Die Mutter aller deutschen Fußballsiege
Der größte Mythos in der deutschen Fußballgeschichte ist das 3:2 gegen Ungarn im Weltmeisterschaftsfinale am 4. Juli 1954. Der Filmemacher Sönke Wortmann hat die Geschichte Helmut Rahns, der das entscheidende dritte Tor schoss, in dem Film »Das Wunder von Bern« erzählt. Der ehemalige Fußballer Wortmann über seinen Zugang zum Filmstoff:
»Mir ist mal entgegengehalten worden: Du beteiligst dich daran, diese 54er Weltmeisterschaft politisch-ideologisch zu überhöhen. Es gehe etwa nicht an, wie es der Publizist Joachim Fest getan hat, Konrad Adenauer, Ludwig Erhard und Fritz Walter als die drei Gründerväter der Bundesrepublik zu bezeichnen. Ein Fußballspiel könne solche Dimensionen gar nicht haben.
Eines ist aber klar: Dieser WM-Titel hat Deutschland neun Jahre nach dem Krieg verändert. Ich kann nichts Schlimmes daran finden, wenn die Menschen in einem Land, das am Boden liegt, über den Sport neuen Lebensmut schöpfen. Die Deutschen durften sich über diesen Erfolg unbeschwert freuen, und diese positiven Gefühle sind ja auch gut für die demokratische Entwicklung, das Selbstbewusstsein hat die Anfälligkeit gegenüber rechtsextremem Gedankengut gesenkt und nicht gefördert.
Sportlich war das 3:2 die Mutter aller deutschen Fußballsiege, die größte Sportsensation des 20. Jahrhunderts, zumindest aus deutscher Sicht. Hier wurde die Grundlage für all die Eigenschaften gelegt, die den deutschen Fußballern später zugerechnet wurden: kämpfen, nicht aufgeben, das Unmögliche doch noch möglich machen. Das muss man sich mal vorstellen: Die Ungarn, die haushohen Favoriten, liegen schon nach acht Minuten mit 2:0 vorne. Viele andere Mannschaften wären bereits zu diesem Zeitpunkt in die Knie gegangen. Was machen die Deutschen? Sie schaffen durch Morlock und Rahn innerhalb von zehn Minuten den Ausgleich. Das 3:2 sechs Minuten vor dem Ende ist tausendfach erzählte und aufgefrischte Geschichte.
Rahn müsste schießen – und schoss eine ganze Nation ins Glück.
Der Torschütze, Helmut Rahn, ist zugleich der lebende Beweis, dass in Sepp Herbergers Elf nicht nur angepasste Arbeitsbienen oder rechtschaffene, ordnungsliebende Künstler wie Fritz Walter wirkten. Rahn war, soweit das 1954 möglich war, ein Exzentriker mit eigenem Kopf und Widerspruchsgeist. Die Legende von 1954 hat also durchaus Facetten, die nicht immer ganz ins Bild passen. Aber die ›deutschen Tugenden‹ waren die Triebfeder, die auch spätere Fußballgenerationen beflügelten.
Auf Anhieb fällt mir da beispielsweise das Halbfinale der WM 1982 gegen Frankreich ein: Da schießen die Franzosen in der Verlängerung zwei Tore und führen mit 3:1 – und am Ende steht es 3:3, und Deutschland gewinnt im Elfmeterschießen! Da schwingt der Mythos von 1954 immer noch mit.
Die Ungarn sind den umgekehrten Weg gegangen. Sie waren bis zum Finale von Bern fünf Jahre lang ungeschlagen; die Schmach gegen Deutschland hat ihnen einen Knacks verpasst, von dem sie sich nie richtig erholt haben.«
Mannis Kommentar
Der WM-Triumph von 1954 passte haargenau in die politische und soziale Situation der Deutschen nach dem Krieg. Die Trümmer waren noch nicht ganz weggeräumt, ein Fünftel der Menschen lebte noch in Armut, 700 000 wohnten in Baracken, Bunkern und Notunterkünften, 2,7 Millionen waren auf Wohnungssuche.
Trotzdem ging es gewaltig bergauf: Die Arbeitslosigkeit halbierte sich innerhalb eines halben Jahres auf nur noch eine Million, die Autoindustrie steigerte 1954 ihre Produktion um 45 Prozent. Im Ausland begannen die Zeitungen, vom »deutschen Wirtschaftswunder« zu schreiben.
Die Deutschen, im selber angezettelten Krieg ins Elend gestürzt und gedemütigt, wollten in ihrer Mehrzahl vergessen. »Mit Politik will ich nichts mehr zu tun haben«, sagten viele, eine gründliche Auseinandersetzung mit dem Hitler-Faschismus fand nicht statt. Bayern beschloss im März 1954 als erstes Bundesland das Ende der Entnazifizierung.
Gleichzeitig wurden alle pazifistischen Schwüre (Franz Josef Strauß: »Die Hand soll verdorren, die jemals wieder ein Gewehr anfasst.«) durch den Bundestagsbeschluss zum Aufbau der Bundeswehr gebrochen. 1954 war das Jahr der Pariser Verträge, in denen die NATO-Mitgliedschaft der jungen und wiederbewaffneten Bundesrepublik angestrebt wurde. Die Bundesbürger suchten derweil die heile Welt in herzigen Heimatfilmen (»Der Förster vom Silberwald«) und sogenannten Schlagerfilmen wie »Liebe, Tanz und 1000 Schlager«. Kriegsfilme (»08/15«) gab es auch, ihre Hauptdarsteller in Uniform: tapfer kämpfende junge Männer, die schon immer dagegen waren.
In den Kinos wurden 1954 rund 733 Millionen Besucher gezählt (2017: knapp 118 Millionen), Fernsehgeräte gab es Ende 1954 erst 84 300 Stück. Dort flimmerte nicht nur das WM-Finale, sondern auch die erste deutsche Fernsehserie »Unsere Nachbarn heute Abend – Familie Schölermann« über die kleinen, schwarz-weißen Bildschirme.
Die gebildeten Deutschen lasen die Werke von Heinrich Böll und Thomas Manns Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull, in Berlin konnten sie Konzerte der Philharmoniker mit dem neuen Chefdirigenten Herbert von Karajan besuchen. Die jungen Leute tobten sich in der aus den USA herüberschwappenden musikalischen Revolution aus: 1954 nahm Bill Haley sein für damalige Verhältnisse unfassbar wildes »Rock around the Clock« auf. Der musikalische Generationenkonflikt nahm seinen Lauf.
In dieser Atmosphäre des allmählich steigenden Wohlstands wuchs das Bedürfnis, zu konsumieren und nur nach vorne zu schauen. Die Bundesbürger gierten nach Erfolgserlebnissen, mit Fragen nach Schuld und Verstrickung konnte sich keiner beliebt machen. Da passte das 3:2 von Bern wie das Eisbein zum Wirtschaftswunder. Sepp Herberger, Fritz Walter, Helmut Rahn und die anderen beflügelten das neue, von der Vergangenheit losgelöste Selbstbewusstsein der Deutschen. Sie waren, ohne dass sie es wollten, Protagonisten einer breiten Bevölkerungsschicht, die sich selber die Möglichkeit einer »unpolitischen« Existenz vortäuschte. Dabei ist die Freude über einen Weltmeistertitel ganz bestimmt nicht verwerflich. Wenn die Euphorie aber zu einem Mosaikstein in einem geschichtsvergessenen Lebensentwurf wird, ist sie gefährlich. Weil dann in dem ganzen Wachstums- und Komsumrausch die dringend notwendigen Lehren aus der deutschen Geschichte für störend und verzichtbar gehalten werden.