Béla Réthy

Mit Arroganz gegen Südkorea – das WM-Vorrundenaus 2018

Am 27. Juni 2018 durfte die deutsche Nationalmannschaft eine neue Erfahrung machen: Nach einem 0:2 gegen Südkorea war die Vorrunde bei der WM in Russland Endstation. Vor dem Turnier hatten sich alle über die »machbaren« Gegner Mexiko, Schweden und Südkorea gefreut. Béla Réthy musste das »Desaster von Kasan« für das ZDF kommentieren. Er erinnert sich:

»Dieses Spiel war ein historischer Tiefpunkt: Zum ersten Mal schied eine deutsche Nationalmannschaft in der WM-Vorrunde aus. Aber es war keine beispiellose Katastrophe, denn schon bei den vorhergehenden Turnieren flogen vier der letzten fünf Weltmeister nach den Gruppenspielen schnell wieder nach Hause. Ein eher schwacher Trost. In meiner Kommentatorenkarriere seit der USA-WM 1994 war es nur noch schlimmer, als sich bei der Europameisterschaft 2000 in den Niederlanden und Belgien Erich Ribbecks Team gegen eine B-Mannschaft der bereits qualifizierten Portugiesen frühzeitig verabschiedete. Vor dem Südkorea-Desaster in Kasan war ich eigentlich sehr ­sicher: Wir schlagen die. Ich setzte ganz auf den Impuls, den der 2:1-Sieg gegen Schweden in der Nachspielzeit – nach vorhergehender Niederlage gegen Mexiko – vermeintlich ausgelöst hatte. Meine Kollegen rechneten schon während des Spiels, wer denn der nächste Gegner in der K. o.-Phase sein würde …

Schon nach der ersten Halbzeit hatte ich ein ungutes Gefühl. Es war ein ideenloses, biederes Spiel, es gab kaum echte Chancen, und die Signale, die von den Spielern kamen, waren nicht gut. Da wurde gemeckert und abgewinkt, ein guter Teamgeist sieht anders aus. Trotzdem war ich immer noch der Meinung: Die beißen sich irgendwie durch, ganz im Sinne der oft zitierten alten deutschen Fußballtugenden. Die Deutschen mussten allerdings gewinnen, zumal die Schweden im Parallelspiel gegen Mexiko in Führung gegangen waren. Meine Hoffnungen endgültig begraben habe ich vier Minuten vor Schluss, als Mats Hummels nach Flanke von Özil am Fünfmeterraum frei zum Kopfball kam. Er traf den Ball nicht richtig, irgendwie war da auch die Schulter im Spiel – jedenfalls war die letzte große Siegchance vertan.

Es wurde dann sechs Minuten nachgespielt, in der zweiten Minute der Nachspielzeit ging Korea in Führung; sie setzten dann noch eins drauf, als das deutsche Tor leer war, weil der verzweifelte Manuel Neuer in der koreanischen Hälfte herumturnte. Endstand: 0:2! Eine vollkommen neue und bittere Erfahrung für die deutschen Nationalspieler.

Es gab eine Menge Gründe dafür, dass das Russland-Abenteuer schiefgehen musste, auch jenseits der rein fußballerischen Ebene. Mir fiel beispielsweise die Selbstverständlichkeit, ja Arroganz auf, mit der die Vorrunde gegen vermeintliches Mittelmaß aus Mexiko, Schweden und Südkorea angegangen wurde. Da musste sich der Weltmeister von 2014 ja nun wirklich keine Sorgen machen! Außerdem habe ich bei der Kaderzusammenstellung und später bei den Aufstellungen diverse Fehlentscheidungen gesehen. Schon die Festlegung auf den lange Zeit verletzten Neuer – gegen den mindestens gleichwertigen ter Stegen – hat das Leistungsprinzip außer Kraft gesetzt. So etwas kann auch Auswirkungen auf das Klima in der Mannschaft haben. Nach der Mexiko-Niederlage nahm Jogi Löw Özil und Khedira berechtigterweise raus, gegen Korea waren sie allerdings wieder drin. Timo Werner wurde überwiegend in der Mitte eingesetzt; dabei ist bekannt, dass er richtig gut ist, wenn er über den Flügel kommt. Der formstarke Julian Brandt musste überwiegend auf der Bank schmoren.

Ja, da lief schon so einiges schief mit der Nationalmannschaft in Russland. Deswegen war das frühe Ausscheiden konsequent und vollkommen berechtigt.«

Löw, zum Erfolg verdammt

Mannis Kommentar

Die Fußballpatriarchen sind eine aussterbende Spezies. Die knorrigen Präsidenten, bei denen Widerspruch am Ende immer zwecklos ist. Heute tarnen sich die Mächtigen im Fußball gerne, indem sie über Streitkultur und flache Hierarchien reden. Indem sie sogenannte Leitbilder verabschieden, in denen von Transparenz und angstfreier Kritik gefaselt wird. Vielleicht meinen es manche Führungskräfte sogar ernst, wenn sie den offenen Umgang mit Fehlern und die Bereitschaft propagieren, Verantwortung zu übernehmen. Wenn es aber eng wird, wenn tatsächlich mal persönliche Konsequenzen aus gravierendem Fehlverhalten gezogen werden müssten, dann brechen sehr schnell die eingeübten Verhaltensmuster wieder durch: Tricksen, Taktieren und Täuschen, notfalls die offene Machtausübung.

Ähnliches – ohne brutale Machtdemonstration allerdings – geschah beim Umgang mit dem WM-Desaster 2018. Wie hätte die Aufarbeitung des Vorrunden-Aus optimal laufen können? Weil die Bruchlandung so desaströs war, wären die Rücktritte des Bundestrainers und des Sportdirektors auf jeden Fall eine Möglichkeit gewesen. Zuvor hätte es – unter Führung des DFB-Präsidenten Grindel – eine umfassende Fehleranalyse geben müssen. Und zwar ziemlich bald nach dem WM-Ausscheiden. Danach hätte die Frage beantwortet werden können, ob das Versagen der Führungskräfte so krass war, dass ein Rückzug von Löw und/oder Bierhoff unausweichlich gewesen wäre. Hätte sich der DFB für einen Verbleib des Führungspersonals entschieden, wäre es als Nächstes um nötige Veränderungen in den Strukturen und Strategien der Nationalmannschaft gegangen. Das, genau in dieser Reihenfolge, wäre eine saubere und stringente Aufarbeitung des WM-Turniers in Russland gewesen. Lauter Konjunktive allerdings …

Was passierte stattdessen? Schon vor der Weltmeisterschaft gab es eine Verlängerung des Löw-Vertrages bis 2022 inklusive einer Jobgarantie unabhängig vom Ausgang der WM. Dieses »Weiter so« wurde wohl unmittelbar nach dem Südkorea-Spiel vom DFB-Präsidenten noch einmal erneuert. Was dazu führte, dass Grindel sich plötzlich in einer Art Bittstellerposition wiederfand. Weil Jogi Löw fünf Tage für die interne Mitteilung benötigte, er sei bereit weiterzumachen. Dann folgten neun Wochen, in denen der Bundestrainer in sich ging und sonst nichts passierte. Da sollte ganz klar, unter Duldung der DFB-Spitze, eine Schicht Gras über die Sache wachsen. Es wäre schon sehr blauäugig, an irgendwelche konstruierten anderen Gründe für die stark verzögerte »Aufarbeitung« zu glauben. Dann endlich ging der Bundestrainer mit einer Analyse an die Öffentlichkeit, sagte dreimal laut »Mea culpa« (falsche Taktik, mangelnde Einsatzbereitschaft, Überbetonung des Ballbesitzfußballs), setzte minimale Veränderungen im Apparat in Gang – und machte unter stärkerer Berücksichtigung junger Spieler weiter. Im März 2019 folgte noch die etwas seltsame Expedition nach München zwecks Verbannung der Herren Boateng, Müller und Hummels aus der Nationalmannschaft. Dass Löw und Bierhoff ihre Ämter verlieren würden, war zu keinem Zeitpunkt eine Option.

Dieses Krisenmanagement, bei dem die Kontinuität in der Führung der Nationalelf offenbar oberste Priorität hatte, war aus meiner Sicht absolut unangemessen. Es kann nicht sein, dass die Positionen der Verantwortlichen nach einem solchen Tiefpunkt von vorneherein unantastbar sind. Das war so ganz nebenbei auch ein Beleg für die starke interne Macht des Duos Löw/Bierhoff. In der öffentlichen Einschätzung sind diese beiden alles andere als unangefochten. Bierhoff gilt als »geleckter« Businessmann, dem die Nationalmannschaft keine Herzenssache ist. Zu Jogi Löw hatten die Fans und die Medien schon immer ein eher distanziertes Verhältnis; er war nie richtig populär und gilt als etwas skurril. Durch den WM-Titel 2014 wurden die Kritiker vorübergehend zum Schweigen gebracht. Dieser WM-Bonus ist aber aufgebraucht. Durch die Tricksereien rund um den Erhalt seines Arbeitsplatzes wurde seine Schonzeit noch verkürzt. Das wurde nach dem 2:4 gegen die Niederlande in der EM-Qualifikation im September 2019 mehr als deutlich, als ein Sturm der Ablehnung durch die professionellen und die »sozialen« Medien raste.

Mehr als viele andere Fußballtrainer ist Löw mittlerweile zum Siegen verdammt. Das ist auf der einen Seite ungerecht, weil die Einschätzungen seiner Person oft gar nicht an seine fachlichen Qualitäten anknüpfen. Andererseits tragen er und die DFB-Spitze durch den unseriösen Umgang mit dem Ausscheiden bei der WM in Russland die Mitverantwortung dafür, dass zumindest der sportliche Leiter der Nationalmannschaft nach dem Sommer 2018 ein Dauer-Wackelkandidat wurde. Noch schlimmer war es nach dem 0:6 gegen Spanien im November 2020. Da hielt es die DFB-Führung sogar für angebracht, ein öffentliches Bekenntnis zum Bundestrainer abzulegen.