FÜNF­UND­ZWANZIG

JAMES

»H ast du diese Frau hier gesehen?« Ich halte der Hure das Foto meiner Schwester hin. Seit Tagen bin ich in der Zona Norte unterwegs, klappere einen Puff nach dem anderen ab und fühle mich inzwischen wie ein alberner Versicherungsvertreter, der von Haus zu Haus geht. Nur dass es bei mir von Bordell zu Bordell heißen müsste und ich den Frauen keine Dinge aufquatsche, sondern lediglich Fragen an sie habe. Fragen, auf die mir bis jetzt niemand eine zufriedenstellende Antwort geben konnte.

»Lass mich überlegen, Schätzchen.« Sie betrachtet das Foto mit gekräuselten Lippen. »Sie ist hübsch, würde sicher einige Kunden anlocken mit ihrer Angelina-Jolie-Optik«, sagt sie grinsend. »Wir sind immer auf der Suche nach Frauen, die … ansehnlich sind.« Sie sitzt auf einem schwarzen Ledersessel und hat die schlanken Beine überschlagen. Im Gegensatz zu den anderen Frauen in diesem Schuppen sieht sie aus, als sei sie im Besitz ihrer geistigen Kräfte. Vermutlich ist die Kleine hier die Puffmutter, auch wenn sie nicht älter als fünfunddreißig aussieht. Vielleicht ist aber auch Botox das Wundermittel ihrer Wahl, während die anderen lieber zu Meth oder Heroin greifen. Die meisten von ihnen stehen so unter Drogen, dass ich mit ihnen nicht mal ein ansatzweise produktives Gespräch hätte führen können. Umso erleichterter war ich, endlich mit jemandem zu sprechen, der meine Worte auch versteht.

»Hast du sie nun gesehen oder nicht?«, frage ich ungeduldig. Die Tussi beugt sich vor und präsentiert mir dabei ihre gemachten Titten.

»Meine Informationen kosten, Darling.«

Ich wäge ab, ob sie mich nur ködern will, um an mein Geld zu kommen, aber etwas in ihrem Blick sagt mir, dass sie mehr weiß. Also zücke ich einen Bund Scheine aus meinem Jackett und werfe ihr ein paar davon vor die Füße. Umgehend sammelt sie die Scheine ein. Anschließend reicht sie mir das Foto.

»Vor einer Woche war sie mit einem Kerl in unserem Viertel unterwegs.«

»Kanntest du den Wichser?« Shit, ich sollte ihr nicht vertrauen, aber ich springe voll auf ihren Köder an.

»Ich kannte ihn nicht, aber er wird hier öfter gesehen. Typ mittleren Alters, vielleicht um die fünfzig. Graue Haare, mit einer Narbe am Hals.« Sie deutet auf ihre Kehle und zuckt mit den Schultern. »Vermutlich nur irgendein Freier, der auf der Suche nach neuen Mädchen zum Abwerben war.«

»Ging es der Frau gut?«

»Was weiß ich.« Sie verdreht die Augen. »Hab nicht wirklich drauf geachtet. Aber sie hat geatmet und konnte selbstständig laufen, das heißt in unserem Milieu schon was.« Die Nutte steht auf und greift nach meiner Krawatte, um mich von ihrem Bett zu ziehen. »Wenn du nicht vögeln willst, musst du jetzt leider gehen, Darling. Ich habe Kunden.«

»Wenn du sie oder diesen Kerl nochmals sehen solltest …« Ich zücke eine weiße Visitenkarte, auf der nichts steht außer meine Telefonnummer. Kein Name, keine Anschrift, nur die Zahlenfolge. Und diese Kärtchen habe ich in den letzten Nächten wie Gratiscoupons in diesem dreckigen Rotlichtviertel verteilt, in der Hoffnung, dass es irgendjemanden gibt, der mich zu meiner Schwester führen kann. Die Zeit rinnt mir schon lange aus den Fingern, immerhin werden die Chancen, eine vermisste Person zu finden, mit jedem weiteren Tag nur geringer. Aber seit ich Willow begegnet bin, rinnt sie noch viel schneller. Weil es jetzt zwei Frauen gibt, die meine ganze Aufmerksamkeit fordern.

»Sollte ich der Kleinen nochmals über den Weg laufen, werde ich mich melden. Wenn die Bezahlung stimmt«, sagt sie mit Nachdruck und steht auf. Ihr durchtrainierter Körper steckt in einem Latex-Body, der nicht gerade nach Bequemlichkeit schreit, den Kunden aber sicherlich den letzten Nerv raubt. Die Frau hat seidige schwarze Haare und die wohl üppigsten Titten, die ich in letzter Zeit gesehen habe. Und auch wenn sie früher genau meinem Beuteschema entsprochen hätte, regt sich bei ihrem Anblick nichts in mir. Weil ihre Haare zu dunkel, ihre Haut zu gebräunt und ihre Titten nicht Willows sind. Ich sagte ja, sie hat mich für die restliche Frauenwelt komplett verdorben.

»Über die Bezahlung unterhalten wir uns, wenn es so weit ist. Aber sie wird stimmen.« Ich verlasse das Privatzimmer der Hure und trete in einen Raum, der von Rauchschwaden durchzogen ist. Je näher ich dem Ende der Straße komme, desto abgewrackter sehen die Läden von innen aus, und hätte ich es nötig, mir eine Hure zu bezahlen, würde ich mir zweimal überlegen, in welchen Laden ich wirklich einen Fuß setze. Aber mir bleibt nicht viel übrig, wenn ich meine Schwester finden will.

Auf dem Weg nach draußen werde ich von drei verschiedenen Frauen aufgehalten. Besonders der Anblick der letzten versetzt mir einen Stich in den Magen. Sie ist so abgemagert, dass man beinahe ihre Knochen am ganzen Körper durchschimmern sieht, und die Einstichstellen an ihren Armbeugen sind entzündet. Ich schüttle die Frau von mir ab, höre noch, wie sie »Süßer« und »Stoff« murmelt, und verschwinde aus dem Bordell.

Weil die Nacht bereits lang war und ich dringend eine Dusche und eine Portion Schlaf gebrauchen könnte, entscheide ich mich dafür, morgen wiederzukommen und für heute Feierabend zu machen. Auf dem Weg zu meinem Wagen vibriert schließlich mein Diensthandy, und als ich Silvas Namen auf dem Display sehe, zerquetsche ich es fast in meiner bloßen Hand. Stattdessen nehme ich den Anruf an und schlüpfe wieder in meine perfekt einstudierte Rolle.

»Silva, mein alter Freund«, begrüße ich ihn und würde am liebsten ein Wie willst du eigentlich sterben? hinterhersetzen. Denn seitdem er mich indirekt dazu gezwungen hat, Willow zu verprügeln, kratze ich an der Geduldgrenze und male mir seinen Tod in den schillerndsten Farben aus.

»Ich habe gute Nachrichten, James«, erwidert er, und ich höre, wie er den Rauch seiner Zigarre ausbläst. Im Hintergrund ertönt das Stöhnen einer Frau, gepaart mit dem mehrerer Männer. Vermutlich wird eine seiner Frauen gerade für einen Gangbang missbraucht. Etwas, das Willow ebenfalls bevorstehen wird. Ich darf gar nicht darüber nachdenken.

»Und die wären?«, frage ich, zücke den Schlüssel meines Wagens und werfe ihn ein paar Mal in die Luft, um ihn anschließend wieder aufzufangen. Damit halte ich mich davon ab, das Telefon in hohem Bogen auf den Asphalt zu schleudern und zu zertreten.

»Ich bin morgen wieder in der Stadt, und laut Madeleine ist meine kleine Ginger endlich bereit für die Übergabe«, sagt er, und das diabolische Lachen, das er hinterhersetzt, schnürt mir die Luftröhre ab. Madeleine, dieses dreckige Biest! Am liebsten würde ich mit meiner Faust auf etwas einschlagen, aber ich muss mich ungerührt geben. Auch wenn in mir alle Alarmglocken schrillen. Weil der Tag X viel schneller gekommen ist als gedacht. Weil ich nicht genug Zeit hatte, um alles vorzubereiten.

Weil ich versagt habe.

»James? Bist du noch da?«, hakt Silva nach.

Meine Hand ballt sich zur Faust.

»Ja, ich bin noch da«, lüge ich. Körperlich stimmt es vielleicht, aber geistig bin ich gerade ganz woanders. Was soll ich ihm sagen? Dass sie bereit ist? Sicher nicht. Doch wenn ich ihn länger hinhalte, wird er Verdacht schöpfen und dann war alles umsonst.

»Du hast gute Arbeit geleistet, mein Freund. Dafür schenke ich dir beim nächsten Mal nicht nur Nadias Mund, sondern jede ihrer Öffnungen. Oder vielleicht schenke ich dir auch eine Nacht mit Willow – die hast du dir redlich verdient.« Ich behalte für mich, dass ich sie schon längst hatte. Dass sie sich mir hingegeben hat – und zwar vollkommen freiwillig. Dass ich sie längst als mein markiert habe, noch bevor er zum ersten Mal vor ihr stand. Und … dass ich zu viel fühle, wenn sie in meiner Nähe ist. Zu vieles, was in meinem Leben keinen Platz hat.

»Klingt verlockend«, erwidere ich und kotze mich selbst so dermaßen an, dass ich die Spiegelung meiner Fresse in der Scheibe meines Wagens nur schwer ertrage.

»Ich mache mich bei Sonnenaufgang auf den Weg ins Oasis , um sie höchstpersönlich abzuholen. Schließlich bin ich ein Gentleman.« Ein Gentleman, der Frauen zum Sex zwingt und gegen ihren Willen einer Horde Kerlen zum Fraß vorwirft? Sicher, du Hurensohn.

»Dann sehen wir uns in ein paar Stunden, Silva«, sage ich betont freundlich und beende das Gespräch. Sobald die Leitung unterbrochen ist, hole ich das nach, was ich tun wollte, seit ich seinen Namen auf meinem Handy gelesen habe. Ich donnere meine Faust gegen das Seitenfenster meines 911ers. Einmal, zweimal, dreimal. Natürlich gibt das Glas nicht so schnell nach, aber ich ebenfalls nicht.

Ich prügle wie ein Irrer auf meinen eigenen Wagen ein und zucke nicht einmal zusammen, als die Alarmanlage schrill losgeht und die ganze Straße beschallt. Vermutlich sieht es von außen betrachtet aus, als würde ich den Wagen stehlen wollen. Doch hier in diesem heruntergekommenen Viertel interessiert es ohnehin niemanden, also gehen die dunklen Gestalten auf der anderen Straßenseite einfach weiter. Der widerwärtige Ton schmerzt in meinen Ohren, aber ich höre erst auf, als das Glas endlich nachgibt und in tausend Diamanten zerspringt. Meine Hand ist ohnehin noch halb zertrümmert durch die Aktion im Aufzug, aber das ist mir egal. Gegen Schmerzen bin ich schon lange resistent, dafür hat mein Vater mehr als deutlich gesorgt.

Mein Atem geht schnell, Schweiß rinnt über meinen Nacken und meine Stirn. Einen Wagen zu verprügeln ist nicht ansatzweise so befriedigend wie das Brechen von Knochen, aber für den Moment muss es reichen.

Er wird sie abholen.

In wenigen Stunden wird Eliam Silva in Kalifornien ankommen und sie mitnehmen.

Er wird sie missbrauchen, er wird sie zerschmettern und ihr das Licht nehmen, das sie so lange am Leben gehalten hat.

Ich gehe an meinem Porsche zu Boden und lande in einem Meer aus Glassplittern. Ich hätte mehr Zeit gebraucht, um meinen Plan zu perfektionieren. Stattdessen stehe ich jetzt vor einem Trümmerhaufen und muss irgendwie das Beste daraus machen. Meine Schwester konnte ich immer noch nicht retten und jetzt soll ich auch noch Willow verlieren?

Gedankenversunken greife ich in die Innentasche meines Jacketts und ziehe das kleine Lederetui heraus, von dem ich gehofft hatte, den Inhalt nie benutzen zu müssen. Sobald ich es geöffnet habe und ich die graue Kapsel zwischen Daumen und Zeigefinger nehme, gehe ich gedanklich alle Punkte durch, die ich beachten muss. Alle Steps, die wichtig sind.

Ich lasse die Kapsel in meiner geballten Faust verschwinden und bete zu einer höheren Macht, dass wie durch Zauberhand alles gut gehen wird. Aber ich habe meinen Glauben an diese Macht schon vor langer Zeit verloren.

Es gibt nur einen Ausweg für sie. Eine Möglichkeit, wie ich Willow vor demselben Schicksal bewahren kann, das Nadia ereilt hat.

Sie muss sterben.