Des Kaisers zweite Krönung
Am 8. Juli 1990 wird Deutschland durch ein Elfmetertor von Andreas Brehme gegen Argentinien in Rom Weltmeister. Teamchef Franz Beckenbauer genießt den großen Augenblick – allein am Mittelkreis. Werfen wir noch einmal einen Blick in die Presse.
»Ein letztes Mal grätscht Buchwald im Mittelfeld Maradona den Ball weg. Kurz darauf pfeift Schiedsrichter Mendez mit zackiger Geste nach 94 Spielminuten um 21.50 Uhr ab. Deutschland ist Weltmeister – zum dritten Mal nach 1954 und 1974! Beckenbauer nimmt seine übergroße, getönte Brille ab, umarmt Co-Trainer Holger Osieck. Spieler und Betreuer stürmen jubelnd das Spielfeld und bilden einen großen Haufen.
Nach und nach geht Beckenbauer durch die Reihen und gratuliert jedem Spieler. Mit weit aufgerissenen Augen umarmt der Teamchef Klinsmann, dem die Freudentränen in den Augen stehen. […]
Die Argentinier stehen enttäuscht am Spielfeldrand und trösten ihren weinenden Kapitän Maradona. […]
Dann ist es so weit. FIFA-Präsident Havelange überreicht Matthäus den Weltpokal. Der Kapitän küsst den goldenen Cup und dreht sich dann jubelnd zur Mannschaft um. Nach und nach wandert der Pokal durch die Hände der Spieler, die danach zur Ehrenrunde im Stadion starten.«
(aus dem Internet-Portal www.sporthelden.de)
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Minuten sind seit dem Schlusspfiff vergangen, die Spieler laufen mit dem Pokal durchs Rund. Auf der Tribüne des Olympiastadions von Rom gratulieren Staatsgäste aus aller Welt Kanzler Helmut Kohl und Bundespräsident Richard von Weizsäcker. Schwarz-Rot-Gold ist Weltmeister. Der dritte WM-Sieg hat etwas Leichtes, nicht mehr nur Erkämpftes, Erzwungenes. Allein der Teamchef wirkt seltsam entrückt. Franz Beckenbauer durchmisst den Mittelkreis des Spielfelds und in diesen Sekunden wohl auch sich selbst. Geht noch mehr im Leben eines Fußball-Menschen?«
(aus der Serie »60 Jahre Bundesrepublik« auf www.stern.de)
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Der Kaiser war zum zweiten Mal gekrönt worden. Weltmeister als Spieler (1974) und jetzt als Teamchef – das hatte zuvor nur Brasiliens Mario Zagallo geschafft.«
(aus der Serie »Fußball WM 2006« auf www.faz.net)
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Warum ich mutterseelenallein über den Rasen des Olympiastadions spaziert bin? Das kann ich bis heute nicht erklären. Es war einfach eine Intuition. Ich bin damals aufgewacht wie aus einem Traum, an den man sich nicht mehr erinnern kann. Doch es ist ein wunderschöner Traum gewesen.«
(aus einem Interview mit dem Journalisten Wolfgang Golz
auf der Website der Bundesregierung zur WM 2006)
Mannis Kommentar
»Wenn der Franz aus dem Fenster fällt, fliegt er nach oben«, sagte Sepp Maier einmal. Was der Kaiser anfasste, wurde augenblicklich zu Gold. Eine unantastbare Medienfigur, wie sie Deutschland zuvor noch nicht erlebt hatte. Geschaffen und gepflegt vor allem von seinen Freunden bei der Bild-Zeitung. Es gab Menschen, die tatsächlich glaubten, es brächte Glück, ihn zu berühren.
Spieler, Trainer, Funktionär, Werbefigur (»Jo, is denn heut scho Weihnachten?«), Zeitungskolumnist, Fernsehexperte – den Höhepunkt der Allgegenwärtigkeit erreichte Beckenbauer während der WM 2006, als er per Helikopter durch Deutschland (»Sieht von oben aus wie ein Paradies.«) schaukelte und auf diese Art 48 WM-Spiele schaffte. Nach Schätzungen brachte es der Kaiser jährlich auf mehr als 20 Millionen Euro Werbeeinnahmen. Selbst die Hubschrauberaktion war gesponsert, von der Fluglinie Fly Emirates.
Die verzweifelte Suche nach Fehlern, Skandalen und Kritikpunkten war für die professionellen Bedenkenträger lange Zeit hoch frustrierend. Okay, er hätte sein Geld als deutsche Lichtgestalt auch in Deutschland versteuern können und nicht in Tirol. Aber das nahm ihm ernsthaft keiner außer dem deutschen Finanzminister übel.
Beckenbauers wechselhaftes Verhältnis zum anderen Geschlecht, die riesenhaft aufgemachte Geschichte über das nichteheliche Kind im August 2000? »Jo mei«, sagte der Kaiser dazu, »der liebe Gott freut sich doch über jedes Menschenkind.« Wer soll denn an der Stelle noch »Skandal!« schreien und sich moralisch erregen?
Einen Schwachpunkt in der Außendarstellung hatte Franz Beckenbauer: Er machte zwar ständig Bella Figura, aber als Experte oder Interviewpartner verhakelte er sich in Widersprüche oder bewegte sich in der langen, rätselhaften Tiefebene des Ungefähren. Unvergessen der Dialog mit Günther Jauch: »Wie ist denn Ihre Prognose?« Beckenbauer: »Ja gut, es gibt nur eine Möglichkeit: Sieg, Unentschieden oder Niederlage.« Oder die nicht zu widerlegende Feststellung: »Am Spielstand wird sich nicht mehr viel ändern, es sei denn, es schießt einer ein Tor.«
Und dann, im Jahr 2015, begann auf einen Schlag die grausame Entzauberung des Kaisers. Der Spiegel kam mit einer Geschichte über dubiose Geldzahlungen und eine schwarze Kasse rund um das Sommermärchen 2006 auf den Markt. Mittendrin in den Geldströmen, die beispielsweise an einen dubiosen FIFA-Funktionär in Katar flossen: der Chef des WM-Organisationskomitees Franz Beckenbauer. Des Kaisers Freund, der Ex-Adidas-Chef Robert Louis-Dreyfus, soll mit einem Darlehen über 6,7 Millionen Euro behilflich gewesen sein. Ziel soll gewesen sein, die vier asiatischen Stimmen für die Abstimmung über das WM-Land 2006 zu sichern. Der Plan ging auf, Deutschland gewann knapp mit 12:11 Stimmen gegen den vermeintlichen Favoriten Südafrika.
Beckenbauer bezeichnete die Skandalberichte immer wieder als »erstunken und erlogen«, für ein Strafverfahren hätten die Beweise auch nicht ausgereicht. Aber der kaiserliche Ruf als gottähnliches, über allen irdischen Dingen schwebendes Wesen war lädiert. Zumal auch noch bekannt wurde, dass er nicht etwa ehrenamtlich, wie immer wieder behauptet wurde, als Chef-Organisator bei der WM 2006 tätig gewesen war. Er soll 5,5 Millionen Euro kassiert haben und konnte erst vier Jahre später überredet werden, das Honorar zu versteuern. Nach einer Betriebsprüfung durch das Finanzamt Frankfurt.
Beckenbauer zog sich tief verletzt aus der Öffentlichkeit zurück. Auch seine Gesundheit streikte, 2016 bekam er vier Bypässe gelegt. Der Tod seines Sohnes Stephan mit 46 Jahren durch einen Gehirntumor nahm ihn sehr mit. Mittlerweile greift er schon mal wieder ins mediale Geschehen ein; er kritisierte zum Beispiel den abrupten Rauswurf der Bayern-Spieler Müller, Hummels und Boateng aus der Nationalmannschaft. Aber der unantastbare Strahlemann Franz Beckenbauer, der zur Entfaltung seiner Wirkung noch nicht einmal den Mund aufmachen muss, ist endgültig Vergangenheit.