Uwe Seeler

Die Revanche für Wembley

Am 14. Juni 1970 standen sich bei der WM in Mexiko im Viertelfinale Deutschland und England gegenüber. Uwe Seeler erzielte mit dem Hinterkopf den späten Ausgleich zum 2:2, in der Verlängerung entschied Deutschland das Spiel dann mit 3:2 für sich. Eine späte Genugtuung, wie nicht nur Seeler empfand:

»Die Revanche für Wembley – das war unser Vorsatz vor dem Spiel, und so wurde auch nachher in Zeitungen getitelt. Auf jeden Fall gingen wir hoch motiviert in das Spiel hinein, das dann aber erst einmal gar nicht so lief, wie wir uns das vorgestellt hatten. Zur Halbzeit stand es 1:0 für die Engländer, die Mittagshitze und die mexikanische Höhenluft von León machten eine Aufholjagd nicht leichter. Es herrschten 50 Grad auf dem Platz, nirgendwo gab es Schatten – die Sonne knallte fast senkrecht vom Himmel. Wegen der Fernsehübertragung fanden alle Spiele mittags statt. Der Platz musste dreimal täglich gesprengt werden, damit er nicht verbrannte. Trinken konnten wir fast nur während der Halbzeit, ein Mundspray verhinderte, dass der Mund austrocknete. Während der WM habe ich drei bis vier Kilo verloren! Es galt also, den Ball laufen zu lassen und gleichzeitig das eigene Laufen einzuschränken.

Kurz nach der Pause erhöhten die Engländer auf 2:0. Wir merkten aber, dass sie sich des Sieges schon zu gewiss waren, sie wechselten – das war bei dieser WM erstmals möglich – Bobby Charlton früh aus, um ihn zu schonen. Und wir gaben nicht auf.

2:2 Tor Uwe Seeler, Alan Mullery, Torwart Peter Bonetti England Fussballl WM 70 Viertelfinale Deutschland - England 3:2 n.V.  14.06.1970

»Ich hatte gesehen, dass Bonetti zu weit vor dem Kasten stand.«

Ich wollte es den Kritikern zeigen, vor allem den Medien. Nach einer schweren Rückenverletzung war ich erst 1969 ins Nationalteam zurückgekehrt, viele sahen mich mit meinen 33 Jahren als zu alt für Mexikos Hitze und Höhenluft. Meinen Job als freier Handelsvertreter für Adidas hatte ich zurückgeschraubt – allein vom Fußballspielen konnte man damals noch nicht leben, in der Liga verdiente ich 1250 Mark brutto! – und vor der WM hart trainiert. Bundestrainer Helmut Schön und die Mannschaft glaubten an mich. Und das versuchte ich zu rechtfertigen.

In der 69. Minute gelang Beckenbauer der Anschlusstreffer, wir waren wieder dran. Und dann die 82. Minute. Langer Pass von Schnellinger nach vorne. Ich musste rückwärts laufen, um den Ball zu erreichen, drehte mich etwas zur Seite, sprang mit einem Bein hoch und erwischte den Ball mit dem seitlichen Hinterkopf. Ich hatte aus den Augenwinkeln gesehen, dass der Torwart Peter Bonetti zu weit vor dem Kasten stand, und wollte den Ball über ihn hinwegköpfen. Dass er dann tatsächlich im hinteren Winkel zum 2:2 einschlug, dazu gehört dann natürlich auch das berühmte Quäntchen Glück.

Ich dachte mir: Jetzt packen wir sie. Bei der Hitze und nach der Aufholjagd waren wir in der Verlängerung im psychologischen Vorteil. Und so war es dann auch, 3:2 in der Verlängerung.

Die Engländer zeigten Respekt und erkannten unseren Kampfgeist an, auch die Presse. Einige Spieler wie Bobby Charlton oder Geoffrey Hurst treffe ich gelegentlich wieder, es ist immer ein herzliches Wiedersehen.

Meinen Einsatz habe ich also durchaus gerechtfertigt, und auch die Kritiker zu meinem Alter und mangelnder Fitness habe ich Lügen gestraft: Ich habe die 120 Minuten durchgespielt.«

»Uns Uwe«

Mannis Kommentar

Der Name Uwe Seeler erzeugt Bilder im Kopf: Das Hinterkopftor gegen die Engländer, klar. Uwe, wie er nach dem 66er Wembley-Finale gesenkten Hauptes, von zwei Bobbies eskortiert, den Platz verlässt. Und immer wieder gerne: Uwe pfeifend (»Im Frühtau zu Berge …«) vor dem Toilettenspiegel, das Rasierwasser auf Kinn und Wangen tätschelnd; das Pfeifen erstirbt, weil das Fläschchen zu Ende geht, und dann wieder, mit neuer Flasche, kräftig weiterpfeifend. Übrigens: Das Rasierwasser mit dem domestosähnlichen Duft hieß Pitralon! Nicht Hattric, wie gerne fälschlich behauptet wird.

Uwe Seeler, die Torfabrik, der ehrliche Kämpfer, immer geradeaus, bescheiden, unverrückbares Inventar des HSV, mit sich selbst im Reinen. »Ich musste mich nie verstellen«, hat er mal gesagt. »Für mich gab es den Beruf und den Sport, und da wollte ich etwas leisten und etwas erreichen.«

Etwas erreicht hat er: 237 Oberligaspiele und 239 Bundesligaspiele für den HSV mit insgesamt 404 Toren, Deutscher Meister 1960, Pokalsieger 1963; 72 Länderspiele mit 43 Toren, WM-Teilnehmer 1958,1962,1966 und 1970. Die WM in Mexiko sei die schönste gewesen, sagt Uwe, und der 3:2-Erfolg gegen die Engländer der Sieg, der am meisten Spaß gemacht habe.

Der Beruf, das war für ihn seine Bekleidungsfirma sowie die Adidas-Generalvertretung für Norddeutschland. Für Adidas arbeitete er schon, als 1961 die große Versuchung in Gestalt eines Angebots von Inter Mailand kam. Am Ende boten sie ihm 900 000 DM Handgeld, die Ablösesumme sollte 1,5 Millionen DM betragen. Uwe sagte Nein, sein Bedürfnis nach Sicherheit und Bodenständigkeit besiegte die Verlockung des großen Geldes. »Mehr als ein Steak kann man nicht essen«, hatte ihm schon sein Vater, der Hafenarbeiter Erwin Seeler, mit auf den Weg gegeben. »Ich wollte beim HSV bleiben. Wir hatten ein starkes Miteinander im Verein, unternahmen vieles gemeinsam und feierten zusammen. Das wollte ich nicht aufgeben.«

Sein Leben ist eine gerade Linie, auch seine frühe Heirat mit 22 passt in dieses Muster. Mit seiner Frau Ilka ist er jetzt schon seit 1959 verheiratet, 2019 feierte das Paar die Diamantene Hochzeit. »Sie ist ein wunderbarer, perfekter Lebenspartner, mein Ein und Alles.«

Einziger grauer Fleck auf Uwes Vita ist die gut zweieinhalbjährige Präsidentschaft beim HSV 1995 bis 1998. Er geriet in einen Strudel von Intrigen und dubiosen Geschäften, gab unsägliche, banal-hilflose Interviews, bei denen jeder zweite Satz mit der legendären Einleitung »Ja gut, ich sach mal …« begann. Für die Führung eines Fußballclubs war der herzensgute und weiche Uwe Seeler einfach nicht gerissen und abgezockt genug.