Bayerns grausamste Sekunden
In Barcelona standen sich am 26. Mai 1999 Bayern München und Manchester United im Champions-League-Finale gegenüber. Bayern führte 1:0, gab den Titel jedoch durch zwei Gegentore in der Nachspielzeit aus der Hand. Mario Basler denkt zurück an »Bayerns grausamste Minute«:
»Es war schon eine außergewöhnliche Stimmung im Vorfeld des großen Finales in Barcelona – Anspannung, Nervenkitzel, Vorfreude, alles war dabei. Allein das Abschlusstraining im großartigen Stadion Camp Nou zu absolvieren – großartig. Unglaublich waren auch die Menschenmassen, die am Finaltag, einem Mittwoch, ins Stadium strömten: 90 000 Menschen füllten das Rund aus. Als wir schließlich aufliefen, hatte ich richtig Gänsehaut.
Einen Favoriten auf den Pokalsieg gab es eigentlich nicht. Unser Siegeswille war jedoch enorm, wir wollten den Titel unbedingt, und so spielten wir dann auch. In der 6. Minute zirkelte ich einen Freistoß um die Mauer herum ins Netz – 1:0. Danach beherrschten wir das Spiel mehr oder weniger und hatten weiterhin die besseren Chancen, auch Pfosten- und Lattentreffer von Scholl und Jancker.
Aber der Fußballgott hatte kein Einsehen. Es folgten die wohl dramatischsten Schlussminuten, die ein Europacup-Finale je gesehen hat. Drei Minuten Nachspielzeit, zwei Gegentore in der 91. und 93. Minute. Zunächst das 1:1 durch den eingewechselten Sheringham, wenig später lenkte der ebenfalls eingewechselte Solskjaer einen Kopfball von Sheringham nach einer Ecke von David Beckham ins Tor zum 2:1. Wir machten uns ein sensationelles Spiel selbst kaputt, vielleicht waren wir schon in Gedanken mit den Händen am Pokal. Unfassbar.
Wir waren fertig und wollten nur noch nach Hause. Ich ging direkt in die Kabine, ich wollte für mich sein; kurz darauf kamen auch Beckenbauer und Rummenigge. Meine Medaille brachte man mir mit. Die Mitspieler erzählten noch, dass beiden Mannschaften von beiden Fangruppen für dieses furiose Finale zugejubelt wurde – das ist alles andere als selbstverständlich, wenn deutsche und englische Teams aufeinandertreffen. Später gab es noch eine Gala. Je später es wurde, desto mehr hellte sich allerdings unsere Stimmung auf. Letztlich feierten wir sogar länger als die Engländer.
Am nächsten Tag ging es zurück und ohne großen Empfang in München direkt weiter, denn am Samstag folgte das letzte Saisonspiel gegen Leverkusen. Die deutsche Meisterschaft war uns zumindest nicht mehr zu nehmen, immerhin.«
Mannis Kommentar
Der Schmerz der Bayern-Fans war ähnlich grenzenlos wie zwei Jahre später das Leid der Schalke-Anhänger nach dem Bundesligafinale 2001. Im riesigen ManU-Block hingegen explodierte die überschwängliche Freude der 40 000 Fans. Das erste Triple einer englischen Mannschaft, und das alles in einem Marathon der Emotionen binnen zehn Tagen!
Am 16. Mai holte ManU in einem engen Meisterschaftsfinale mit einem 2:1 gegen die Tottenham Hotspurs den Titel in der Premier League, einen Punkt vor Arsenal London. Sechs Tage später der Pokalsieg in Wembley, Newcastle United wurde mit 2:0 nach Hause geschickt. Damit war das dritte Double innerhalb von fünf Jahren perfekt. Und dann die Nacht von Barcelona, ein schwaches Spiel der Ferguson-Truppe, die späte Einwechslung von Sheringham und Solskjaer, der Doppelschlag in der Nachspielzeit durch ebendiese beiden.
»Die besten zwei Minuten in der Geschichte des Sports«, jubilierte der Daily Mirror. Der englische Fernsehkommentator wurde biblisch: »Manchester United have reached the promised land!«, brüllte er ins Mikrofon. The Express erhob die dreizehn Spieler zu »Fergusons Göttern«. Die Götter hatten die Bayern mit deren eigenem Rezept für alle Fälle geschlagen: nie aufgeben, kämpfen bis zum Ende, das Unmögliche doch noch möglich machen. Dabei ging Manchester gehandicapt ins Finale: Mit Paul Scholes und Roy Keane fehlten zwei Schlüsselspieler gelbgesperrt, die Mannschaft – ohnehin durch die beiden vorangegangenen Finalspiele geschwächt – hatte ihren Zenit eigentlich schon überschritten. Das Durchschnittsalter lag bei über 27 Jahren, keiner auf dem Platz war unter 24.
Aber das knorrige Trainerdenkmal Alex Ferguson – seit 1986 im Amt! – hatte vor der Saison für viel Geld zwei Goldstücke nach Old Trafford geholt: Das Abwehrbollwerk Jaap Stam kam für umgerechnet 17 Millionen Euro von PSV Eindhoven, und Dwight York, der Torjäger von Aston Villa, kostete sogar noch mehr: 19,2 Millionen legte Manchester für ihn auf den Tisch. York und sein Sturmpartner Andy Cole schossen in der Saison 53 Tore. Aber im Finale mussten es die Einwechselspieler richten.
Am Finaltag wäre Matt Busby neunzig Jahre alt geworden, das verlieh dem Thriller von Barcelona die historische Dimension. Manager Busby stand für den Europapokalsieg 1968, danach war Manchester kein europäischer Triumph mehr gelungen. Busby betreute United schon Ende der Fünfziger, mit den »Busby-Babies« erlebte (und überlebte) er den Flugzeugabsturz von München. Am 7. Februar 1958 starben auf dem Rückflug von einem Europapokalspiel in Belgrad acht Spieler in den brennenden Flugzeugtrümmern.
Nach dem Finale von Barcelona musste Manchester United nur sieben Jahre auf den nächsten europäischen Titel warten. 2008 gewann ManU gegen den Liga-Konkurrenten Chelsea die Champions League mit 6:5 im Elfmeterschießen. Und der Trainer hieß immer noch Alex Ferguson. Er blieb bis 2013, insgesamt 27 unglaubliche Jahre. 2013 wurde United auch noch einmal Meister. Der bislang letzte europäische Titel war der Gewinn der Europa League 2017. Innerstädtisch dominieren seitdem die Blauen von Manchester City. Sie haben den noch potenteren Geldgeber gefunden.