Vollzug

Gleichwohl sollte man die Bedeutung von Mein Kampf auch nicht überschätzen: Mehr als die Blaupause für die Inszenierung des Nationalsozialismus als politische Religion bietet das Buch nicht.

Ludolf Herbst, Historiker1

Wer ein politisches Programm schreibt, formuliert gewöhnlich klare Forderungen: Die Ziele müssen eindeutig erkennbar werden. Nicht zwangsläufig ist dagegen, dass ein solcher Text stets knapp ausfällt. Parteiprogramme können weniger als tausend, gut 2000 oder auch mehr als 20 000 Wörter umfassen. Ihre Länge sagt nichts über den politischen oder moralischen Wert aus, ebenso wenig über die Realisierbarkeit: Mancher enorm detaillierte Entwurf für eine künftige Politik bleibt reine Fiktion, während kurze Willenserklärungen durchaus langfristig positive Entwicklungen anstoßen können. Möglich ist allerdings auch das genaue Gegenteil.

Genau 890 Wörter zählte das 25-Punkte-Programm der NSDAP, das Hitler nach seiner faktischen Machtübernahme in der Partei am 24. Februar 1920 bekanntgegeben hatte. Es forderte unter anderem ein Großdeutschland, die Aufhebung des Versailler Vertrages, die vollständige Ausgrenzung aller »Juden« und neuen Lebensraum. Schon aus der Präambel konnte man schließen, dass es das einzige Programm der NSDAP bleiben sollte: »Die Führer lehnen es ab, nach Erreichung der im Programm aufgestellten Ziele neue aufzustellen, nur zu dem Zweck, um durch künstlich gesteigerte Unzufriedenheit der Massen das Fortbestehen der Partei zu ermöglichen.«2 Im Gegensatz zum formalen Vorsitzenden Anton Drexler nahm Hitler diese Festlegung ernst. Als im Juli 1921 über seinen Kopf hinweg über eine Fusion mit anderen völkischen Splittergruppen und auch über ein mögliches neues Programm beraten wurde, trat Hitler wutentbrannt aus. Als Grund führte er den Verstoß gegen Grundprinzipien der NSDAP an: »Ihr Programm wurde als unverrückbar und unverletzlich vor einer tausendköpfigen Volksmenge beschworen, in mehr denn hundert Massenversammlungen als granitene Grundplatte verwendet. Die Partei hat sich bisher noch stets dem breiten Volk gegenüber verpflichtet, für unbedingte Ehrlichkeit in ihren Reihen zu sorgen, die unentwegte Befolgung der niedergelegten Grundsätze zu verbürgen, jedes Abweichen davon auf das Schärfste zu bekämpfen, Heuchler oder gar verkappte Gegner in den Reihen der Bewegung nicht zu dulden, sondern unbarmherzig zu entfernen.«

Da die Splittergruppe NSDAP auf ihren wichtigsten Redner nicht verzichten konnte, hatte Hitler Erfolg. Er erzwang den Rücktritt Drexlers und ließ sich selbst zum »ersten Vorsitzenden mit diktatorischer Machtbefugnis« wählen. Zugleich setzte er durch: »Jede weitere Veränderung des Namens oder des Programms wird ein für alle Mal zunächst auf die Dauer von sechs Jahren vermieden.«3 Das war zwar schon von der Formulierung her unlogisch, denn jede Änderung sollte »ein für alle Mal«, aber trotzdem lediglich auf Zeit verboten bleiben. Doch Hitler fiel dieser Widerspruch vermutlich nicht einmal auf.

Auch bei der Neugründung der Partei nach dem gescheiterten Putsch galt das 25-Punkte-Programm weiter. In der Satzung vom 21. August 1925 hieß es ausdrücklich: »Vereinsprogramm ist das am 24. Februar 1920 zu München herausgegebene grundsätzliche Programm der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei. Dieses Programm ist unabänderlich. Es findet seine Erledigung nur durch seine Erfüllung.«4

Sogar als die Reichskanzlei 1941/42 Vorkehrungen für die Nachfolge Hitlers treffen wollte, kam dem Programm eine entscheidende Bedeutung zu. Der künftige »Führer« sollte nach seiner Wahl durch einen eigens bestimmten »Senat« einen klaren Eid leisten: »Ich schwöre, dass ich unerschütterlich und unter Einsatz meines Lebens zu dem Programm der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei – wie es der Führer Adolf Hitler am 24. Februar 1920 verkündet hat – stehen werde.«5 Hitler mochte sich allerdings mit Regelungen für die Zeit nach seinem Tod nicht befassen und traf keine Entscheidung über das Procedere für seine Nachfolge. Das Programm der NSDAP jedenfalls blieb bis zur formalen Auflösung der Partei durch den Alliierten Kontrollrat am 10. Oktober 1945 unverändert in Kraft.6

Gerade der hohe Stellenwert, den Hitler dem Programm der NSDAP beimaß, erwies sich in der politischen Auseinandersetzung mitunter als Schwäche. Denn die »25 Punkte« waren nicht nur aus der Perspektive des Jahres 1920 formuliert, sondern mit ihrem deutlich antikapitalistischen Einschlag in den sozialistischen Punkten 11 bis 18 auch extrem wirtschaftsfeindlich. Die SPD-Zeitschrift Das freie Wort nannte das Programm deshalb 1931 »vielleicht unsere beste Waffe überhaupt« in der Auseinandersetzung mit der NSDAP.7 Hitlers Partei hatte Erfolg nicht wegen, sondern trotz ihres »unveränderlichen« Programms.

Im Gegensatz zu den 25 Punkten wurde Mein Kampf bis 1933 nur selten als konkret gemeinte Ankündigung Hitlers wahrgenommen, sondern meist als autobiografisch fundierte Darlegung seiner Weltanschauung. Dabei hatte er schon im Vorwort den Anspruch erhoben, »die Ziele unserer Bewegung klarzulegen« und das »Grundsätzliche« der Lehre der NSDAP festzuhalten.8 Nach der Machtübernahme stieg zwar das Interesse an dem Buch steil, das nun öfter auch als »Bibel« oder »Koran« der NS-Bewegung bezeichnet wurde.9 Die heiligen Schriften der beiden großen Buchreligionen allerdings enthielten nur wenige konkrete Handlungsanweisungen – wie war es mit Mein Kampf?

Im neuen Reichskabinett bildeten die Nationalsozialisten zwar nur eine Minderheit, doch Hitler dominierte die anderen Minister durch seine Persönlichkeit völlig. Schon in seiner ersten Radioansprache am 1. Februar 1933 verkündete der Kanzler, was die Regierung zunächst vorhabe. Dabei benutzte er zwar keine seinem Buch direkt entlehnten Formulierungen, doch die Ähnlichkeit zentraler Punkte war deutlich. So hatte er dem »Marxismus« in Mein Kampf ebenso die »Vernichtung« prophezeit wie dem Bolschewismus; das sei eine »Frage der Zukunft der deutschen Nation«.10 In seiner Regierungsproklamation sagte er: »14 Jahre Marxismus haben Deutschland ruiniert.«11 Eine eindeutige Kriegserklärung an die SPD, der auch binnen weniger Tage erste Verbote sozialdemokratischer Zeitungen, Parteiversammlungen und willkürliche Verhaftungen folgten. Nachdem der holländische Anarchist Marinus van der Lubbe im Reichstag ein verheerendes Feuer gelegt hatte, nutzte die NSDAP die überraschend entstandene Gelegenheit, ihre innenpolitischen Feinde in einem staatlich geduldeten, oft sogar von der Polizei aktiv unterstützten Amoklauf auszuschalten.12 Zehntausende Menschen wurden in einer wahren Explosion der Gewalt der Freiheit beraubt, misshandelt und in Hunderten von Fällen auch ermordet. Die »Vernichtung« des Marxismus lief zwar nicht nach einem in Mein Kampf enthaltenen Plan ab, wohl aber in dem dort formulierten Sinne.

Ähnlich war es mit den ersten antijüdischen Maßnahmen. Gegen individuelle antisemitische Ausschreitungen von Hitler-Anhängern schritt die Polizei schon im Februar 1933 kaum mehr ein, und im Verlauf der folgenden Wochen wurde aus solchen Exzessen eine staatlich formulierte Politik, etwa beim Boykott jüdischer Geschäfte am 1. April. Wer Mein Kampf gelesen hatte, konnte davon nicht überrascht sein, fanden sich dort doch Attacken auf den »Handel«, den »Juden« als »eigenstes Privileg« auffassten und rücksichtslos ausnutzten. In den Städten bildeten sie »besondere Viertel« mit jüdischen Geschäften, die zu einem »Staat im Staate« würden.13 Genau gegen solche angeblichen Konzentrationen in den Innenstädten richtete sich der formal mit der Abwehr der »jüdischen Gräuelhetze« aus dem Ausland begründete Boykott, der allerdings kein Erfolg war und bereits am ersten Tag abgebrochen wurde statt – wie geplant – über fast eine Woche aufrechterhalten zu werden.14

Das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933 war als Maßnahme gegen den in Mein Kampf beschriebenen angeblichen Niedergang der Staatsbediensteten zu verstehen. Über den Zustand des Apparats vor dem Weltkrieg hatte Hitler geschrieben: »Deutschland war das bestorganisierte und bestverwaltete Land der Welt.« Besonders Unabhängigkeit von den jeweiligen Regierungen habe die Verwaltung ausgezeichnet. Diese Vorzüge seien nach der Niederlage im Weltkrieg verloren gegangen: »Seit der Revolution allerdings hat sich dies gründlich geändert. An Stelle des Könnens und der Fähigkeit trat die Parteistellung, und ein selbstständiger, unabhängiger Charakter wurde eher hinderlich als fördernd.«15 Genau in diesem Sinne legte das erste wichtige, offen antisemitische Gesetz des Dritten Reiches fest: »Beamte, die seit dem 9. November 1918 in das Beamtenverhältnis eingetreten sind, ohne die für ihre Laufbahn vorgeschriebene oder übliche Vorbildung oder sonstige Eignung zu besitzen, sind aus dem Dienste zu entlassen.« Im folgenden Paragraf hieß es weiter: »Beamte, die nicht arischer Abstammung sind, sind in den Ruhestand zu versetzen.« Aufgrund eines Einspruchs von Reichspräsident Paul von Hindenburg im Gesetzgebungsverfahren wurde zwar zugestanden, dies gelte nicht »für Beamte, die bereits seit dem 1. August 1914 Beamte gewesen sind oder die im Weltkrieg an der Front für das Deutsche Reich oder für seine Verbündeten gekämpft haben oder deren Väter oder Söhne im Weltkrieg gefallen sind«.16 Doch am Prinzip änderte sich durch diese Ausnahmen nichts.

Während also viele innenpolitische Schritte den Eindruck stützen konnten, dass Hitler als Reichskanzler zwar nicht wörtlich, aber doch dem Grundsatz nach umsetzte, was aus der in Mein Kampf formulierten Weltanschauung folgte, so sah es in der Außenpolitik anders aus. So widersprach die »Friedensrede« des Reichskanzlers vom 17. Mai 1933 in wesentlichen Punkten den in seinem Buch niedergelegten Überzeugungen. »Indem wir in grenzenloser Liebe und Treue an unserem eigenen Volkstum hängen, respektieren wir die nationalen Rechte auch der anderen Völker aus dieser selben Gesinnung heraus und möchten aus tiefinnerstem Herzen mit ihnen in Frieden und Freundschaft leben«, sagte er vor dem zur bedeutungslosen Kulisse verkommenen Reichstag: »Wir sehen die europäischen Nationen um uns als gegebene Tatsache. Franzosen, Polen und so weiter sind unsere Nachbarvölker, und wir wissen, dass kein geschichtlich denkbarer Vorgang diese Wirklichkeit ändern könnte.« Daher sei Deutschland »jederzeit bereit, auf Angriffswaffen zu verzichten, wenn auch die übrige Welt ein gleiches tut«. Der Regierungschef ging sogar noch einen Schritt weiter: »Deutschland ist bereit, jedem feierlichen Nichtangriffspakt beizutreten, denn Deutschland denkt nicht an einen Angriff, sondern an seine Sicherheit.«17

Mit den Ausführungen in Mein Kampf war das unvereinbar. Demnach musste zuerst Frankreich vernichtet werden, um danach dem deutschen Volk die Möglichkeit zu Eroberungen in Osteuropa zu geben, also auf Kosten Polens und vor allem Russlands.18 Die britische Times kommentierte erstaunt über diese scheinbare Kehrtwende: »Gestern hat die Welt zum ersten Mal den Staatsmann Hitler gesehen. Das meiste, was er gesagt hat, hätten auch seine Vorgänger sagen können.«19 Natürlich wusste die Redaktion in London ebenso wenig wie die Weltöffentlichkeit, was Hitler am 3. Februar 1933 den Spitzen der Reichswehr vertraulich mitgeteilt hatte: »Ich setze mir die Frist von sechs bis acht Jahren, um den Marxismus vollständig zu vernichten. Dann wird das Heer fähig sein, eine aktive Außenpolitik zu führen, und das Ziel der Ausweitung des Lebensraumes des deutschen Volkes wird auch mit bewaffneter Hand erreicht werden.« Das Ziel werde wahrscheinlich der Osten sein, hatte er fortgeführt und auch die Methode bekanntgegeben, die er einzusetzen gewillt war: »Eine Germanisierung der Bevölkerung des annektierten beziehungsweise eroberten Landes ist nicht möglich. Man kann nur Boden germanisieren.«20 Die vertrauliche Rede folgte weitgehend Mein Kampf, die vor dem Reichstag gehaltene Ansprache wich in weiten Teilen diametral davon ab.

Allerdings gab es auch einige Übereinstimmungen, vor allem hinsichtlich des Völkerbundes. Hitler kündigte am 17. Mai 1933 wenig kaschiert den Austritt aus dem Völkerbund an. Deutschland besitze genug Charakter, »seine Mitarbeit den anderen Nationen nicht aufoktroyieren zu wollen, sondern, wenn auch schweren Herzens, die dann einzig möglichen Konsequenzen zu ziehen«.21 Das entsprach der Verachtung, die er in seinem Buch über die Genfer Organisation geäußert hatte. Sie sei eine »phantastische Erfindung«, auf die man zwar »fromm« hoffen könne, was aber lediglich so sinnvoll sei wie »feierliche Anrufungen des lieben Herrgotts«. Abermals vermied Hitler aber, den in Mein Kampf offen formulierten Schluss auch vor dem Weltpublikum zu wiederholen. Denn im zweiten Band hatte er 1926 unmissverständlich geschrieben, man müsse sich klar sein, dass die »Wiedergewinnung der verlorenen Gebiete« letztlich »nur durch Waffengewalt« möglich sein würde.22

Eigentlich unvereinbar mit den in Hitlers Buch dargelegten außenpolitischen Maximen war auch der deutsch-polnische Nichtangriffspakt, der Ende Januar 1934 formal unterzeichnet worden war und »zur Begründung eines gutnachbarlichen Verhältnisses führen« sollte, »das nicht nur beiden Ländern, sondern auch den übrigen Völkern Europas zum Segen gereicht«.23 In Mein Kampf hatte er noch jede Bündnispolitik mit der Regierung in Warschau als »für alle Zukunft« unmöglich bezeichnet und die Polen als Teil »dieses ganzen Völkergemischs« bezeichnet, das »widerwärtig« sei.24 Entsprechend war das Abkommen von Januar 1934 rein taktisch; Hitler sagte das, einem allerdings wenig zuverlässigen Zeugen zufolge, im engeren Kreis auch ganz offen: »Alle Abmachungen mit Polen haben nur vorübergehenden Wert. Ich denke gar nicht daran, mich ernstlich mit Polen zu verständigen.«25 Seinem Denken dürfte dieses ansonsten nicht überlieferte Zitat durchaus entsprochen haben.

Ganz ausgeschlossen erscheinen musste schließlich, jedenfalls nach Mein Kampf, die deutsch-sowjetische Einigung im August 1939. Immerhin herrschte hier, Hitler zufolge, der »jüdische Bolschewismus«, der »dreißig Millionen Menschen in wahrhaft fanatischer Wildheit teilweise unter unmenschlichen Qualen tötete oder verhungern ließ«. Das Verhältnis zu Russland war den Ausführungen im zweiten Band zufolge die »wichtigste außenpolitische Frage« für Deutschland. Hier und nur hier war nämlich der Boden zu gewinnen, den er als »Lebensraum« für das deutsche Volk erobern wollte. In der Oktoberrevolution 1917 sah Hitler deshalb einen »Fingerzeig« des Schicksals: »Indem es Russland dem Bolschewismus überantwortete, raubte es dem russischen Volke jene Intelligenz, die bisher dessen staatlichen Bestand herbeiführte und garantierte.«26 Die Konsequenz aus dieser in der NSDAP allgemein verbreiteten Wahrnehmung formulierte Joseph Goebbels in seinen Tagebüchern: »Unsere Aufgabe ist die Zertrümmerung des Bolschewismus. Bolschewismus ist jüdische Mache! Wir müssen Russland beerben!«27

Anders als seinem späteren Propagandaminister erschienen Hitler aber auch gewagte taktische Manöver in der Außenpolitik nützlich. Er führte das am Beispiel Bismarcks aus, der als preußischer Ministerpräsident wie als Reichskanzler stets Wert auf gute Beziehungen zu Russland gelegt hatte. Das sei jedoch kein Argument, da »das heutige Russland auch nicht mehr das Russland von damals« sei, kommentierte Hitler. Bismarck wäre es, laut Mein Kampf, »niemals eingefallen, einen politischen Weg taktisch prinzipiell für immer festlegen zu wollen. Er war hier viel zu sehr der Meister des Augenblicks, als dass er sich selbst eine solche Bindung auferlegt hätte«.28 Das war ein kaum kaschiertes Plädoyer für maximale machtpolitische Flexibilität. Typisch für Hitler war allerdings, dass er bereits wenige Seiten später schrieb: »Wenn man vor dem Kriege noch unter Hinabwürgen aller möglichen Gefühle mit Russland hätte gehen können, so kann man dies heute nicht mehr.«29

Auch wenn es in Mein Kampf also durchaus einzelne Sätze gab, mit denen man den Hitler-Stalin-Pakt rechtfertigen konnte, so handelte es sich doch um Ausnahmen. Insofern war es konsequent, dass die Zusammenarbeit der nationalsozialistischen mit der bolschewistischen Diktatur durch den Überfall der Wehrmacht auf die verbündete Sowjetunion am 22. Juni 1941 obsolet wurde, obwohl es dadurch zu der Situation kam, die die NS-Führung als Konsequenz aus dem Weltkrieg 1914 bis 1918 eigentlich hatte vermeiden wollen: »Nur gut, dass wir keinen Zweifrontenkrieg führen brauchen«, hatte zum Beispiel Goebbels im November 1939 festgehalten: »Nun kommen uns die Westmächte allein vor die Klinge.«30 Anderthalb Jahre später war zwar Frankreich geschlagen, nicht aber Großbritannien. Trotzdem gab Hitler ohne unmittelbaren Grund den Pakt mit Stalin auf, der zwar Glaubwürdigkeit gekostet, aber strategische Optionen eingebracht hatte. Einmal mehr hatte die Weltanschauung über die praktische Politik obsiegt.

Über mehrere Seiten hatte sich Hitler im zweiten Band von Mein Kampf zur »Rassenhygiene« geäußert. Seine Ausführungen gipfelten in der Feststellung über die Hauptaufgabe des »völkischen Staats« in dieser Hinsicht: »Er muss dafür Sorge tragen, dass nur wer gesund ist, Kinder zeugt; dass es nur eine Schande gibt: bei eigener Krankheit und eigenen Mängeln dennoch Kinder in die Welt zu setzen, doch eine höchste Ehre: darauf zu verzichten. Umgekehrt aber muss es als verwerflich gelten: gesunde Kinder der Nation vorzuenthalten.«31 Das war in den 1920er-Jahren kein originärer Gedanke, sondern herrschende Meinung eines wesentlichen Teils der Erbbiologen und Humangenetiker in Europa und den Vereinigten Staaten. Unabhängig von der NSDAP hatten 1932 mehrere Biologen in Preußen einen Gesetzentwurf vorgelegt, der die Sterilisation erbkranker Menschen auf freiwilliger Basis vorsah; treibende Kräfte waren der streng katholische Hermann Muckermann und der assimilierte jüdische Deutsche Richard Goldschmidt gewesen. Beide hatten für den Nationalsozialismus wenig bis nichts übrig – sie verloren nach 1933 ihre Professuren.

Muckermanns Konzeption für ein Eugenik-Gesetz wurde zur Vorlage des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, das die Reichsregierung am 14. Juli 1933 verabschiedete. Der wesentliche Unterschied zwischen dem ursprünglichen Entwurf und dem verabschiedeten Text war die Einfügung eines Paragrafen, dem zufolge nicht nur die Betroffenen selbst oder ihre gesetzlichen Vertreter die Sterilisation beantragen konnten, sondern auch der zuständige Amtsarzt oder der Leiter der Pflegeanstalt. In der Praxis ordneten spezielle Erbgesundheitsgerichte die weitaus meisten der etwa 350 000 Sterilisationen bis 1945 aufgrund solcher Anträge an. Als Beamte oder Angestellte des öffentlichen Dienstes waren Amtsärzte und Anstaltsleiter an Aufträge der Verwaltung gebunden; deren politisch vorgegebene Haltung wurde in der Begründung des Gesetzes klar formuliert: »Der fortschreitende Verlust wertvoller Erbmasse muss eine schwere Entartung aller Kulturvölker zur Folge haben. Von weiten Kreisen wird heute die Forderung gestellt, durch Erlass eines Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses das biologisch minderwertige Erbgut auszuschalten. So soll die Unfruchtbarmachung eine allmähliche Reinigung des Volkskörpers und die Ausmerzung von krankhaften Erbanlagen bewirken.«32 Das stützte sich unmittelbar auf Hitlers Ausführungen: »Eine nur 600-jährige Verhinderung der Zeugungsfähigkeit und Zeugungsmöglichkeit seitens körperlich Degenerierter und geistig Erkrankter würde die Menschheit nicht nur von einem unermesslichen Unglück befreien, sondern zu einer Gesundung beitragen, die heute kaum fassbar erscheint.«33 Warum Hitler hier gleich von 20 biologischen Generationen ausging statt von zwei, wie die zeitgenössische »Wissenschaft« der »Rassenhygiene«, ist unklar. Vielleicht handelte es sich um ein Missverständnis oder einen Lesefehler.

Ein weit verbreitetes Merkblatt zu diesem »Erbgesundheitsgesetz« begann mit einem Zitat aus Mein Kampf: »Wer körperlich und geistig nicht gesund und würdig ist, darf sein Leid nicht im Körper seines Kindes verewigen.«34 Tatsächlich setzte die Verschärfung des Gesetzentwurfes unmittelbar Hitlers Willen um. Er hatte schon im ersten Band geschrieben: »Die Forderung, dass defekten Menschen die Zeugung anderer ebenso defekter Nachkommen unmöglich gemacht wird, ist eine Forderung klarster Vernunft und bedeutet in ihrer planmäßigen Durchführung die humanste Tat der Menschheit. Sie wird Millionen von Unglücklichen unverdiente Leiden ersparen.«35 Ansonsten aber hatte er sich in seinen Reden bis 1933 nur sehr selten zu diesem Thema geäußert, ausdrücklich eigentlich nur am 10. Oktober 1928: »Wir Nationalsozialisten sind daher zunächst dafür, dass man beispielsweise sämtliche Verbrecher und alle Menschen, die unheilbar sind, auch wenn sie geistig unheilbar sind, sterilisiert.«36 Daher ist anzunehmen, dass tatsächlich Hitlers Ausführungen in Mein Kampf den Anstoß für die Einführung der Zwangssterilisation gegeben hatten. Führende Humangenetiker und Rassenbiologen wie Fritz Lenz kannten diese Passagen nachweislich; letzterer hatte schon 1930 in einem Aufsatz kommentiert: »Aus der Tatsache, dass Hitler von ›Millionen von Unglücklichen‹ spricht, folgt, dass er die Sterilisierung nicht nur für extreme Fälle fordert, was für die Gesundung der Rasse ziemlich bedeutungslos sein würde, sondern sie auf den gesamten minderwertigen Teil der Bevölkerung erstreckt wissen will.«37 Lenz, der 1933 Nachfolger des aus politischen Gründen entlassenen Muckermann wurde, und seine Kollegen konnten also wissen, welchen Umfang die Sterilisationen annehmen würden.

Zu den sicher nach 1945 am häufigsten zitierten Stellen aus Mein Kampf gehört eine Bemerkung aus dem allerletzten Kapitel: »Hätte man zu Kriegsbeginn und während des Krieges einmal 12 000 oder 15 000 dieser hebräischen Volksverderber so unter Giftgas gehalten, wie Hunderttausende unserer allerbesten deutschen Arbeiter aus allen Schichten und Berufen es im Felde erdulden mussten, dann wäre das Millionenopfer der Front nicht vergeblich gewesen. Im Gegenteil: 12 000 Schurken zur rechten Zeit beseitigt, hätte vielleicht einer Million ordentlicher, für die Zukunft wertvoller Deutschen das Leben gerettet.«38 Historiker und Journalisten, vor allem aber viele interessierte Laien sahen eine direkte Verbindung zwischen diesen Sätzen Hitlers und den nationalsozialistischen Vernichtungslagern vor allem im besetzten Polen.39 Angesichts der »innovativen« Methode, mit der fast die Hälfte der rund sechs Millionen jüdischen Opfer des Rassenwahns ermordet wurde, der Vergasung mit Kohlenmonoxid oder dem Blausäurepräparat Zyklon B, schien das nachvollziehbar. Vor 1945 dagegen war diese Stelle so gut wie überhaupt nicht wahrgenommen worden. Zu den ganz wenigen Ausnahmen zählte 1932 Wilhelm Knevels, ein evangelischer Theologe aus Baden, der aber auch die antisemitische Stoßrichtung der Passage ignorierte.40

Tatsächlich hatte die Stelle aus Mein Kampf mit der Mordmethode in den wichtigsten Vernichtungslagern Auschwitz, Treblinka, Belzec, Sobibór, Chelmno/Kulmhof und Lublin-Majdanek nichts zu tun. Hitler wollte die massenhafte Tötung der europäischen Juden zwar ohne jeden Zweifel; er hatte sie auch wiederholt angekündigt, am prominentesten wohl in seiner Rede vor dem Reichstag am 30. Januar 1939: »Wenn es dem internationalen Finanzjudentum in und außerhalb Europas gelingen sollte, die Völker noch einmal in einen Weltkrieg zu stürzen, dann wird das Ergebnis nicht die Bolschewisierung der Erde und damit der Sieg des Judentums sein, sondern die Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa.«41 Für die konkrete Umsetzung aber interessierte sich Hitler offenbar nicht; es gibt keinen einzigen Hinweis, dass er sich jemals detailliert über das Verfahren der Vergasung oder der Massenerschießungen durch Einsatzgruppen hätte unterrichten lassen. Joseph Goebbels war da offensichtlich besser informiert; jedenfalls diktierte der Propagandaminister seinem Sekretär am 27. März 1942: »Aus dem Generalgouvernement werden jetzt, bei Lublin beginnend, die Juden nach dem Osten abgeschoben. Es wird hier ein ziemlich barbarisches und nicht näher zu beschreibendes Verfahren angewandt, und von den Juden selbst bleibt nicht mehr viel übrig.«42 Von der Führungsspitze des Dritten Reiches erlebte lediglich SS-Chef Heinrich Himmler mehrere Vergasungen mit eigenen Augen mit; das Mordpersonal gehörte ausnahmslos zu seiner Organisation.

Es gibt keine Indizien dafür, dass die »Erfinder« dieser Mordmethode an Mein Kampf gedacht hätten, als sie sich für sie entschieden. Die ersten Morde mittels giftiger Gase auf deutschem Boden fanden im Januar 1940 im Gefängnis Brandenburg/Havel statt. Das Kriminaltechnische Institut des Reichssicherheitshauptamtes hatte zuvor hochkonzentriertes Kohlenmonoxid aus Flaschen als besonders geeignetes Tötungsmittel empfohlen. Sicher wurde auch der Einsatz anderer Gifte geprüft; ob allerdings dazu auch Kampfgase gehörten, wie sie im Ersten Weltkrieg eingesetzt wurden, ist unbekannt. Nach dem »Erfolg« einer »Probevergasung« wurde das Verfahren für den verharmlosend »Euthanasie« genannten Krankenmord eingesetzt; wahrscheinlich mit Billigung Hitlers, dessen Vertraute Philipp Bouhler und Karl Brandt Augenzeugen des »Tests« waren. Mehr als 70 000 geistig oder körperlich behinderte Menschen aus deutschen Heil- und Pflegeanstalten wurden in den kommenden etwa anderthalb Jahren auf diese Weise ermordet.

Mit der Übernahme derselben Methode für die Vernichtung von Juden hatte weder Hitler noch Mein Kampf etwas zu tun. Die Initiative dazu ging vielmehr von dem Juristen und mittleren SS-Funktionär Rolf-Heinz Höppner aus, der im besetzten Posen für die Deportation polnischer Juden weiter nach Osten zuständig war. Am 16. Juli 1941 schickte er einen Aktenvermerk an seinen Vorgesetzten Adolf Eichmann, in dem er feststellte: »Es besteht in diesem Winter die Gefahr, dass die Juden nicht mehr sämtlich ernährt werden können. Es ist ernsthaft zu erwägen, ob es nicht die humanste Lösung ist, die Juden, soweit sie nicht arbeitseinsatzfähig sind, durch irgendein schnellwirkendes Mittel zu erledigen. Auf jeden Fall wäre dies angenehmer, als sie verhungern zu lassen.«43 Da Hitler zufällig fünf Wochen später den Krankenmord nach dem Aufkommen von Gerüchten und Kritik in Deutschland unterbrechen ließ, stand ab Anfang September 1941 das Personal der bisher für die »Euthanasie« zuständigen Tötungsanstalten für neue Aufgaben zur Verfügung. Ungefähr zur gleichen Zeit suchte Heinrich Himmler nach einer Mordmethode, die für seine SS-Männer weniger belastend sein sollte als das schon hunderttausendfach vollzogene individuelle Töten per Genickschuss. Gemeinsam führten Höppners Vorschlag einer »humanen« Menschenvernichtung, die Verfügbarkeit der arbeitslosen »Euthanasie«-Spezialisten und Himmlers Sorge um seine Massenmörder im Herbst 1941 zur Entscheidung für Vergasung als Mordmethode. Binnen weniger Monate baute die SS die Infrastruktur für die »Endlösung der Judenfrage« auf, das größte Mordprogramm der Weltgeschichte. Weil dafür nicht genügend industriell produziertes Kohlenmonoxid zur Verfügung stand, wurden die Abgase bewusst unsauber eingestellter Motoren von Lastwagen oder aus Beutepanzern benutzt, um das giftige Gas zu erzeugen. Die niedrigere Konzentration machte das Sterben der Menschen in mobilen und stationären Gaskammern noch grausamer als in den Tötungsanstalten des »Euthanasie«-Programms.

Im größten Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau setzte die SS beim Massenmord dagegen das Schädlingsbekämpfungsmittel Zyklon B ein, mit dem normalerweise Kleidung desinfiziert wurde. Das wirkte zwar wie eine Konsequenz aus Mein Kampf, in dem Juden wiederholt als »Ungeziefer« oder »Parasiten« bezeichnet wurden, hatte aber in Wirklichkeit nichts damit zu tun.44 Vielmehr führte ein Zufall zu dieser besonders »effektiven« Mordmethode: Zyklon B wurde in den meisten KZs ständig benutzt, um Kleidung zu entlausen und war deshalb auch in Auschwitz in größeren Mengen vorrätig. Auschwitz-Kommandant Rudolf Höß beschrieb die Entscheidung für diese Mordmethode: »Durch Gas sollte es wohl sein, aber wie und was für ein Gas? Nun hatten wir das Gas und auch den Vorgang entdeckt.«45

Hitler wirkte an den technischen Details des Massenmordes nicht mit, wurde aber offensichtlich über die eingesetzte Methode informiert, wie das letzte Schriftstück seines Lebens dokumentiert, das politische Testament vom 29. April 1945. In zynischer Verkehrung der tatsächlichen Umstände hieß es dort: »Ich habe weiter keinen darüber im Unklaren gelassen, dass dieses Mal nicht nur Millionen Kinder von Europäern der arischen Völker verhungern werden, nicht nur Millionen erwachsener Männer den Tod erleiden und nicht nur Hunderttausende an Frauen und Kindern in den Städten verbrannt und zu Tode bombardiert werden dürften, ohne dass der eigentlich Schuldige, wenn auch durch humanere Mittel, seine Schuld zu büßen hat.«46 Allerdings war absolut nichts am Sterben durch Gas, ob nun Kohlenmonoxid oder Zyklon B, human.

Mein Kampf enthielt kein ausformuliertes politisches Programm, das Hitler nach seiner Machtübernahme »abarbeitete«; dafür war das Buch schon seiner Struktur nach völlig ungeeignet. Das Dritte Reich und seine Verbrechen folgten nicht einem »Masterplan«, den der spätere Diktator in der Haft in Landsberg formuliert hätte. Wohl aber legte Hitler darin in der für ihn typischen sprunghaften Art die Grundzüge seiner Weltanschauung dar, die vielen taktischen oder pragmatischen Abweichungen in Einzelfragen zum Trotz insgesamt die Basis seiner Politik ab 1933 wurde.