Marcel Reif

In Madrid ist ein Tor gefallen

Vor dem Champions-League-Halbfinale zwischen Borussia Dortmund und Real Madrid am 1. April 1998 brach ein Tor zusammen. Im Fernsehen überbrückten Marcel Reif und Günther Jauch kongenial die 75 Minuten, bis das Spiel – mit neuem Tor – ­endlich angepfiffen werden konnte. Marcel Reif erinnert sich:

»Dieser 1. April in Madrid war allein schon deshalb bemerkenswert, weil ich noch nie zuvor im Bernabeu-Stadion gewesen war. Ich war am Tag zuvor angereist und fand’s einfach wunderbar.

Und dann kamen wir in diese absurde Ausnahmesituation. Da muss ich gleich mal mit einer Legende aufräumen: Wenn dem Günther Jauch und mir einer vorher gesagt hätte, ihr kriegt ’ne Masse Geld, wenn ihr gleich 75 Minuten, in denen ganz wenig passiert, mit schlauen Sprüchen überbrückt, wir wären stattdessen zum Wurststand gegangen. Selbstverständlich waren wir auf so was nicht vorbereitet, und was dann ausbrach, war am Anfang die pure Anarchie. Für mich bestand die Gefahr des medialen Selbstmordes, wenn der Günther mich nicht gerettet hätte, indem er die Anweisung gab, zu ihm zu schalten.

Dass dieses Tor umfiel, sah ich nur aus dem Augenwinkel. Es war vor der berüchtigten Ultra-Tribüne am Zaun angebunden; die Ultras zogen und wippten am Zaun und brachten dadurch das Tor zum Einsturz. Da lag es nun, das Tor, und ich fing an, mich ins Nirwana zu quasseln. Ich wob einen Kokon des Schwachsinns, der mich unter anderem zu Ausführungen über die Vor- und Nachteile des Zentralismus in Spanien führte.

Spielverzoegerung, Torbruch von Madrid im Stadion Santiago Bernabeu Champions League Halbfinale Real Madrid - Borussia Dortmund 2:0

Kein Ersatz in Bernabeu – das neue Tor musste aus einem anderen Stadion geholt werden.

Wir kriegten keinerlei Infos, was nun passieren würde, sogar der Dortmunder Präsident Gerd Niebaum sagte: ›Mal gucken, wie’s weitergeht.‹ Da war nichts überlegt oder kalkuliert, wir strebten keine Originalität an, ich glaube, unser Sendeleiter hat das eher als Chance begriffen als wir beiden am Mikrofon. Statt zwischen uns hin und her zu schalten, wurden einfach beide Mikros aufgemacht. Und wir ließen es hemmungslos laufen, wir glucksten und giggelten, kriegten Lachkrämpfe wie damals in der Schule.

In anderer Besetzung hätte die Geschichte wahrscheinlich nicht funktioniert. Denn der Günther und ich, wir sind befreundet, und fragen Sie mal unsere Frauen: Wenn wir beide uns verbal hochschaukeln, dann kann das für die Zuhörerinnen schon sehr anstrengend sein. Also: ein Glücksfall in der Reporter-Besetzung.

Nach dem Spiel, das es ja dann auch noch gab, telefonierte ich mit meiner Frau, und die sagte: ›Das habt ihr aber toll hingekriegt!‹ Und ich antwortete nur fassungslos: ›Nein, das ist nicht dein Ernst!?‹«

»Ein Tor würde dem Spiel guttun.«

Mannis Kommentar

Reporter müssen immer viel reden, im Radio noch mehr als im Fernsehen, aber in den meisten Fällen läuft zumindest der Ball, und es gibt was zu erzählen. Doch schon zweiminütige Verletzungspausen sind eine echte Herausforderung, aber 75 Minuten, in denen reinweg nichts, gar nichts passiert? Eine Katastrophe? Oder eine Ausnahmesituation, die die Kreativität beflügelt?

Reif und Jauch wählten die zweite Variante und fabulierten sich in den Kommentatoren-Olymp. Jauch fand es bemerkenswert, dass das Tor »in der nullten Minute gefallen war«, Reif konterte, dass »noch nie ein Tor einem Spiel so gutgetan hätte«. Beide wurden für ihre Performance mit dem Bayerischen Fernsehpreis belohnt.

Aber Marcel Reif hat es ja klar erkannt: Zwischen hoher Sprachkunst und (manchmal unfreiwillig produziertem) Wortmüll liegen nur Halbsätze. War es doch der Poet von Madrid höchstselbst, der einmal formulierte: »Je länger das Spiel dauert, desto weniger Zeit bleibt.« Und beim Stande von 1:0 für den HSV entfleuchte seinem Mund während eines Bundesligaspiels die glasklare Analyse: »Wenn die Hamburger jetzt in der Abwehr gut stehen und kein Tor mehr zulassen, werden sie auf jeden Fall nicht mehr verlieren.« Ähnlich klar in der Einschätzung des Spielverlaufs war einmal Gerd Delling: »Die Luft, die nie drin war, ist raus aus dem Spiel.«

Ganz gefährlich ist es, mit der Sprache Bilder zu malen, da rutscht sehr leicht der Pinsel aus. Wie ehemals dem Grandseigneur des ZDF Dieter Kürten: »Die Stadt ist schwarz voller Menschen in Orange.« Oder (sorry, Gerd) wieder einmal der sprachgewaltige Gerd Delling: »Wenn man ihn jetzt ins kalte Wasser schmeißt, könnte er sich die Finger verbrennen.«

Zu Dellings Ehrenrettung muss erwähnt werden, dass er in deutlich wahrnehmbarem Maße Humor ins Spiel brachte: »Hup, Holland, hup – das hat den Vorteil, dass man auch mit Schluckauf weitersingen kann.« Oder: »Wenn Sie dieses Spiel atemberaubend finden, haben Sie es an den Bronchien.«

Der Großmeister des knackigen Wortspiels war der Ruhrpoet Werner Hansch, zuerst spätberufener Radioreporter beim WDR, dann Fernsehkommentator. Wann immer er sich ans Mikrofon begab, machte er Ansprüche auf den Dorstener Lyrikpreis geltend: »Wer hinten so offen ist, kann nicht ganz dicht sein.« Oder nach einem Foul: »Ich hau dir in die Augen, Kleiner.«

Der tragischste Metaphern-Versenker passierte Volker Kottkamp, der für den SWR berichtete. Die Situation: Drei Verteidiger stürzten sich auf einen Stürmer. Kottkamps Kommentar: »Ja, so ist das eben: Viele Hasen, äh, äh, viele Hasen sind äh, sind, äh – eben viele Hasen.«