PROLOG

WILLOW

Fünfzehn Jahre zuvor

»H ey, kleine Blume. Du musst jetzt aufstehen.«

Kleine Blume. So hat mich Daddy immer genannt, weil ich ihn mit den orangen Haaren an eine Tulpe erinnerte. Ich will Mommy sagen, dass ich es nicht mag, wenn sie diesen Spitznamen benutzt, weil er mich immer traurig macht. Daddy ist nämlich nicht mehr bei uns und das fühlt sich furchtbar an. So furchtbar, dass ich nachts oft nicht einschlafen kann, weil ich ihn so sehr vermisse. Die Matratze gibt unter dem Gewicht von Mommy nach. Ich liege mit dem Gesicht immer zur Wand, weil ich nicht will, dass sie sieht, wenn ich wach liege.

Ich spüre ihre warme Hand auf meinem Rücken, und als sie durch meine Locken streichelt, möchte ich weinen. Heute vermisse ich Daddy noch mehr als sonst, und ich will nicht, dass Mommy denkt, sie würde mir nicht reichen. Sie vermisst ihn auch, seit er im Himmel ist. Sie hat es mir nie gesagt, aber manchmal, wenn ich es nicht mehr in meinem Zimmer aushalte, schleiche ich mich nachts auf den Flur und drücke mein Ohr gegen die Tür ihres Schlafzimmers. Dann höre ich sie weinen und mit Daddy sprechen.

»Mein Schatz, du musst wirklich aufstehen. Wir müssen jetzt gehen.«

Gehen? Es ist doch mitten in der Nacht, oder? Da mein Zimmer keine Vorhänge besitzt und es ganz dunkel im Raum ist, muss es so sein. Ich wische mir die Wangen trocken, damit Mommy meine Tränen nicht sieht, sollte sie das Nachtlicht einschalten. Was sie Sekunden später auch macht.

»Wohin müssen wir?«, frage ich und versuche dabei so zu klingen, als wäre ich gerade erst wach geworden. Inzwischen bin ich ganz gut darin.

»Wir fahren für ein paar Tage weg, kleine Blume.« Ihr Knie wippt auf und ab, so wie meines immer am Abend vor meinem Geburtstag. Aber Mommy hat erst in ein paar Monaten Geburtstag, sie ist also aus einem anderen Grund nervös.

Ich rapple mich auf, kralle mich in Mr. Pebbles’ weichen Bauch und versuche das Beben meiner Unterlippe zu verbergen, als ich sehe, dass Mommy geweint hat. Ihre grünen Augen, die Daddy immer so toll fand, sind ganz rot, genau wie ihre Wangen. Immer wenn wir weinen, bekommen wir diese komischen Flecken im Gesicht. Mommy sagt, das liegt an unserem hellen Hautton.

»Und wohin?« Ich würde ihr gern sagen, dass ich nicht wegfahren will, aber ich möchte ihr keine Umstände machen. Wenn sie traurig ist, muss ich sie wieder fröhlich machen. Also krabble ich zu ihr hin, drücke mich an ihre Brust und schlinge die Arme um sie, so fest es geht. Dabei segelt mein Teddybär auf den Boden, aber darum kümmere ich mich, wenn es Mommy wieder besser geht.

»Das … das sehen wir dann. Vielleicht fahren wir endlich mal nach San Francisco, weißt du? Oder wir besuchen deine Tante May in Texas.« Sie wischt sich mit dem Ärmel ihres Pullovers die Wangen trocken und ich lasse meine Tränen in den Stoff an ihrer Brust sickern. Etwas stimmt nicht mit Mommy. Sie ist oft traurig, aber heute ist es besonders schlimm.

»Du vermisst deine Tante doch sicherlich, oder?« Sie drückt mir einen Kuss auf den Scheitel, bevor sie aufsteht und zu meinem Schrank hinübergeht. Neben der Tür liegt die leere Reisetasche, die wir schon lange nicht mehr benutzt haben, weil wir nur selten Ausflüge machen. Seitdem Daddy nicht mehr da ist, haben wir keinen einzigen unternommen. Aber das ist okay für mich. Ich genieße die Zeit mit Mommy zu Hause am allermeisten. Wir sind beste Freundinnen für immer!

Daddy hat auch gesagt, dass er immer für mich da ist.

Und jetzt ist er im Himmel.

Aber Mommy wird mich nicht verlassen, das weiß ich einfach. Während sie hektisch ein paar meiner Sachen in die Tasche stopft, krabble ich an den Rand des Bettes und hebe Mr. Pebbles vom Teppich auf.

»Willst du noch etwas mitnehmen?« Mommy wirkt, als hätte sie Angst, und langsam bekomme auch ich es mit ihr zu tun. Ich wiege mich leicht vor und zurück, drücke meinen Teddy fester an mich und grabe meine Nägel in sein braunes Fell.

»Mr. Pebbles«, flüstere ich und merke, dass mir die Tränen kommen. Die erste kullert über meine Wange, und als Mommy sieht, dass ich weine, fällt sie vor mir auf die Knie und sieht vom Boden zu mir auf. Ihre Hand greift nach meinem Kinn und hebt meinen Kopf leicht an.

»Du brauchst nicht zu weinen, kleine Blume. Alles ist gut. Wir machen nur einen kleinen Ausflug, hm? Und …« Sie rauft sich die ebenfalls orangen Haare und greift anschließend in die Tasche ihrer Jeans. »Eigentlich wollte ich dir das Geschenk erst später geben, aber du bekommst es schon jetzt.«

»Ein Geschenk?« Ich bin mir sicher, dass meine Augen strahlen. Ich liebe Geschenke! »Aber ich habe doch gar nicht Geburtstag!«

»Du musst nicht Geburtstag haben, um ein Geschenk zu bekommen. Ich habe dich an jedem Tag im Jahr lieb.« Sie hält eine schwarze Schachtel in der Hand, und als sie den Deckel öffnet, strahlt mich ein riesiger Funkelstein an. Nein, es sind sogar zwei!

»Als ich die Kette gesehen habe, musste ich sofort an dich denken. Es ist ein echter Amethyst, kleine Blume. Dieser Schmuck ist der Schmuck einer wahren Prinzessin.«

»Und ich darf ihn haben?« Meine Stimme klingt ungewohnt schrill. Normalerweise versuche ich immer leise und brav zu sein, um Mommy keinen unnötigen Kummer zu bereiten. Aber diese Kette ist so schön! Am liebsten würde ich vor Freude jubeln, wäre es nicht mitten in der Nacht.

»Du darfst ihn haben!« Sie legt mir die Kette mit den zwei violetten Anhängern um den Hals, und obwohl sie sich schwer anfühlt, recke ich mein Kinn ganz nach oben. Ich fühle mich wirklich wie eine Prinzessin.

»Weißt du … wir haben vielleicht nicht viel Geld. Wir haben keine Villa wie die ganzen Leute in den Werbespots und du hast nicht die neuesten Spielsachen, aber wir beide sind trotzdem sehr reich. Wir haben uns. Für immer. Und das ist so viel wertvoller als Geld, das weiß ich jetzt.« Mommy nimmt meine Hände in ihre und drückt einen Kuss auf meine warmen Finger. Meine Angst hat sich in Luft aufgelöst, und ich bin mir sicher, dass es an der Kette liegt – Prinzessinnen sind nämlich nicht traurig. Glaube ich.

»Aber jetzt müssen wir los, kleine Blume. Entschuldige, dass es mitten in der Nacht sein muss, aber ich werde es wiedergutmachen.« Das hat sie doch schon! Eilig nicke ich und hüpfe vom Bett. Mommy schultert die schwarze Reisetasche, greift nach meiner Hand und knipst das Nachtlicht aus.

»Hast du Mr. Pebbles?«

»Ja!« Er klemmt unter meinem Arm. Ohne ihn gehe ich nirgendwo hin!

»Gut, kleine Blume.«

Wir verlassen mein Zimmer, und als wir in den Flur treten, schnappt Mommy sich in Windeseile unsere Schuhe. Im selben Moment, in dem ich mir den zweiten zubinde, poltert es auf einmal im Flur unseres Wohnblocks.

»O nein.« Mommys Augen werden groß wie grüne Tennisbälle, und als der Krach noch lauter wird und näher kommt, schlägt sie sich die Hand vor den Mund.

»Was ist, Mommy?«, frage ich zögernd.

Als Antwort presst sie nur ihre Hand auf meine Lippen. Anschließend öffnet sie unsere Vorratskammer und schiebt mich in die Dunkelheit.

»Mommy«, murmle ich gegen ihre Hand und bekomme es wieder mit der Angst zu tun. Die Dunkelheit macht mir eigentlich nichts aus, aber ich mag diese enge Kammer nicht. Und noch weniger mag ich es, wenn Mommy so neben sich steht. Wieder kracht es im Hausflur, es klingt, als würde jemand gegen das Geländer schlagen.

»Hör zu, Lizzy. Du bleibst hier drin und bist mucksmäuschenstill, verstanden? Du kommst nicht aus dieser Kammer raus, bis ich dich geholt habe, okay?«

Unschlüssig nicke ich. Ich will nicht, dass sie mich hierlässt und geht!

»Egal was du hörst, du kommst – auf gar keinen Fall – raus!« Sie drückt mir einen Kuss auf die Stirn und verlässt die Vorratskammer. Ich presse das Ohr gegen die Tür, höre, wie jemand gegen unsere Wohnungstür hämmert. Das Hämmern klingt nicht freundlich, klingt nicht nach Besuch. Wer kommt denn mitten in der Nacht her? Im Hintergrund höre ich Mommys Weinen, während sie sich in der Küche durch eine Schublade wühlt. Ich kenne das Geräusch so gut, weil sie darin immer nach Streichhölzern sucht, wenn der Strom mal wieder abgestellt wurde, weil wir die Rechnungen nicht zahlen konnten.

Ich schließe die Augen, drücke Mr. Pebbles auf mein Herz und umklammere mit der anderen Hand die Kette, die Mommy mir gerade geschenkt hat. Alles wird gut, oder? Das muss es! Prinzessinnen bekommen ihr Happy End. Immer.

Als ich höre, wie unsere Haustür brutal aufgestoßen wird, schluchze ich auf. Um die Geräusche zu unterdrücken, beiße ich in Mr. Pebbles’ Ohr. Mommy hat gesagt, dass ich leise sein soll. Sie hat gesagt, dass wir uns haben. Für immer. Dass wir reicher sind als all die Menschen, die so viel Geld besitzen. Wieso nur glaube ich, dass sie gelogen haben könnte?