Horst-Dieter Höttges

England, Weltmeister per Lattenschuss

Durch das umstrittene Wembley-Tor zum 3:2 im Finale am 30. Juli 1966 gegen Deutschland stellte England die Weichen auf WM-Sieg. Der Verteidiger Horst-Dieter Höttges lässt die Szene noch einmal Revue passieren:

»Das Halbfinale gegen die Sowjetunion musste ich von der Bank aus verfolgen, ich hatte mich am Knöchel verletzt. Es war meine erste WM und ich war enttäuscht, dass das Turnier für mich gelaufen schien. Aber wir erreichten das Finale, und auch wenn ich noch nicht wieder hundertprozentig fit war, hat mich Helmut Schön überredet, im Finale zu spielen. Überredet ist gut, welcher Spieler lässt sich ein WM-Finale schon entgehen? Zumal mit meinen erst 23 Jahren. Und im Turnier hatte ich bislang auch gut gespielt.

Im Finale gegen England dann aber nicht mehr. Mein Gegenspieler Geoffrey Hurst machte drei Tore, da kann man als Verteidiger nicht zufrieden sein. Eines davon wurde zum wohl berühmtesten und umstrittensten Tor der Fußballgeschichte. Mit einem 2:2 ging es in die Verlängerung, vielleicht waren wir dann etwas leichtsinnig wegen des späten Ausgleichs und fühlten uns im Vorteil. In der 101. Minute bekam dann Hurst den Ball im Sechzehner und zog ab. Von der Unterkante der Latte sprang der Ball auf den Boden und von dort wieder in den Fünfmeterraum zurück, Wolfgang Weber reagierte am schnellsten und köpfte ihn ins Aus. Die Frage war nur: War der Ball auf oder hinter der Torlinie aufgekommen?

Der Schweizer Schiedsrichter Gottfried Dienst wollte erst Eckball geben, schaute aber noch zu seinem sowjetischen Linienrichter. Der zeigte jedoch zum Mittelpunkt – dieser Geste vertraute der Schiedsrichter. Beraten konnten sich die beiden nicht, sie sprachen keine gemeinsame Sprache … Dienst entschied also auf Tor und stellte somit die Weichen für den englischen Sieg.

Aber war der Ball wirklich drin? Ich weiß es nicht, ich hatte den Rücken zum Tor gedreht und konnte es nicht sehen. Heute gilt es als erwiesen, dass der Ball die Torlinie nicht überschritten hat. Das ›Wembley-Tor‹ war also kein Tor. Damals mussten wir die Entscheidung jedoch akzeptieren, und das taten wir und warfen noch mal alles nach vorne. England nutzte das aus, erhöhte auf 4:2 und holte sich den Titel.

Natürlich waren wir enttäuscht, wir hatten unser Ziel nicht erreicht, aber Helmut Schön lobte unseren Kampfgeist, in Deutschland wurden wir jubelnd empfangen. Und auch ich bekam meine Revanche: Im Qualifikationsspiel 1972 in London trafen wir wieder auf die Engländer, wieder war Hurst mein Gegenspieler – und diesmal schaltete ich ihn so gut aus, dass er zur Halbzeit ausgewechselt wurde. Wir gewannen 3:1. Und wir wurden später dann auch Europameister.«

Wembley-Tor – ein Etappensieg im Kalten Krieg?

Mannis Kommentar

Es gibt kein Ereignis im Weltfußball, um das sich so viele Geschichten und Legenden ranken wie um das Wembley-Tor. Dass der Ball nicht drin war, muss seit 2008 als geklärt gelten. Damals tauchte ein Video eines Schweizer Hobbyfilmers auf, der im Stadion seitlich kurz vor der Torauslinie gesessen haben muss. Die Bilder sind sehr eindeutig. Das unterscheidet sie vom höchst unterschiedlichen Meinungsbild in den vierzig Jahren vorher. Am skurrilsten war am Tag nach dem Finale die Wortmeldung des schon etwas tüddeligen deutschen Staatsoberhauptes Heinrich Lübke, der den Ball im Tor gesehen haben wollte. Diese Meinung verband ihn mit den Reportern der Jungen Welt, der Zeitung der DDR-Jugendorganisation FDJ. »Der Ball sprang hinter die Torlinie und dann durch Effet-Wirkung wieder ins Feld«, schrieben die linientreuen (!) Sozialisten. Auch der Sport wurde damals von beiden Seiten missbraucht, um die Überlegenheit der jeweiligen Staats- und Gesellschaftsordnung zu belegen. Deshalb wäre es undenkbar gewesen, dass die Junge Welt-Schreiber den Ball vor der Linie gesehen hätten. Als Willi Daume, der Präsident des bundesdeutschen Nationalen Olympischen Komitees, die Kugel öffentlich nicht im Tor sah, wurde er umgehend vom SED-Organ Neues Deutschland zum »Kronzeugen der kalten Fußballkrieger« befördert.

Auf diesem ideologisch gedüngten Boden gedeihen auch die Verschwörungstheorien rund um den schnauzbärtigen Linienrichter Tofik Bachramow aus der damaligen Sowjetrepublik Aserbaidschan. Schon seine Teilnahme am Finale soll er sich durch die Gabe von zwei Dosen Kaviar an einen FIFA-Funktionär gesichert haben. Die Frage, warum er dem Schweizer Schiedsrichter Gottfried Dienst »Is Gol, Gol, Gol!« zugerufen haben soll, beantwortete er mal so, mal so. Besonders beeindruckend war seine Aussage, er habe auf Tor entschieden, nachdem er die euphorischen Reaktionen der Engländer und die Niedergeschlagenheit der Deutschen gesehen habe. Kurz vor seinem Tod 1993 soll in einem In­terview das Wort »Stalingrad« gefallen sein. Durften die Deutschen nicht gewinnen, weil sie den Krieg vom Zaun gebrochen und großes Leid über die Völker der Sowjetunion gebracht hatten?

Auf all die wahnwitzigen Geschichten und Legenden müssen wir schon seit geraumer Zeit verzichten. Heute macht das magische Auge »Piep« und der Drops ist gelutscht. Womit wieder einmal der Beweis erbracht wird, dass der technische Fortschritt auch ein Angriff auf das pralle und bunte Leben sein kann.