Guido Winkmann

Elfmeter in der Halbzeitpause

Die Bundesligapartie Mainz gegen Freiburg am 16. April 2018 war eines der umstrittenen Montagsspiele. Das Abstiegsduell blieb aber aus einem anderen Grund unvergesslich: Schiedsrichter Guido Winkmann ließ einen Handelfmeter für die Mainzer in der Halbzeitpause ausführen. Der Unparteiische berichtet über die skurrile Kapriole des Videobeweises:

»Der ungewöhnliche Elfmeter in der Halbzeitpause war ja nur ein Teil eines aufregenden Fußballabends. Denn es handelte sich bei der Partie Mainz gegen Freiburg um ein Montagabendspiel. Gegen Erstliga-Begegnungen am Montag gab es von Anfang an Fanproteste. Im Falle Mainz-Freiburg hatten sich Fans aus beiden Lagern schon am Samstag zuvor im alten Mainzer Stadion am Bruchweg getroffen, um unter dem Motto ›Samstag 15.30 Uhr‹ einen Freundschaftskick auszutragen. Am Spielabend selber gab es Protestplakate und, im Innenraum hinter der Torauslinie, überdimensionale Buchstaben, die die Parole ›Gegen Montagsspiele‹ bildeten. Die Fans mussten vor dem Anpfiff den Innenraum natürlich verlassen, deshalb fing das Spiel ohnehin mit ein paar Minuten Verzögerung an. Später gab’s noch Würfe von unzähligen Klopapierrollen auf das Tor vor der Mainzer Fantribüne. Außerdem begleiteten die Anhänger beider Mannschaften das Spiel über die volle Distanz mit Tröten und Trillerpfeifen, die einen ähnlichen Sound wie damals die Vuvuzelas bei der WM in Südafrika erzeugten.

Ein Nebeneffekt dieser Geräuschkulisse war, dass die Funkkommunikation mit der Videozentrale problematischer wurde. Die war zu dem damaligen Zeitpunkt ohnehin noch verbesserungswürdig, manchmal etwas leise, teilweise unverständlich. Zur Halbzeit stand es 0:0. Das dachte ich jedenfalls, als ich die ersten 45 Minuten abpfiff. Als ich den Platz verließ, hörte ich, wie sich zwei Mainzer Spieler über ein vermeintliches Handspiel eines Freiburgers aufregten. Meine Assistenten und ich hatten nichts dergleichen wahrgenommen.

Plötzlich hörte ich die Stimme der Videoassistentin Bibiana Steinhaus im Kopfhörer: ›Guido, warte!‹ Sie teilte mir dann mit, dass der Freiburger Marc-Oliver Kempf kurz vor Schluss im Strafraum möglicherweise Hand gespielt hatte. Ich sollte mir die Szene noch mal angucken. Sie können sich vorstellen, was mir in diesem Augenblick durch den Kopf schoss. Eine solche Situation hatte es in der Bundesliga noch nicht gegeben. Was konnte ich machen? Was durfte ich unter keinen Umständen tun? Kann sein, dass eine Reaktion bei mir erst wahrnehmbar war, als ich den Platz schon verlassen hatte. Es kommt aber nach den Regeln darauf an, dass ich noch auf dem Rasen von der Videoassistentin eine Meldung bekomme. Weil jenseits des Spielfeldes die Möglichkeit der Beeinflussung von außen größer wird. Und weil das so war, weil ich bei der Benachrichtigung durch Bibiana noch auf dem Feld war, durfte ich einen Elfmeter auch noch nach dem Halbzeitpfiff ausführen lassen. Dreimal habe ich mir die fragliche Szene dann im Video angeguckt, einer meiner Assistenten sagte noch: ›Bei den Umständen muss das aber jetzt wirklich ein ganz klares Handspiel sein.‹ Und das war es. Kempfs Hand fuhr im Fünfmeterraum ganz klar raus und patschte auf den Ball. Also Elfmeter.

Die Spieler waren schon in der Kabine, die mussten also wieder rausgeholt werden, denn von jeder Mannschaft müssen mindestens sieben Akteure auf dem Platz sein. Einige Freiburger weigerten sich zuerst rauszugehen. Aber dann, mit knapp sieben Minuten Verzögerung, standen sie alle am Sechzehner und beobachteten, wie der Argentinier de Blasis den Ball reinwuchtete. Ein Nachschuss wäre in der Situation übrigens nicht erlaubt gewesen. De Blasis machte dann später auch noch das 2:0.

Das Ergebnis beförderte den HSV und den 1. FC Köln in den fast sicheren Abstieg. Auch von daher war es also eine wichtige Entscheidung. Mir war schon in der Halbzeit klar: Das war jetzt ein Jahrhundertding! Natürlich wurde im Anschluss darüber heftig diskutiert. Es gab Gerüchte: Ich hätte die Ohrmuschel schon draußen gehabt; ich hätte das Signal von Bibiana erst außerhalb des Spielfeldes bekommen. Unser Video-Boss Lutz Michael Fröhlich hat dann den Sachverhalt im Gespräch mit dem Kicker ein für alle Mal klargestellt. Die Sache ist korrekt abgelaufen, obwohl ich mir schon vorstellen kann, dass viele Zuschauer damit ein Problem hatten. Vielleicht hätten sie im Kölner Video-Assist-Center auch noch etwas schneller handeln können. Aber das ändert nichts an der Feststellung: saubere Anwendung des Videobeweises, eindeutiger Elfmeter. Und für mich ein unvergesslicher Montagabend.«

Der Videobeweis und das Ende des eruptiven Jubels

Mannis Kommentar

Alle, die gedacht haben, nach Einführung des Videobeweises sei die Zeit der Diskussionen über Schiedsrichterentscheidungen vorbei, waren von Anfang an auf einem brüchigen Holzweg. Denn diese trügerische Hoffnung ließ den Ermessenspielraum außer Acht, den die Unparteiischen in vielen Spielsituationen haben. In der Theorie klingt es erst einmal ganz gut: Der Videobeweis soll nur bei »klaren Fehlern« greifen; aber was ist denn schon klar? Vieles bewegt sich im Grenzbereich zwischen Regelverstoß und gerade noch erlaubt, da muss noch nicht einmal die abenteuerliche Auslegung der Handregel bemüht werden.

Gleichwohl müssen wir zwei Dinge sehen: Zum einen werden die Fans der Mannschaft, die gerade unter dem Videobeweis zu leiden hat, immer den Verdacht haben, verschaukelt worden zu sein. Ihnen geht es ja gerade nicht um Gerechtigkeit, sondern um den Erfolg der eigenen Mannschaft. Und zum anderen haben die Verantwortlichen nicht so ganz Unrecht, die uns die elektronischen Hilfsmittel überwiegend als Segen verkaufen wollen. Nachweisbar hat der Videobeweis in vielen Fällen den richtigen Pfiff bestätigt oder den falschen korrigiert. Im Übrigen: Fundamentale Zweifel sind selbstverständlich zulässig, sie werden den Videobeweis aber nicht ins Wanken bringen; er ist jetzt da und wird sicherlich nicht wieder abgeschafft. Bleibt also nur, an den Details zu arbeiten.

Überragend wichtig ist vor allem eine schnelle und funktionierende Kommunikation ohne Missverständnisse. Dann wird es solche absurde Situationen wie den Halbzeitelfmeter beim Spiel Mainz gegen Freiburg nicht mehr geben. Schiedsrichter Winkmann hat sicherlich formal korrekt gehandelt, das Ergebnis wirkt allerdings grotesk auf den durchschnittlichen Fußballfan, der eben kein hundertzwanzigprozentiger Regelexperte ist. Ein Grenzfall, eine Ausnahmesituation, wie sie so schnell nicht wiederkommen wird. Umso wichtiger wäre es in Mainz gewesen, die Zuschauer, ganz besonders die im Stadion, möglichst genau über den Entscheidungsprozess und die Grundlagen der Entscheidung zu informieren. Geschieht das nicht, trägt der Videobeweis eher zu Irritation und Entfremdung als zur Gerechtigkeit bei.

Eines wird sich aber auch bei ausreichender Information der Zuschauer nicht verhindern lassen, und das ist wirklich sehr schade: Immer wenn der Schiedsrichter jetzt auf Tor erkennt, lauern im Hintergrund der Zweifel und die mögliche Korrektur der Entscheidung. Der eruptive Torjubel ohne angezogene Handbremse ist nur noch sehr schwer möglich. So nimmt der Videobeweis dem Fußballspiel leider etwas von den spontanen emotionalen Höhenflügen, die zu einem guten Teil den Reiz des Fußballs ausmachen.