Harald Schumacher

»Das Monster von Sevilla«

8. Juli 1982: Im dramatischen WM-Halbfinale von ­Sevilla besiegte Deutschland Frankreich mit 8:7 nach Elfmeterschießen. Nach 90 Minuten hatte es 1:1 gestanden, die Franzosen führten in der Verlängerung mit 3:1, Resultat nach 120 Minuten: 3:3. Negativer Höhepunkt des Spiels: In der 57. Minute beförderte der deutsche Torhüter Harald Schumacher den ­Franzosen Patrick Battiston mit einer wilden Sprungattacke ins Krankenhaus. So sieht Schumacher es heute:

»Eines will ich mal vorab sagen: In einer solchen Situation wie damals würde ich heute wieder genauso hingehen. Es stand 1:1, wir wollten ins WM-Finale, und nach einem Steilpass kam Patrick Battiston im Vollsprint auf mich zugespurtet. Ich stand da wie eine Art Libero und wollte die Situation rechtzeitig entschärfen. Ja, ich bin mit angezogenen Knien hochgesprungen, aber zeigen Sie mir einen Torwart, der da mit hängenden Beinen hochgeht. Das ist auch so eine Art Selbstschutz; wir hatten ja 1982 noch nicht einmal den heute gängigen Unterleibsschutz.

Als ich Battiston auf mich zufliegen sah, habe ich mich noch instinktiv etwas weggedreht. Ich traf ihn mit der Hüfte, der Ball trudelte fast gleichzeitig knapp am Tor vorbei. Die Szene danach tut mir heute noch leid. Denn als Battiston ohnmächtig am Boden lag, bin ich nicht zu ihm gegangen. Das war nicht richtig, dass ich da so lässig am Pfosten stand und den Ball aufgetippt habe. Das war eine Mischung aus Verlegenheit, Angst und Feigheit. Von meinen Mannschaftskameraden kam keiner zu mir, um die Situation zu besprechen.

Foul von Toni Schumacher gegen Patrick Battiston Frankreich, Manfred Kaltz Deutschland hinten Fussball WM 82 Halbfinale Deutschland - Frankreich 8:7 n.E.   08.07.1982

»Ich zahle ihm die beiden Jacketkronen.«

Im Krankenhaus habe ich Battiston auch nicht besucht, aber auch in dem Punkt gab es keinerlei Anregung oder Unterstützung aus dem DFB-Team. Nach dem Schlusspfiff kamen die Journalisten auf den Platz gestürmt, das wäre heute vollkommen undenkbar, und in der Situation habe ich den Spruch gemacht, ich würde ihm die Jacketkronen für die zwei verlorenen Zähne bezahlen.

Glauben Sie mir, das war keine Häme! Die Verletzung sah so schlimm aus, da war ich schlicht erleichtert, als sie mir sagten, ich hätte ihm ›nur‹ die beiden Zähne ausgeschlagen. Außerdem: Wir waren gerade nach sensationellem Spielverlauf mit Elfmeterschießen ins Finale eingezogen. Da haust du auch schon mal einen unbedachten Adrenalin-Spruch raus.

Die Wochen danach waren die Hölle. Ich war die ›deutsche Bestie‹, das ›Monster von Sevilla‹. Zwei Jahre später spielten wir in Straßburg gegen die Franzosen; noch da bewarfen sie mich kiloweise mit Obst und zeigten im Stadion einen Galgen mit einer Schumacher-Puppe. Mit Battiston gab es später eine Versöhnung, gegen meinen Willen mit großem Medienauflauf – Freunde sind wir danach aber nicht geworden.«

So sah ich Schumacher 1982

Mannis Kommentar

Das Drama von Sevilla erlebte ich vor dem Fernseher in einem stickigen Hotelzimmer in Barcelona, zusammen mit den mittlerweile verstorbenen Kollegen Armin Hauffe und Kurt Emmerich. Wir hatten am späten Nachmittag im Nou Camp das andere Halbfinale zwischen Polen und Italien (0:2) übertragen. Die Klimaanlage im Hotel war ausgefallen, und wir waren so sauer, dass wir in einem gemeinsamen Kraftakt die ­Minibar auf null brachten, ohne am nächsten Tag dafür zu bezahlen. Außerdem drückten zumindest Hauffe und ich den Franzosen die Daumen und mussten am Ende geradezu widerwillig einräumen, ein großes Spiel der deutschen Mannschaft gesehen zu haben.

Warum wir – mit Ausnahme des wackeren Patrioten Emmerich – von der deutschen Fahne flüchteten? Weil wir schlicht genug hatten von den Eskapaden und miesen Leistungen der Derwall-Truppe. Schon die Vorbereitungs­phase am Schluchsee (intern nur »Schlucksee« genannt) glich eher einem von einer Whisky-Firma gesponserten Zocker-Turnier als einer seriösen Vorbereitung auf eine WM. Und dann gab es so furchtbare Spiele wie das 1:2 gegen Algerien und das 1:0 gegen Österreich, die »Schande von Gijón« (siehe dazu auch Seite 209).

Ich war damals WM-Novize am Mikrofon und kriegte es knüppeldick ab: Die Vorrunde verbrachte ich überwiegend in Galizien (Vigo und La Coruña), wo ich die Gruppe mit Italien, Polen, Kamerun und Peru betreute. Da war »Spitzenfußball« garantiert, und so endeten denn auch von den sechs Spielen drei torlos remis.

Die deutschen Begegnungen, die ich zugeteilt bekam, waren dann auch logischerweise das Algerien- und, noch schlimmer, das Österreich-Spiel. Das Schicksal und meine Chefs meinten es 1982 nicht gut mit mir. Da passte das brütend heiße Hotelzimmer in Barcelona perfekt in den Rahmen. In der Hafenstadt Vigo hatte ich immerhin in einem noblen Schuppen gewohnt, der allerdings den sexhungrigen Seeleuten auch als Bordell diente.

Als wir dann die brutale Aktion von Toni Schumacher mit ansehen mussten, werteten zumindest Armin Hauffe und ich den Vorfall als Zeichen dreister Disziplinlosigkeit und als weiteren Anreiz, auf Distanz zur deutschen Mannschaft zu gehen. Mich hat damals noch nicht einmal die Finalniederlage gegen Italien besonders geärgert; ich empfand sie als gerechte Strafe. Diese Partie sah ich schon zu Hause in Deutschland im Fernsehen. Das großzügige Angebot, am Vorabend das Spiel um den dritten Platz zwischen Frankreich und Polen zu übertragen, hatte ich zuvor abgelehnt.

Zum ersten Mal bei einer WM am Mikrofon! Meine persönliche Bilanz war enttäuschend; aber immerhin hatte ich in Madrid die Rolling Stones gesehen und aus Barcelona das Rezept für Rinderfilet mit Roquefort-Sauce mitgebracht. Manchmal gibt es eben wichtigere Dinge als Fußball.