Ewald Lienen

Norbert Siegmann, der »Schlitzer«

Am 14. August 1981 gewann Werder Bremen gegen Arminia Bielefeld mit 1:0. Das Ergebnis war allerdings Nebensache, denn in diesem Spiel foulte der Bremer Verteidiger Norbert Siegmann den ­Bielefelder Stürmer Ewald Lienen. Siegmanns Stollen fügten Lienen eine der spektakulärsten Verletzungen in der Geschichte der Bundesliga zu: eine 25 Zentimeter lange Fleischwunde, so tief, dass der Muskel zu sehen war. Der Anstifter für diese Körperverletzung saß nach Lienens Wahrnehmung an der Außenlinie: Bremens Trainer Otto Reh­hagel.

»Wir Bielefelder waren an dem Tag gut ins Spiel gekommen: In der ersten Viertelstunde konnte ich meinem Gegenspieler Siegmann meiner Erinnerung nach einige Male entwischen. Vielleicht eine halbe Minute vor dem Foul holte Rehhagel Siegmann an die Linie und redete mit hitziger Mimik und Gestik auf ihn ein. Zur Unterstützung seiner Worte schlug der Trainer ein paar Mal mit der Faust in die offene Hand.

Dann erreichte mich ein Diagonalpass. Bei der Ballannahme sprang mir der Ball etwas vom Fuß, und Siegmann kam sofort von schräg vorne auf mich zugeflogen: mit hohem, gestrecktem Bein grätschte er in meinen Körper hinein und traf meinen rechten Oberschenkel.

Das war ein ungeheuerlicher und rücksichtsloser Angriff auf meine Gesundheit. Siegmann sagte hinterher, das sei keine Absicht gewesen, und das glaubte ich ihm auch: Selbstverständlich ist er nicht mit der Absicht in den Zweikampf gegangen, mir in der Form den Oberschenkel aufzuschlitzen. Wer allerdings so in einen Gegner springt, der hat nicht unter Kontrolle, was passiert, und nimmt es zumindest billigend in Kauf, dass der Gegenspieler schwer verletzt wird.

Ich lag am Boden und sah mit Entsetzen, was Siegmann da angerichtet hatte. Gleichzeitig war mir sofort klar, dass es einen Zusammenhang zwischen dem Gespräch an der Außenlinie und der Attacke geben musste. Ich raste also so schnell, wie es mir meine Verletzung erlaubte, Richtung Rehhagel und beschuldigte ihn, Siegmann heißgemacht zu haben. Innerhalb von Sekunden entstand dort vor der Haupttribüne ein Riesentumult, unser Trainer Horst Franz schlug die Hände vors Gesicht, als er die hässliche Wunde sah. Gott sei Dank hatte die Verletzung keine schwerwiegenden Folgen, sechs Wochen später konnte ich schon wieder spielen. Aber weil es so grausam aussah und wegen meiner Vorwürfe in Richtung Rehhagel, gab es ein Wahnsinnsspektakel in den Medien. Die Bild-Zeitung baute Siegmann als eine Art Monster auf und brachte eine Serie unter der Überschrift ›Der Tritt‹.

Den Konflikt mit Otto Rehhagel habe ich schon ein paar Wochen später runtergefahren, wir haben uns auch später immer wieder getroffen und haben seit langen Jahren ein gutes Verhältnis zueinander. Weil es Drohungen gab, musste er beim Rückspiel allerdings mit kugelsicherer Weste auf der Trainerbank sitzen.

Norbert Siegmann hatte ich schon in den Siebzigern als – sagen wir einmal – ›Verteidiger der alten Schule‹ kennengelernt. In fast jeder Mannschaft gab es damals mindestens einen knallharten Abwehrspieler, vor dem man sich wirklich in Acht nehmen musste. Über Spieler dieses Schlages kursierte damals übrigens nicht ganz zufällig der herbe Spruch: Kein Mensch, kein Tier, die Nummer Vier.

Ewald Lienen – auch mit tiefer Fleischwunde nicht zu bremsen

Ewald LIENEN Bielefeld gefoult von Norbert SIEGMANN,  rechts Bremens Trainer Otto REHHAGEL SC Werder Bremen - Arminia Bielefeld

Heute ist der Vorfall von 1981 längst vergessen und vergeben. Wir haben uns ausgesprochen, und ich freue mich, dass Norbert trotz all der Anfeindungen und dem übergroßen Medienrummel seinen Lebensweg gefunden hat. Eine schöne Pointe bekam ich damals noch frei Haus geliefert: Norbert hatte sich bei mir in einem Brief entschuldigt, der über den Bremer Vereinsanwalt lief. Dessen Adresse lautete: Knochenhauerstraße 14.«

Fußball, Politik und Flügelkämpfe

Mannis Kommentar

Ich habe es immer gehasst, den Fußball, ob’s passte oder nicht, in ein zeitgeschichtliches Korsett zu pressen: Paul Breitner war nie ein Linker, geschweige denn Maoist, die deutsche Mannschaft, die 1972 Wembley erstürmte, spielte keinen Fußball à la sozial-liberale Koalition, und die Bayern unter Hitzfeld standen nicht für Shareholder Value und so­ziale Kälte.

Aber im Falle Ewald Lienen möchte ich – zumindest als Kampfthese – eine Ausnahme machen. Lienen war ein friedensbewegter Linker, und die Fußballreporter kamen sich immer sehr originell, vielleicht sogar mutig vor, wenn sie formulierten: »Jetzt Lienen am Ball, nicht nur auf dem Platz Linksaußen …« Ha, ha, ha!

Politisch war der Ewald ein Exot, denn selbst in bewegten Zeiten war und ist der gemeine deutsche Fußballprofi im Normalfall unpolitisch, und wenn politisch, dann konservativ oder vielleicht bürgerlich-grün. Lienen mit dem haarigen Revoluzzer-Outfit bezog Ende der Siebziger, Anfang der Achtziger klar Position gegen den NATO-Doppelbeschluss, mit dem die NATO eine gewaltige Drohkulisse gegen die atomare Bedrohung aus dem Osten aufbaute. Die Bewegung gegen den atomaren Wahnsinn fand in Deutschland ihren ersten Höhepunkt im Oktober 1981, als 300 000 in Bonn gegen das Wettrüsten demonstrierten.

Genau in dieser aufgeheizten Phase bundesdeutscher Nachkriegsgeschichte schlitzt der Bremer Norbert Siegmann Ewald Lienens Oberschenkel auf. Und was tut Lienen nach der schmerzhaften Attacke mit den grausig anzuschauenden Folgen? Bleibt er zerstört am Boden liegen und lässt sich behandeln? Nein, er rast los wie von Sinnen, denn er weiß: Verantwortlich für den Mordanschlag auf den Friedensengel ist nicht der gemeine Soldat Siegmann, sondern der Drahtzieher im Hintergrund, der Heißmacher, der Anstifter: Otto Rehhagel, ein ruppiger Aufsteiger mit konservativem Weltbild.

Lienen bei Werder Bremen? Undenkbar, »König Otto« hätte ihn schon vor dem ersten Training ob seiner politischen Ansichten vor versammelter Mannschaft als Spinner gebrandmarkt und ihn anschließend zum Friseur geschickt.

Die aggressive Konfrontation der beiden grundverschiedenen Typen an jenem 14. August 1981 hätte es ohne die aufgeladene Atomkriegsdiskussion jener Tage vielleicht gar nicht gegeben. Ein schlimmes Foul, eine hässliche Verletzung, die üblichen Vorwürfe und Zeitungsartikel, aber nicht der Vulkanausbruch an der Seitenlinie. Der Fußballplatz war an dem Tag, zumindest in der Wahrnehmung Ewald Lienens, eine symbolische Kampfstätte zwischen friedfertigen Rüstungsgegnern und menschenverachtender Atomwaffenlobby, der die Gesundheit und das Leben der Menschen schnurzegal ist.

Die Schlusspointe setzte später Norbert Siegmann, den sie noch viele Jahre als »Schlitzer« stigmatisierten: Er wurde nach langen Reisen durch den Fernen Osten ein erleuchteter und gläubiger Buddhist. Er wandelt jetzt lächelnd als Rentner ohne Auto und Fernsehen durch’s Leben; mit Ewald Lienen gab es einen sechsstündigen Friedensgipfel, der nichts anderem als der Harmonie der Menschheit diente.