Deutschland gegen Italien

High Noon in Mexiko

Das WM-Halbfinale zwischen Italien und Deutschland bei der WM in Mexiko 1970 ging als »Jahrhundertspiel« in die Fußballgeschichte ein. Es wurde bei brütender Hitze am 17. Juni um 16 Uhr Ortszeit vor 102 444 Zuschauern im Aztekenstadion in Mexiko-Stadt angepfiffen. Die Italiener gewannen die Partie mit 4:3 nach Verlängerung. Reporter und Spieler haben unterschiedliche Erinnerungen; denn es ging ja erst in der Verlängerung so richtig rund.

»Nach 90 Minuten hatte es noch 1:1 gestanden. Doch dann fielen fünf Tore in 16 Minuten. Die Torfolge:

1:0 Boninsegna (7.)

1:1 Schnellinger (90.)

1:2 Müller (95.)

2:2 Burgnich (99.)

3:2 Riva (104.)

3:3 Müller (109.)

4:3 Rivera (111.)

Der deutsche Radioreporter Kurt Brumme verlor zuerst den Überblick und dann die Fassung: ›Tor durch Müller, Kopfball Uwe Seeler, Kopfball Müller, im Hechtsprung durch drei Italiener hindurch ins Netz – 3:3 unentschieden. Die Italiener greifen an, Boninsegna, und Tor für Italien. Eben noch Hochstimmung, nein, das können die Nerven von normalen Schlachtenbummlern gar nicht mehr ertragen.‹

Während der regulären Spielzeit hatten die Italiener durch begnadete schauspielerische Einlagen versucht, Zeit zu schinden. O-Ton Brumme: »›Mein Gott, ist das ein Fußball hier. Das ist ja entsetzlich, das ist ja widerlich. Burgnich ist soeben verstorben, sehe ich. Nein, da kommt er wieder.‹

Nach dem Schlusspfiff hatte sich der Reporter aber wieder gefangen: ›So dramatisch und unglücklich hat noch keine deutsche Mannschaft verloren. Selbst die deutsche Mannschaft in Wembley nicht. Sie verloren, weil sie keine Kraft mehr hatten. Sie haben alles gegeben, was sie hatten. Die Italiener haben sie mit kalten Konterzügen matt gesetzt. Italien, das zwar nicht den besseren, aber den klügeren Fußball gespielt hat, zieht ins Endspiel ein.‹

Karl-Heinz Schnellinger spielte 1970 für den AC Mailand. Sein 1:1 kurz vor Schluss entlockte dem Fernsehkommentator Ernst Huberty die zwar nicht sehr originelle, aber als fußballhistorisch geltende lakonische Formulierung: ›Ausgerechnet Schnellinger!‹

Ebendieser rot-blonde Deutsche goss 36 Jahre nach dem Ereignis in einem Interview mit dem Handelsblatt Wasser in den Jahrhundertspiel-Wein: ›Verzeihen Sie mir den Ausdruck, aber in den ersten 90 Minuten war es ganz einfach ein Scheiß-Spiel. Da ist nicht viel passiert. Hätte es nicht die Verlängerung ge- geben, würde heute kein Hahn mehr danach krähen. Was dann geschah, war ja tatsächlich unglaublich spannend.‹«

Jahrhundertspiel? Nein danke!

Mannis Kommentar

Ich weiß nicht, ob es Sie interessiert, aber als die Italiener 1970 das 4:3 machten, warf mein Onkel Heinz, Gott sei seiner geschundenen Seele gnädig, ein Bierglas an die Wand. Ein volles Bierglas! Die Schilderung der anschließenden Ehekrise erspare ich mir, aber die Erinnerung an den Glaswurf beweist: Ich kann mich noch genau daran erinnern, wo und wie ich das Spiel verfolgt habe.

Vielen anderen – allerdings nur den mittlerweile betagten! – Fußballfans geht es genauso. Italien gegen Deutschland 1970 hat sich offensichtlich so in die Gehirne eingegraben wie die Mondlandung, der Fall der Mauer oder der erste Wimbledon-Sieg von Boris Becker. Trotzdem habe ich als routinierter Bedenkenträger Probleme mit dem Begriff »Jahrhundertspiel«. Dass die Mexikaner eine Gedenktafel im Aztekenstadion angebracht haben, möchte ich nicht als Indiz gelten lassen. Mexikaner würden auch Tafeln annageln, wenn einer der ihren als erster eine ganze Flasche Tequila in sechzig Sekunden geleert hätte.

Ein »Jahrhundertspiel« ist auch immer einer Frage der Perspektive. Für geschichtsbewusste BVB-Fans ist das legendäre 5:0 der Dortmunder 1963 gegen die damaligen Giganten von Benfica Lissabon ganz bestimmt ein solches. Anhänger der Frankfurter Eintracht schwärmen noch heute, auch wenn sie damals noch nicht einmal in der Planung waren, vom Europapokal-Finale 1960 gegen Real Madrid vor 134 000 Zuschauern in Glasgow. Trotz der Frankfurter 3:7-Niederlage. Was war das für ein Super-Ding, als Bayer Uerdingen die Ost-Kicker von Dynamo Dresden trotz 1:3-Hinspielniederlage mit 7:3 aus dem Europapokal warf! Vielleicht kriegt mittlerweile das deutsche 7:1 gegen Brasilien bei der WM 2014 die höchste Zustimmung, wenn nach dem absoluten Jahrhundertspiel gefragt wird. Der Bürgermeister des niedersächsischen Drochtersen dürfte das anders sehen. Als im August 2018 der ruhmreiche FC Bayern München anläßlich der ersten Hauptrunde im DFB-Pokal in Drochtersen vorbeischaute, war das für den lokalen Würdenträger sein Jahrhundertspiel.

Nun bin ich dummer weise der erste Vorsitzende des Vereins gegen Superlative. In dieser Eigenschaft überlasse ich die größten, dicksten, dollsten und sensationellsten Dinger lieber den dafür zuständigen Medien auf dem Boulevard der Superlative. Aber abseits aller Begrifflichkeiten und Etiketten war es natürlich ein schier unglaubliches und dramatisches Spiel: eine Hitzeschlacht um die Mittagsstunde, wankende Spieler, die sich am Ende nur noch in Zeitlupe bewegten, Beckenbauer mit dem Arm in der Schlinge wie ein heroischer Feldherr kurz vor dem Heldentod auf dem Feld der Ehre.

Und dann ging es auch noch um den Einzug ins WM-Finale, es standen sich zwei alte europäische Rivalen gegenüber – noch ein Schüppchen mehr Bedeutung. Und erst mal die Dramaturgie! Kein Spiel für Schöngeister und Sauna-unterste-Stufe-Sitzer: Ausgleich in der Nachspielzeit, dann fünf Tore in sechzehn Minuten, du kamst aus dem Aufspringen und Rumbrüllen gar nicht mehr raus.

Hohes Spieltempo war allerdings bei 35 Grad im Schatten nicht zu erwarten, in den Siebzigerjahren aber auch bei mäßigeren Temperaturen nicht üblich. Sehr auffällig ist allerdings, dass die Herren Verteidiger bei buchstäblich jedem der sieben Tore herumstümpern wie Karl-Heinz Förster in der Endphase. Das gibt Punktabzug!

Das war’s dann aber auch schon mit der Nörgelei: Wer bei Deutschland gegen Italien 1970 mitgefiebert hat, wird es nie vergessen, dieses nicht enden wollende Hinfallen und Wiederaufstehen von 22 Deutschen und Italienern, ob Jahrhundertspiel oder nicht. Wenn es jemals in der Geschichte des Fußballs ein Match gab, das keinen Sieger verdient hatte, dann diese zermürbende Auseinandersetzung im Glutofen namens Aztekenstadion.