Der Himmel über Belgrad
Beim EM-Finale 1976 erzielt die deutsche Mannschaft in sprichwörtlich letzter Sekunde gegen die Tschechoslowakei den Ausgleich zum 2:2, was zur Verlängerung und schließlich zum entscheidenden Elfmeterschießen führt. Uli Hoeneß schießt seinen Elfmeter über das Tor, die Tschechoslowaken verwandeln den folgenden und werden so Europameister.
»Ein Jahr nach der gewonnenen Weltmeisterschaft 1974 begannen meine Knieprobleme. Bis dahin gehörte ich ja zu den schnellsten Stürmern der Welt. Zu den Finalspielen der Europameisterschaft 1976 war ich nicht mehr schmerzfrei, nicht mehr so locker und unbekümmert. Natürlich war ich glücklich, überhaupt dabei zu sein. Aber wie es immer am Ende einer Saison ist, nach vielen Spielen: Du bist müde und hast nicht mehr so viel Kraft. Und das Halbfinale gegen Jugoslawien, das wir noch 4:2 gewonnen hatten, war zusätzlich anstrengend, weil es auch in die Verlängerung ging.
Das Finale kam, und es wäre für uns also unbedingt notwendig gewesen, in der regulären Spielzeit zu gewinnen. Nun gut, es kam anders, Bernd Hölzenbein köpfte uns in der letzten Sekunde in die Verlängerung, und so kam es schließlich zum Elfmeterschießen.
Eigentlich wollte ich nicht schießen. Kein Mensch hatte vorher abgesprochen, wer im Falle des Falles schießen sollte. Franz Beckenbauer kam zu mir und sagte, ich solle antreten, immerhin war ich ’74 gesetzt gewesen als Elfmeterschütze Nummer eins. Seinerzeit war ich aber froh bis zum Anschlag, dass sich Paul Breitner im Endspiel den Ball schnappte.
Kurzum, Franz wollte, dass die Erfahrenen die Verantwortung übernehmen. Eigentlich weiß ich nur noch, dass ich von der Mittellinie aus losgelaufen bin, weder links noch rechts schauend und so gut es ging konzentriert auf den Kampf mit dem Torwart. Alles andere drumherum bekommt man ja sowieso nicht mit. Ich wollte draufhauen, richtig draufhauen – und habe verzogen. So was passiert. Hannes Bongartz, mein Zimmerkollege, war als Erster bei mir. Er wollte mich aufmuntern. Vorwürfe anderer Spieler gab es nicht, natürlich nicht. Ich kenne keinen Profi, der einem anderen in so einer Situation einen Vorwurf macht.«
Mannis Kommentar
Uli Hoeneß’ größter Fehlschuss war zweifelsohne nicht der Elfmeter von Belgrad, sondern seine Steuerstraftat, derentwegen er zu dreieinhalb Jahren Freiheitsstrafe verurteilt wurde. Selbstverständlich lässt sich sein Lebenswerk aber nicht darauf reduzieren. Er war ein großartiger Spieler in einem erfolgreichen Bayern-Team und in der Nationalmannschaft, und vor allen Dingen war er jahrzehntelang das Maß aller Dinge beim Berufsbild des deutschen Fußballmanagers. Als er 1979 als Manager anfing, hatte der FC Bayern München einen Umsatz von zwölf Millionen Mark und zwanzig Mitarbeiter; vierzig Jahre später wurden mehr als 700 Millionen Euro umgesetzt, und rund tausend Menschen verdienten bei den Bayern ihre Brötchen. Hoeneß schaffte es, durch geschickte Personalpolitik und erfolgreiches Wirtschaften den Verein über Jahrzehnte an der Spitze der Branche zu halten. Das kann ihm keiner nehmen, und zu seinen Gunsten darf auch angenommen werden, dass er ein Kümmerer war, der die Mitglieder der »Bayern-Familie« auch in Krisensituationen nicht im Stich ließ.
Was sein öffentliches Bild allerdings schon immer eintrübte, war seine hemmungslose und oft arrogante Parteinahme, wenn es um die Belange seines Vereins ging. Es gab genug Phasen, da goss er in jedes lächerliche Flämmchen noch einen Kanister Öl. Er stellte abstruse Behauptungen auf wie die, dass die Schiedsrichter in der Bundesliga dazu neigten, Bayern München zu benachteiligen. Er lieferte sich Scharmützel mit Willi Lemke, Christoph Daum und allen anderen, die es wagten, der »offiziellen« Sicht der Dinge aus Bayern-Perspektive zu widersprechen. Und er war auch so etwas wie ein Pate der Szene; wer im deutschen Fußball was werden wollte, tat gut daran, es sich nicht mit Hoeneß zu verderben. Denn seine Expertise bei der Berufung von Trainern und Managern war begehrt.
Eine solche Position erzeugt auch ein gigantisches Selbstbild, und so war es wenig überraschend, dass der Fußballmanager irgendwann begann, in den TV-Talkshows den moralischen Leitwolf zu geben, der für saubere Verhältnisse in Wirtschaft und Politik stritt. Und dann kam der große Knall, mit dem sich der Saubermann selbst zerstörte. Hinterzogene Steuern, die sich scheibchenweise von ursprünglich 3,5 Millionen auf die Summe von 28,5 Millionen Euro auftürmten. 21 Monate seiner Haftstrafe musste Uli Hoeneß absitzen.
Wer geglaubt hatte, damit sei seine Karriere im Club vorbei, wurde eines Schlechteren belehrt. Die überwiegende Mehrheit der Bayern-Fans und -Mitglieder hatte ohnehin durchgängig die These vertreten, ein so erfolgreicher und gutherziger Mann dürfe wegen eines Steuerdeliktes nicht ins Gefängnis geschickt werden. Ein grausamer Beweis dafür, dass die Regeln des Rechtsstaates nicht in allen Bereichen der Gesellschaft angekommen sind.
Und Uli Hoeneß tat nichts, um diese Sicht zu korrigieren. Er sprach verharmlosend von einem »Fehler«, den er gemacht hätte; er brachte auch vorübergehend den Begriff »Demut« ins Spiel. Um dann bei einem Galadiner ausgerechnet im Steuerparadies Liechtenstein das Scheingebäude von Reue und Einsicht komplett platt zu machen: »Ich bin zu Unrecht verurteilt worden«, sagte er und bezog sich dabei auf die vom Gericht als unvollständig und fehlerhaft eingeordnete Selbstanzeige. »Ein Freispruch wäre völlig normal gewesen. Aber in diesem Spiel habe ich klar gegen die Medien verloren.« Vorhang.
Die Bayern-Mitglieder honorierten diese abstruse Fehleinschätzung im November 2018 mit Hoeneß’ Wiederwahl zum Präsidenten. Die Zustimmung betrug 97,7 Prozent der Stimmen. Ich halte das nur vordergründig für einen Triumph; seine Rückkehr ist ein weiterer moralischer Tiefpunkt in seinem Leben. Uli Hoeneß hält sich für einen unantastbaren Riesen, dem Konsequenzen aus eigenem schwerem Fehlverhalten fremd sind. Typisch dafür ist unter anderem, dass er den Regelbruch zwar zurückhaltend und verharmlosend eingestand, sich selber aber letztlich als Opfer der Umstände oder – wie hier – »der Medien« stilisierte.
Darf einer, der als Herold der öffentlichen Sauberkeit durch die Medien gezogen ist, nach einer schweren, die Gemeinschaft schädigenden Straftat in ein bedeutendes Amt mit Vorbildcharakter zurückkehren? Formaljuristisch darf er das, da gibt’s keinen Zweifel. Aber wenn jemand noch Werte in sich trägt, dann verzichtet er darauf und bewegt sich hinter den Kulissen und nicht mehr auf der großen Bühne. Für Uli Hoeneß wäre das mit 66 Jahren ein Leichtes gewesen, wahrscheinlich hätte er sogar noch eine große Portion Einfluss behalten. Aber der Pate des FC Bayern mit seinem gigantischen Selbstverständnis war dazu nicht in der Lage. Das spricht gegen ihn und beschädigt massiv sein in vielen Punkten respektables Lebenswerk.