Ein Torwarttor mit Köpfchen
Im Ruhrpott-Derby gegen Borussia Dortmund am 19. Dezember 1997 köpft Jens Lehmann, damals noch Torwart bei Schalke 04, in der 90. Minute den Ausgleich zum 2:2. Erstmals in der Bundesliga erzielt damit ein Torwart aus dem Spiel heraus ein Tor – daran denkt Lehmann gerne zurück:
»Schalke gegen den BVB – das ist die Mutter aller Derbys, die Spiele sind immer brisant und höchst emotionsgeladen. In dieser Saison hatten beide Teams zudem einen europäischen Titel im Gepäck: Wir hatten in der Vorsaison den UEFA-Cup gewonnen, Dortmund die Champions League. Die Messlatte lag also noch etwas höher, zudem wollten wir uns natürlich wieder für das internationale Geschäft qualifizieren.
Das Derby im Dezember 1997 fand allerdings unter umgekehrten Vorzeichen statt: Wir standen in der Tabelle mit sieben Punkten vor dem Erzrivalen und hatten zudem das Hinspiel mit 1:0 für uns entscheiden können. Durch einen Sieg hätte der BVB uns beim Kampf um die internationalen Plätze wieder im Nacken gesessen, und das wollten wir unbedingt vermeiden.
Dortmund ging relativ früh in Führung, wir glichen aus, doch Andy Möller brachte den BVB in der 79. Minute erneut in Führung, durch einen schönen Schuss in den Winkel. Wir versuchten noch mal alles, um den Ausgleich zu erzielen. Auch ich rannte schon früh nach vorne. Einmal wurde der Ball abgefangen, Zorc bekam den Ball, und ich stand noch weit vor dem eigenen Kasten. Hätte er quer zu Chapuisat gespielt – ich bin mir sicher, das wäre das 3:1 gewesen. Er versuchte es aber direkt, und ich konnte gerade noch parieren.
Die letzten Sekunden liefen, wir bekamen noch einmal einen Eckball. Wieder ging ich mit nach vorn – das war ein spontaner Impuls, ich dachte, ich könnte etwas bewegen. Vorher abgesprochen war es nicht, auch dazu aufgefordert wurde ich nicht. Olaf Thon schlug die Ecke, von der rechten Seite, relativ kurz und weg vom Fünfer zu Linke, der verlängerte den Ball auf den langen Pfosten. Ich sprintete los, und ich wusste sofort: Den Ball erwischst du, den machst du rein – die Flugbahn war einfach ideal. Er kam direkt auf meinen Kopf, ich köpfte aus kurzer Distanz gegen die Laufrichtung vom Dortmunder Keeper Klos – 2:2!
Der Jubel war riesig, Olaf sprang mir in die Arme, andere folgten. Kurz darauf war dann auch Schluss. Wir nahmen einen Punkt aus dem Westfalenstadion mit und hatten Dortmund in der Tabelle auf Abstand gehalten. Es war mein letztes Derby im Schalker Trikot, im Jahr darauf ging ich nach Mailand, 1998 dann zum BVB. So schnell steht man auf der anderen Seite.
In der Kabine sangen meine Mitspieler ›Lehmann in den Sturm‹, was ein gängiger Slogan unter den Schalke-Fans war. Danach war Winterpause.«
Mannis Kommentar
Bestimmte Dinge machst du auf Schalke besser nicht: zum Beispiel mit schwarz-gelben Schuhen zum Training kommen. Genau das tat einmal der Peruaner Jefferson Farfán, dem zu Beginn seiner Schalker Zeit (2008–2015) die Rivaliät mit Lüdenscheid Nord noch nicht so recht bekannt war. In seiner Welt ist nämlich mit »Derby« die Paarung Alianza Lima gegen Atlético Minero gemeint. Dass der BVB und die Farbkombination Schwarz-Gelb (zumindest in Gelsenkirchen) Scheiße sind, wusste er nicht. Nach kurzer, aber eindringlicher Belehrung konnte Farfán davon überzeugt werden, das Schuhwerk zu wechseln.
Die Maßnahme zeigte wenig Wirkung für Farfáns erstes Derby im September 2008: Die Schalker vergeigten in maßloser Arroganz in der letzten halben Stunde einen 3:0-Vorsprung und mussten sich mit einem 3:3 begnügen. Aber immerhin war mal wieder was los beim Revierderby, zwei Platzverweise und zwei Elfmeter gab’s als Sahnehäubchen obendrauf.
Um die Jahrtausendwende, ziemlich bald nach Jens Lehmanns Kopfballtor, waren die Begegnungen Blau-Weiß gegen Schwarz-Gelb meistens fade Kickereien, bei denen noch nicht mal der Zeitungs-Boulevard in Wallung geriet. Da blieb als Reizpunkt fast nur die Geschichte von dem Opa, der seine Enkel um sich versammelt und mit salbungsvoller Stimmung anhebt: »Und nun erzählt euch Opa die Geschichte, wie Dortmund mal gegen Schalke gewonnen hat.« Das gab es nämlich zwischen November 1998 und Mai 2005 kein einziges Mal.
Diese nicht enden wollende Schmach wurde endgültig an jenem legendären 12. Mai 2007 getilgt, als Dortmund den Schalkern mit einem 2:0 die Meisterschaft versaute. Der Versicherungspark versank in Häme und Schadenfreude, eine Woche später, beim letzten Saisonspiel gegen Bielefeld, kreiste ein Flugzeug über der Schalker Arena mit dem Banner: »Ein Leben lang keine Schale in der Hand.«
Was treibt erwachsene Menschen zu solchen Aktionen? Warum erklärt der Chef des Schalker Aufsichtsrates einen Tabellenplatz »vor den Dortmundern« zum zweitwichtigsten Saisonziel? Weshalb weigern sich Hardcore-Schalkefans vorübergehend, das Parkstadion zu betreten, nur weil »Heulsuse Möller« vom BVB verpflichtet worden ist?
Wahrscheinlich geht’s schlicht um das menschliche Grundbedürfnis, die Bewohner des Nachbardorfes zu vermöbeln, und zwar nur deshalb, weil sie existieren. Völlig abgedreht und irrational, aber das ist wahrscheinlich tatsächlich das Grundmuster.
Wer das Ausmaß geistiger Dörbie-Verwirrung in seiner kompletten Bandbreite beobachten will, dem sei übrigens beim nächsten Ruhrpott-Gipfel das Internetradio des BVB empfohlen. Die dort agierenden Slapstick-Figuren rund um die BVB-Legende Nobby Dickel sind direkt dem Kuckucksnest entsprungen, ihre Parteilichkeit und Identifikation mit Schwarz-Gelb überwinden regelmäßig locker die Grenzen der sportlichen Fairness. Dass der BVB sie gewähren lässt, ist ein Beweis dafür, dass der Wahnsinn auch vor höheren Etagen nicht haltmacht.
Dem Derby-Rivalen die Meisterschaft kaputt zu machen, funktioniert im Übrigen auch in die andere Richtung. Zehn Jahre nach dem peinlichen Schalker 0:2 in Dortmund, im April 2019, gewann Schalke mit 4:2 beim BVB, zeigte dabei einen der ganz wenigen Lichtblicke in einer vollkommen verkorksten blau-weißen Saison und spuckte den Dortmundern entscheidend in die Meisterschaftssuppe.