dabei werde Frankreich immer sein Feind sein, sodass ein Bündnis mit dem Nachbarn im Westen von vornherein aussichtslos sei. Als Konsequenz aus dieser Konstellation formulierte Hitler mögliche Ziele – allerdings handelte es sich hier wieder um ein offensichtlich unvollendetes Kapitel, das sich in der Wiederholung bekannter Forderungen erschöpfte: Eine auf Außenhandel gerichtete Politik müsse zum Konflikt mit Großbritannien führen, die Wiederherstellung des Status quo von 1914 sei unnütz, das einzige sinnvolle Ziel hingegen die Eroberung von Lebensraum im Osten.

Dem stellte er seine Vision eines Bündnisses mit der weltweit engagierten See- und Kolonialmacht gegenüber. Ihr lag eine grundsätzliche falsche Wahrnehmung zugrunde, die Hitler aber seinen Gegnern unterstellte: »Es ist in Deutschland besonders eine sehr irrtümliche Auffassung weit verbreitet, dass nämlich England jede europäische Vormacht sofort bekämpfe. Dies ist tatsächlich nicht richtig. England hat sich eigentlich um die europäischen Verhältnisse immer so lange wenig gekümmert, solange ihm nicht aus ihnen heraus ein drohender Weltkonkurrent entstand, wobei es die Bedrohung stets nur in einer Entwicklung empfand, die seine See- und Kolonialherrschaft eines Tages durchkreuzen musste.«32 In Wirklichkeit hatten britische Politiker seit Mitte des 18. Jahrhundert zwar stets ihr Weltreich vor Augen, achteten aber ebenso streng darauf, durch ein multipolares Mächtegefüge in Europa die Entstehung eines starken Konkurrenten zu unterbinden – das hatte Hitler im zweiten Band von Mein Kampf noch durchaus konkret beschrieben.33

In einer überraschenden Wendung erklärte er im Anschluss: »In Europa selbst ist der zur Zeit für England gefährlichste Staat Frankreich.« Seine militärische Hegemonie bedrohe Großbritannien »infolge der geographischen Lage, die Frankreich zu England« einnehme: »Nicht nur, dass ein großer Teil wichtiger englischer Lebenszentren französischen Fliegerangriffen nahezu schutzlos ausgesetzt erscheinen, kann selbst eine Anzahl englischer Städte durch Ferngeschütze von der französischen Küste aus erreicht werden.« Offenbar bezog sich Hitler auf aktuelle Lektüre, als er weiter diktierte: »Ja, wenn es der modernen Technik gelingt, noch eine wesentliche Steigerung der Schussleistungen schwerster Ferngeschütze herbeizuführen, dann liegt selbst eine Beschießung Londons vom französischen Festlande aus nicht außerhalb des Bereichs aller Möglichkeiten.«34 Angesichts der 1928 laufenden Verhandlungen zur Ächtung von Angriffskriegen und der auch in Deutschland wohlbekannten Überlegungen Pariser Politiker und Militärs, primär die Ostgrenze Frankreichs zu befestigen, um vor einer Invasion aus Deutschland besser als 1914 geschützt zu sein, war das vollkommen irreal.

Das Kapitel schloss mit Ausfällen gegen den nationalliberalen und den nationalkonservativen Flügel der Gesellschaft, die Deutschland zu einer »zweiten Schweiz« machen wollten, die »politisch« und »rassisch« verkommen sei: »Das können unsere bürgerlich-nationalen und vaterländischen Politikaster schon erreichen, dazu brauchen sie nur auf dem Wege ihrer heutigen Phrasendrescherei weiter fortfahren, mit dem Maul Proteste hinausschleudern, ganz Europa bekriegen und vor jeder Tat feige ins Loch kriechen.« Hier brach offenbar der Ärger über die offensichtlichen Erfolge von Gustav Stresemanns Außenpolitik durch, denn Hitler fuhr fort: »Nationalbürgerlich-vaterländische Politik der Wiedererhebung Deutschlands heißt man dann das.« Doch in seinem Eifer attackierte er nicht nur die nationalliberale Deutsche Volkspartei Stresemanns, sondern auch die deutlich weiter rechts stehende Anhängerschaft der DNVP: »So, wie unser Bürgertum es verstanden hat, im Laufe von knappen 60 Jahren den Begriff national zu entwürdigen und zu kompromittieren, so zerstört es noch in seinem Untergang den schönen Begriff vaterländisch, indem es auch ihn in seinen Verbänden zu einer reinen Phrase herabdegradiert.«35 Das war eine klare Anspielung auf den »Stahlhelm – Bund der Frontsoldaten«, den deutschnationalen Veteranenverband, der in Konkurrenz zur SA stand.

Zum Thema kehrte Hitler dann mit dem 15. Kapitel zurück, das mit 74 Blatt mit Abstand das längste des Typoskripts war: »Italien ist der zweite Staat in Europa, der nicht grundsätzlich mit Deutschland verfeindet sein muss, ja, dessen außenpolitische Ziele sich mit Deutschland überhaupt nicht zu kreuzen brauchen.« Im Gegenteil gebe es eine große Übereinstimmung der Interessen, was nicht zuletzt mit der ungefähr zeitgleichen Staatswerdung zwischen 1861 und 1871 zusammenhänge. »Ähnlich, wie der deutschen Einigung in erster Linie Frankreich und Österreich als wirkliche Feinde gegenüberstanden, so hatte auch die italienische Einigungsbewegung unter diesen beiden Mächten am meisten zu leiden«, befand er. Auch in der Gegenwart bedrängten Italien ähnliche Probleme wie Deutschland: Es müsse sein Territorium erweitern, um seine wachsende Bevölkerung versorgen zu können. »Das natürliche Gebiet der italienischen Expansion ist und bleibt dabei das Randbecken des mittelländischen Meeres.«36 Aus dieser Parallelität ergebe sich eine natürliche Nähe beider Staaten. Angesichts des in Deutschland weithin als Verrat wahrgenommenen Eintritts Italiens in den Ersten Weltkrieg 1915 auf Seiten der Entente, der auch mehr als ein Dutzend Jahre später immer noch nachwirkte, war das zumindest gewagt.

Nach Hitlers Darstellung hätte sich die Interessenidentität seit der Machtübernahme des »genialen Staatsmannes Benito Mussolini« sogar noch verstärkt.37 Beide Staaten seien natürliche Feinde Frankreichs, hätten aber untereinander keine gravierenden Streitigkeiten. Um zu diesem Ergebnis zu kommen, musste er allerdings das Problem Südtirol kleinreden; deshalb wiederholte er mehrfach die Feststellung, dass dort lediglich 200 000 oder sogar nur 164 000 Deutsche unter italienischer Herrschaft stünden.38 In einem vertiefenden Absatz wollte Hitler, Leerstellen im Typoskript deuten es an, offenbar noch genauere Zahlen nachtragen, wozu es aber nicht mehr kam. Insgesamt folgte seine Argumentation zu Südtirol den Reden, die er in den Monaten zuvor gehalten hatte, insbesondere der vom 23. Mai 1928.39 Bekannt und weitgehend identisch war auch die Darlegung, nicht er und die NSDAP hätten Südtirol verraten, sondern einerseits jene Politiker, deren Unterschriften auf den Verträgen von Versailles und Saint-Germain stünden und die seit 1919 eine Politik der Erfüllung verfolgten, andererseits natürlich »die Juden«, auf die Hitler im gesamten Typoskript fast zwei Dutzend Mal zu sprechen kam, vor allem im Schlusswort.

Hier legte er gerafft die Kernpunkte seines Rassismus dar. Das Endziel »der Juden« sei die »blutige Bolschewisierung«. Entschieden sei dieser Kampf bereits in Russland und Frankreich, jeweils mit einem »Sieg des Judentums«. Dagegen werde in Großbritannien noch gekämpft: »Der jüdischen Invasion tritt dort immer noch eine altbritische Tradition entgegen. Noch sind die Instinkte des Angelsachsentums so scharf und lebendig, dass von einem vollständigen Sieg des Judentums nicht gesprochen werden kann.« Umgekehrt sei die Situation in Mussolinis Staat: »Mit dem Sieg des Faschismus hat in Italien das italienische Volk gesiegt. Wenn auch der Jude gezwungenerweise heute sich in Italien dem Faschismus anzupassen versucht, so zeigt doch seine Einstellung außerhalb Italiens zum Faschismus seine innere Auffassung über ihn.« Hitler wusste selbstverständlich, dass Mussolini selbst den Antisemitismus jedenfalls Ende der 1920er-Jahre nicht förderte; vielmehr hatte er sogar einige Juden auf Ministerposten befördert und hielt sich eine jüdische Geliebte. Zwar gab es zugleich in der faschistischen Partei einen kleinen radikal judenfeindlichen Flügel, der gelegentlich Pogrome inszenierte, doch Antisemitismus gehörte nicht zum ideologischen Kern von Mussolinis Diktatur. Hitler überging diesen evidenten Widerspruch zum Nationalsozialismus, weil »kein anderer Staat so wie Italien heute für Deutschland als Bundesgenosse geeignet« sei.40 Mit einer Spitze gegen die Deutschvölkische Freiheitsbewegung, eine noch kleinere rechtsextreme Splittergruppe als die NSDAP, die bei der Reichstagswahl 1928 mit knapp 270 000 Stimmen kein einziges Mandat errungen hatte, endete das Typoskript.

Offenbar nahm Hitler die 324 Blatt nach dem Diktat im Juni und Anfang Juli 1928 nie mehr zur Hand; jedenfalls gibt es nur eine einzige unbedeutende handschriftliche Korrektur, die wohl nicht von ihm stammt.41 Ansonsten blieb der ursprünglich formulierte, unvollständige Text unverändert.

Warum seine außenpolitischen Überlegungen nicht als Buch erschienen, ist unklar. Möglicherweise riet ihm Max Amann, der Geschäftsführer des Eher-Verlages, ab, denn der Verkauf von Mein Kampf hatte sich im Jahr 1928 außerordentlich schlecht entwickelt; es lagen noch Tausende Exemplare beider Bände auf Lager. Durch ein neues Hitler-Buch wäre ihr Absatz sicher noch weiter zurückgegangen. Da der Verlag dem Autor einen erheblichen Vorschuss bezahlt hatte, der sich noch längst nicht amortisiert hatte, konnte es nicht in Amanns wirtschaftlichem Interesse sein, noch einen Band des Parteichefs zu veröffentlichen.

Möglicherweise erschienen auch die Unterschiede zur ersten nennenswerten Darlegung der nationalsozialistischen Außenpolitik zu gering, die Alfred Rosenberg 1927 ebenfalls im Eher-Verlag unter dem Titel Der Zukunftsweg einer deutschen Außenpolitik vorgelegt hatte. Darin hatte der Chefredakteur des Völkischen Beobachters als Grundsatz festgelegt, die NSDAP strebe ein Bündnis mit Mächten an, »deren organische Raumpolitik mit der deutschen nicht im Gegensatz steht, d. h. mit solchen, die an der Herrschaft nicht nur der Hochfinanz, sondern auch Frankreichs und des ganzen französischen Systems kein Lebensinteresse haben«.42 Das waren Rosenberg zufolge Großbritannien und Italien – die zugrundeliegenden Gedankengänge entsprachen weitgehend denen Hitlers. Allerdings sah der Ideologe Mussolini nicht so positiv wie sein Parteichef: »Wir wissen nicht, was Mussolini innerlich denkt, Tatsache ist nur, dass er offiziell jeden Antisemitismus abgelehnt hat.«43

Ein dritter möglicher Grund für die Nichtveröffentlichung könnte sein, dass Hitlers Ausführungen binnen kurzer Zeit überholt waren. Am 20. Oktober 1928 ließ sich der reaktionäre Verleger Alfred Hugenberg an die Spitze der DNVP wählen, die nach dem Verlust von fast einem Drittel ihrer Stimmen bei der Reichstagswahl 1928 einen weiteren Rechtsrutsch vollzogen hatte. Auch wenn die NSDAP Hugenberg keineswegs als natürlichen Verbündeten ansah, hätten die Ausfälle gegen das nationale Bürgertum in Hitlers Diktat nun ungewollte Folgen haben können. Ab Sommer 1929 war die Hitler-Bewegung sogar mit der DNVP und dem Stahlhelm verbündet, um in einem Volksbegehren den Young-Plan zur Regelung der deutschen Reparationspflichten zu verhindern.

Jedenfalls blieb ein Exemplar des Typoskripts beim Eher-Verlag, der es streng geheim hielt und in einem Tresor wegschloss. Den Durchschlag behielt Hitler vermutlich bei sich; er dürfte spätestens am 22. April 1945 zerstört worden sein, als Chefadjutant Julius Schaub in München und auf dem Obersalzberg die persönlichen Unterlagen des Diktators verbrannte. Das Exemplar im Verlagsbestand blieb erhalten; der ehemalige Chef der Eher-Buchabteilung übergab es im Mai 1945 einem US-Offizier. Es sollte sich um das »Manuskript eines angeblich unveröffentlichten Werkes von Adolf Hitler« handeln, hielt der Captain dazu in einem kurzen Begleitschreiben fest.44 Zusammen mit vielen anderen beschlagnahmten Akten wurde es in die Vereinigten Staaten gebracht und hier fälschlich als Entwurf für Mein Kampf inventarisiert.

Erst 1958 gelang es dem deutschstämmigen Historiker Gerhard L. Weinberg, das Konvolut korrekt zu identifizieren. Er erkannte die Bedeutung des unveröffentlichten Dokuments und begann die Arbeit an einer kritischen Edition. Zwei Jahre später sickerte diese Information in der Bundesrepublik durch und erreichte auch das Nürnberger Hauptkriegsverbrechergefängnis: »Die Welt hat unlängst eine Notiz gebracht, wonach ein zweites Buch von Hitler aufgefunden worden sei, es werde demnächst veröffentlicht«, notierte der dort einsitzende Albert Speer und beschrieb die Reaktionen seiner verbliebenen Mitgefangenen: »Schirach lacht höhnisch und meinte, auf diesen Schwindel sei man ja wirklich etwas spät gekommen. Auch Heß bestritt, dass es eine Art Fortsetzung zu Mein Kampf gebe, als Sekretär Hitlers müsse er das schließlich wissen.« Der frühere Architekt und Rüstungsminister war sich da nicht so sicher: »Ich selber erinnerte mich aber, wie Hitler beim Neubau des Berghofs das Geld ausgegangen war und er sich daraufhin auf ein vorliegendes Manuskript, das er aus außenpolitischen Gründen noch nicht veröffentlicht sehen wollte, einige hunderttausend Mark Vorschuss hatte geben lassen.«45 Heß räumte schließlich ein, es könne sich eventuell um eine längere Denkschrift aus dem Jahr 1931 handeln. Baldur von Schirach, einst Chef der Hitler-Jugend, bestritt auch das.

Tatsächlich aber lag Speer richtig. Hitler selbst hatte am 17. Februar 1942 in einem seiner endlosen Monologe auf eine »andere, nicht veröffentlichte Schrift« hingewiesen.46 Unter den Sekretärinnen des Diktators war ebenfalls bekannt, dass es ein solches Typoskript gab; eine von ihnen, die seit 1933 zum Stab Hitlers gehörte, berichtete jedenfalls bei ihrer Vernehmung durch einen französischen Offizier 1945 davon. Und sogar Rudolf Heß hatte zweimal in Briefen die Arbeit Hitlers an einem weiteren Buch erwähnt. An seine Eltern schrieb er am 28. Juni 1928, am Wochenende werde er nach Berchtesgaden fahren, »wo ich zum Tribunen muss, der dort ein neues, anscheinend sehr gutes Buch über Außenpolitik schreibt«.47 Am selben Tag unterschrieb Heß auch einen Brief an die NSDAP-Gauleitung Hannover-Nord, in dem es hieß, »dass Herr Hitler Anfang Juli voraussichtlich einige Tage in Berlin sein wird«. Vorher komme der erbetene Termin für einen Besuch »kaum in Betracht, da Herr Hitler bis zur Abreise nach Berlin wahrscheinlich von München abwesend sein wird, um sein Buch zu schreiben«.48 Offenbar war also wenigstens Ende Juni 1928 in der Führung der NSDAP bekannt, dass Hitler noch ein Buch diktierte, denn sonst hätte Heß kaum eine so knappe Bemerkung gemacht.

Die nie veröffentlichte Fortsetzung von Mein Kampf behandelte vor allem die Außenpolitik. Hitler hielt sie für notwendig, weil er durch sein Eintreten für ein Bündnis mit dem faschistischen Italien unter Druck geraten war, als der Streit um die kulturell deutsch geprägten Bewohner Südtirols eskalierte. Allerdings enthielt das Typoskript abgesehen von aktuellen Anspielungen wenig mehr als Variationen bereits bekannter Behauptungen Hitlers. Ob es nicht erschien, um den ohnehin schleppenden Absatz von Mein Kampf nicht zu gefährden oder weil es schon bald inhaltlich überholt war, muss aber offen bleiben.