Wie ein Pfosten das perfekte Debüt vermasselte
Frank Mill hat in seiner Karriere zahlreiche Tore erzielt. Viele Fans erinnern sich aber vor allem an die Szene, als er am 9. August 1986 das leere Tor der Bayern verfehlte. Mill spricht noch einmal über seinen unvergessenen Pfostenschuss.
»Das erste Spiel der Saison war zugleich mein erstes Spiel für Borussia Dortmund, und es ging direkt zu den Bayern. Ich wollte natürlich zeigen, dass ich kein Fehleinkauf war, und war hoch motiviert. Die Münchner machten früh das 1:0 – was für mich als Stürmer nicht schlecht war, denn jetzt mussten wir offensiver spielen und ich sah mehr Möglichkeiten, um mich auszuzeichnen.
Eine solche Chance ergab sich bald: Die Bayern bauten an der Mittellinie eine Abseitsfalle auf, sie wurde aber durch einen langen Pass aus dem Mittelfeld ausgehebelt, die Abwehr passte nicht auf, und ich hatte plötzlich freie Bahn aufs Tor. Knapp vor dem heranstürmenden Jean-Marie Pfaff kam ich an den Ball und ließ ihn mit einer Körpertäuschung ins Leere laufen. Ich lief von rechts in den Bayern-Strafraum und stand kurz vor meinem ersten Tor für die Borussia. Die Fans jubelten bereits. Mir blieb genug Zeit, den Ball einfach einzunetzen.
Doch das war mir zu simpel. Ich wollte es machen wie Pierre Littbarski, der schiebt die Bälle auch nie einfach nur so rein. Von hinten kam Pfaff bereits wieder angerauscht. Ich wollte einen Schuss antäuschen, ihn aussteigen und ins leere Tor rutschen lassen. Ich wollte Pfaff lächerlich machen, wenn man so will. Doch ich kam nicht mehr richtig hinter den Ball, ich stand zu schlecht, und plötzlich stieg Panik in mir auf – Pfaff kam immer näher. Ich dachte – ich habe einfach zu viel gedacht in den Sekunden –, jetzt den Ball einfach nur noch rein ins Tor! Ich schoss aus drei Metern – und traf den rechten Pfosten.
Ich konnte es nicht fassen. Es war furchtbar, als ich begriff, dass der Ball nicht im Tor lag. Nicht Pfaff, sondern ich selbst hatte mich so unter Druck gesetzt. Kopf ausschalten und Ball reinschieben, das wäre es gewesen. Das Spiel endete 2:2, ich bereitete unsere Tore vor, aber davon spricht niemand mehr.
Kurz vor Ende wurde ich dann ausgewechselt, vermutlich, um mich vor den Journalisten zu schützen. Es half nichts, ich wurde zu dieser Szene rauf und runter befragt. In den Wochen und Monaten darauf rieb mir die Szene so ziemlich jeder unter die Nase, sogar am anderen Ende der Welt: In San Francisco sah ich im US-Fernsehen in einer Pannenshow einen deutschen Fußballer, der aus drei Metern das leere Tor nicht trifft. Nirgendwo war ich vor dem Spott sicher.«
Mannis Kommentar
Lieber Fränkie Mill,
ich möchte mich bei Dir entschuldigen, aber es musste leider sein. Was wäre ein Buch mit spektakulären Fußballszenen ohne Deinen Pfostenschuss in München? Ich kann es voll verstehen, dass es Dir »auf den Pinsel geht«, wie Du gesagt hast, wenn die Leute Dich immer wieder mit dieser peinlichen Nummer konfrontieren.
Denn Du hast ja so viele schöne Tore geschossen! Genau 201 in der Liga. Mit Deinem Partner Norbert Dickel, heute ein begnadeter Stadionsprecher, warst Du beim BVB ein geniales Duo, und beim legendären Pokalgewinn der Borussia 1989 hast Du Dich im Finale auch mit einem Tor in die Liste eingetragen.
Aber eins muss ich Dir schon noch sagen: Du bist letzten Endes nicht Opfer Deiner Nerven, sondern Deiner Schlitzohrigkeit geworden. »Der Fränkie«, hat Nobby Dickel mal gesagt, »der ist mit allen Abwässern gewaschen.« Die Abwässer sind Dir damals in München zum Verhängnis geworden; denn mal im Ernst: Wer den Gegner verarschen und dabei noch die künstlerische Bestnote rausholen will, der gehört bestraft! Von wegen Ball zwischen die Beine klemmen und dann noch einen schönen Übersteiger!
Vielleicht hilft Dir ja nach all den Jahren auch die sehr praxisnahe Theorie, die der schlaue Journalist Dirk Schümer entwickelt hat: Fußball ist für ihn die »Kunst des Scheiterns«; das heißt, im Normalfall funktioniert das Fußballspiel nicht so, wie es die Spieler wünschen. Der Schuss geht neben das Tor, der Pass landet beim Gegner, die Flanke geht weit ins Aus. Das Faszinierende am Fußball ist, so sagt es Schümer, »die Differenz zwischen dem zu erwartenden Scheitern und dem unwahrscheinlichen Gelingen«. Wenn Du länger über diesen Satz nachdenkst, lieber Fränkie, siehst Du ein Fußballspiel und auch Dein Versagen von 1986 mit ganz anderen Augen.
Viele Fans gehen ins Stadion und haben den perfekten Fußball im Kopf. Und wenn sich die Realität dann so präsentiert wie meistens, sind sie enttäuscht. Eine viel zu hohe Erwartungshaltung! Fehlpässe über zehn Meter sind die Normalität, mit der wir uns abzufinden haben. Wer das nicht will, soll sich auf die acht Minuten Zusammenfassung in der Sportschau beschränken. Gegen diese tiefe Erkenntnis vom Wesen des Fußballs hilft kein Rebellieren. Denn was ist schon von einer Sportart zu halten, in der eine Kugel, das Sinnbild der Perfektion, von einem grobmotorischen Körperteil wie dem Fuß bewegt werden soll. Hast Du, Fränkie, schon mal gehört, dass die Beethovensonaten von zwei Füßen gespielt worden sind?
Also gräme Dich nicht, aber finde Dich einfach damit ab, dass die Menschen auch weiterhin nach Deinem Pfostenschuss vom 9. August 1986 fragen. Du hast jetzt philosophische Erkenntnisse, die Dir Gelassenheit verschaffen.
Sportliche Grüße
Dein Manni