»Lupfen jetzt, jaaaa!«
Im Finale der Champions League zwischen Borussia Dortmund und Juventus Turin am 28. Mai 1997 schoss der wenige Sekunden zuvor eingewechselte Lars Ricken das 3:1 und sorgte damit für den Titelgewinn. Wie sieht er sein Tor heute?
»Mit meinem Namen verbinden die meisten Menschen seltsamerweise den Edeljoker, der nach der Einwechslung die wichtigen Tore macht. Das war zweimal der Fall: 1994 gegen La Coruña und eben 1997 gegen Juve. Dabei habe ich bei anderen wichtigen Toren gegen Auxerre, Bukarest oder Manchester stets von Anfang an gespielt.
Natürlich war ich enttäuscht, als Hitzfeld mir sagte, dass ich im Finale nicht in der Startelf stehen würde, schließlich hatte ich gegen Manchester das entscheidende Tor gemacht. Aber man muss auch sehen, was für eine Top-Mannschaft wir damals hatten: Kohler, Möller, Riedle, Chapuisat, Sammer. Und die waren im Finale in München alle fit und gesetzt. Und als wir dann schnell 2:0 in Führung gingen, hat mir das Spiel auch von der Bank aus Spaß gemacht. München lag uns: Hier hatten wir schon die Meisterschaft 1995/96 durch ein Unentschieden gegen die Löwen gesichert.
Meine Stärke ist sicher meine Flexibilität, ich kann auf vielen Positionen spielen, und so rechnete ich mit einem späten Einsatz. Damals gab es das Golden Goal noch, und Kohler hatte in einem Interview vorher noch gesagt: ›Wenn es einer macht, dann Lars.‹ Ich hatte mir einen Ruf als Mann für die wichtigen Tore erarbeitet. Ich weiß noch, wie mir schon von der Bank aus auffiel, dass Peruzzi oft weit vor dem Tor stand, und ich sagte zu den Jungs auf der Bank, dass ich meinen ersten Schuss blind aufs Tor hauen werde …
Erster Ballkontakt Sekunden nach der Einwechslung –
Rickens Tor zum Titel
In der Halbzeit war die Stimmung gut, aber natürlich auch trotz des 2:0 angespannt. Wir waren unter Druck, da wir in der Liga nicht gut dastanden und die Champions League als Chance sahen, um auch nächstes Jahr wieder international mit von der Partie zu sein. Juve drückte, es fiel der Anschlusstreffer. Dann wurde ich eingewechselt, lief ein paar Schritte, bekam den Ball von Möller in den Lauf gespielt und machte das, was ich mir vorgenommen hatte: den Ball aufs Tor hauen – und er ging rein. Fans sagten mir später immer wieder, dass sie sich entsetzt und mit Ausrufen wie ›Was macht der für einen Scheiß‹ abwandten – um dann in Jubel auszubrechen, als sich das Leder über Peruzzi hinweg ins Netz senkte. Für meine Ehrenrunde sah ich noch Gelb, doch das war mir herzlich egal. Ich spürte, das war die Entscheidung.
Auch wenn es das wichtigste Tor meiner Karriere war, betrachte ich es im Nachhinein relativ gelassen. Doch nicht immer. Es gab damals eine Live-Übertragung des Spiels auf dem Friedensplatz in Dortmund, und nach dem Anschlusstreffer von Juve interviewte ein Sender Fans, die schon etwas resignierten und mit dem Schlimmsten rechneten – und genau in solch ein Interview fällt mein Tor, und was dann folgt, ist unbeschreiblicher Jubel. Wenn ich sehe, wie ich die Menschen mit meinem Tor bewegt habe, wie wichtig der BVB für sie ist, dann läuft es mir schon kalt den Rücken herunter. Und viele Fans sprechen mich heute noch an und erzählen mir, wo und wie sie das Tor erlebt haben.«
Mannis Kommentar
Dortmund als schöne Stadt zu bezeichnen wäre eine Spur übertrieben. Es gibt ein paar hübsche Ecken, den Alten Markt, das Kreuzviertel mit einer ansehnlichen Kneipenszene beispielsweise. In Dortmund ist immer was los, hier kannst du auf dem Westenhellweg wunderbar einkaufen, im neuen Konzerthaus Musik hören; der riesige Weihnachtsmarkt präsentiert den höchsten Weihnachtsbaum der Welt. Dortmunder Bier gibt es trotz des Niedergangs der Brauereiwirtschaft immer noch.
Dortmund hat aber vor allem die Westfalenhalle, ein gigantisches Stadion und den BVB. Diesen Club liebt der Dortmunder abgöttisch, aber auch sonst sind die meisten der 580 000 Dortmunder große Lokalpatrioten, fast schon so wie die Kölner. Und damit wären wir beim Phänomen Lars Ricken. Lars ist ein typischer Dortmunder, stammt aus dem Arbeiterstadtteil Eving, und er wird aller Wahrscheinlichkeit nach später auch in Dortmund die Augen für immer schließen. Ricken gehört seit 1990 zum BVB, 301 Bundesligaspiele hat er für den Verein gemacht, er half entscheidend mit, die Champions League zu gewinnen, war bei den drei Meisterschaften 1995, 1996 und 2002 dabei und ist seit Juli 2008 Nachwuchskoordinator des Vereins. An diesem Zustand wird sich angesichts der ständigen Verlängerungen seines Vertrags nach menschlichem Ermessen auch nichts ändern. Ricken wurde früh hochgejubelt, gefeiert, gedemütigt, aussortiert, aber nie kam er ernsthaft auf die Idee, die Stadt und den Verein zu verlassen. Seine Verwurzelung und Bodenständigkeit weckt Erinnerungen an den Ur-Hamburger Uwe Seeler in den Sechzigerjahren.
Ricken startete 1994 als Wunderkind, verfolgt von kreischenden Teenies und Bravo-Redakteuren; er gab einen Heavy-Metal-Sampler namens »Lars Rickens Hot Shots« heraus. Dreizehn Jahre später versetzte ihn Trainer Thomas Doll, nachdem sich Ricken nach einem Kreuzbandriss wieder langsam herangekämpft hatte, in die Regionalligamannschaft. Selbst da hätte der Dortmunder noch die Chance gehabt, bei einem anderen Verein zu unterschreiben und es allen noch mal zu zeigen. Aber Lars Ricken blieb einfach da, wo er nach tiefster eigener Überzeugung hingehört. Ob das als bewundernswert oder lächerlich unflexibel gewertet werden muss, ist zweitrangig. Auf jeden Fall ist es authentisch.
Rickens größter Aufreger abseits des Fußballplatzes war 1997 der berühmte Nike-Werbespot, auf den er heute noch angesprochen wird. In dem auf bedeutungsschwanger gemachten Filmchen prangerte er die »Typen in Nadelstreifen« und »die Geschäftemacherei ohne Ende« im Fußball an. Das war dann nicht mehr ganz so authentisch, denn ein Rebell und Systemkritiker ist Lars Ricken nie gewesen. Die späte Pointe: Ricken gehört jetzt in seiner Funktion für den Ballspielverein Borussia 09 selber zur Nadelstreifenfraktion. Er kommentiert das lächelnd: »Wir müssen alle flexibel sein.«