Ecke – Naldo – 4:4!
Domenico Tedesco erlitt das Schicksal vieler Schalker Trainer: Schon nach 21 Monaten wurde er vom Hof gejagt. Zwei Dinge kann ihm aber keiner nehmen: die überraschende Vizemeisterschaft 2018 und das spektakuläre 4:4 nach einem 0:4-Pausenrückstand beim Derby am 25. November 2017 in Dortmund. Der Schalker Ex-Trainer mit wohligen Erinnerungen:
»Das war ein Tag, den ich nie vergessen werde. Da haben wir Geschichte geschrieben. Für die Spieler war es auch etwas ganz Großes, dieses Spiel noch rumgerissen zu haben. Da muss ich auch mit einem Vorurteil aufräumen: Bei einem solchen Revierderby wollen alle unbedingt gewinnen, das lässt die Spieler nicht kalt, auch wenn sie aus allen Ecken der Welt kommen. Beim Training sind auch die Angeschlagenen und Halbkranken dabei. Beim Abschlusstraining vor diesem Derby im November 2017 waren 2500 Fans auf dem Gelände. Wenn dann noch der Schalker Mannschaftsbus bei der Anreise in Dortmund mit Eiern beworfen wird, dann brennen auch die Letzten. Aber nach 25 Minuten stand es 4:0 für den BVB. Sie haben uns überrollt, und wir waren zunächst mal vollkommen konsterniert. Wir haben dann nach einer guten halben Stunde reagiert und Leon Goretzka und Amine Harit für Weston McKennie und Franco di Santo gebracht. Goretzka saß auf der Bank, weil er noch etwas lädiert war. Das hatte zu dem Zeitpunkt schon etwas von Alles oder Nichts. Aber dass am Ende noch etwas Zählbares herausspringen würde, habe ich zur Halbzeit natürlich nicht geglaubt. Bei uns war in der Pause ohnehin bei allen Spielen erst mal zwei, drei Minuten Ruhe. Anschließend bin ich in die Hocke gegangen, auf Augenhöhe zu den sitzenden Spielern, und habe ihnen gesagt: ›Das habt ihr nicht verdient, ihr habt die ganze Woche so hart gearbeitet. Ihr solltet jetzt Charakter zeigen. Wir nehmen uns einfach vor, diese zweite Halbzeit zu gewinnen. Dann können wir mit erhobenem Haupt nach Hause fahren.‹
Wir haben noch etwas umgestellt, offensiver als vorher. Und dann durften alle Schalker erleben, wie plötzlich eine unfassbare Power in der Mannschaft ausbrach. Sie waren auf einmal alle gefühlte zehn Stundenkilometer schneller. Die Früchte dieser sensationellen Mentalitätswende durften wir nach einer Stunde ernten:
61. Minute: 4:1 Guido Burgstaller; 65. Minute: 4:2 Harit; 86. Minute: 4:3 Daniel Caligiuri. Die Dortmunder waren wie gelähmt. Dann kam die vierte Minute der Nachspielzeit. Nochmal eine Ecke, Naldo war mit nach vorne gegangen. Da hatte ich eine Ahnung, dass jetzt noch was passieren würde. Denn wir hatten ja in dieser Saison fast jedes drittes Tor durch einen Standard erzielt. Und dann wuchtete Naldo den Ball mit dem Kopf zum 4:4 in die Maschen. Pfiff, Vorhang, das Spiel war aus, ein gefühlter Derby-Sieg. Wenn das Ganze noch zehn Minuten länger gedauert hätte, wären wir auch noch als realer Sieger vom Platz gegangen, da bin ich sicher. Dieses Derby war schon so etwas wie ein Ritterschlag für mich, der ich ja als Nobody nach Schalke gekommen war. Alle Vorbehalte waren verflogen, auch die Fans behandelten mich noch herzlicher als ohnehin schon. Ich war nach diesem verrückten Spiel richtig auf Schalke angekommen.«
Mannis Kommentar
Es wird sehr viel über die Faszination des Fußballs gesprochen. Wer das pauschal tut, verschweigt einen wichtigen Tatbestand: Regelmäßige Fußballzuschauer bekommen überdurchschnittlich viele Horrorkicks serviert. Langweiliges Mittelfeldgeschiebe, Fehlpässe im Abonnement, null Torchancen oder verballerte Riesenmöglichkeiten in Serie. Das ist leider der Alltag des Fußballs. Da kannst du die Faszination auch mit dem Fernrohr nicht erkennen. Zur Verdeckung dieser Grundmisere wird der geneigte Fan regelmäßig aufgefordert, sich wahlweise am positiven Ergebnis des Spiels oder an vermeintlichen taktischen Raffinessen zu delektieren. Und damit zufrieden zu sein. Wer spannenden und schönen Fußball gleichzeitig will, zumindest mal gelegentlich, wird als romantischer Träumer diskriminiert. Gott sei Dank wird es manchmal, als Ausgleich für die großflächige Ödnis sozusagen, richtig spektakulär. Über solche Ereignisse sprechen die Fans dann auch noch Jahrzehnte später. Folgen Sie mir auf einer kurzen Reise zu Fußballspektakeln mit außergewöhnlichen Spieldramaturgien, vielleicht erst mal in die Bundesliga der Siebzigerjahre.
Da gab es beispielsweise den Tag im Jahre 1973, als der Lauterer Betzenberg explodierte. Zu Gast war der FC Bayern, der nach einer Stunde standesgemäß mit 4:1 führte. Den Roten Teufeln gelang dann innerhalb von sechs Minuten der Ausgleich zum 4:4. Am Ende stand es 7:4 für Kaiserslautern. Im gleichen Jahr führte Schalke, ebenfalls gegen Bayern München, zur Halbzeit mit 5:2. Ich habe dieses Spiel übertragen und sah in der Pause vor Glück weinende Schalker. Aus Glück wurde Ernüchterung, denn nach 70 Minuten hatte Bayern ein 5:5 herausgeschossen. Dabei blieb es. Vier der fünf Münchener Tore erzielte übrigens Gerd Müller, damals auf dem Höhepunkt seiner Torjägerqualitäten. 1976, drei Jahre später, fuhren die Bayern nach Bochum und rauschten dort – vermeintlich! – in eine fette Niederlage. Spielstand nach 55 Minuten: 4:0 für den VfL. Und wieder mal kippte ein Spiel auf spektakuläre Weise; denn die Bayern gewannen diese Partie noch, Uli Hoeneß machte in der 89. Minute das 5:6.
Werder Bremen produzierte in den Neunzigern diverse »Wunder von der Weser«. Eines davon war das Champions-League-Viertelfinale gegen den SC Anderlecht. Da führten die Belgier bis zur 66. Minute mit 3:0 im Weserstadion. Was folgte, war eine ekstatische Werder-Show mit Toren von Wynton Rufer (2), Rune Bratseth, Marco Bode und Bernd Hobsch. Werder Bremen hatte das Ding in einer knappen halben Stunde gedreht und mit 5:3 gewonnen. Ähnlich spektakulär ging es zu bei Bayer Uerdingen gegen Dynamo Dresden 1986 (siehe dazu Seite 175).
Auf höchster europäischer Ebene startete die Achterbahn der Fußballgefühle beim Champions-League-Finale 2005: Bis zur Pause bahnte sich ein Debakel für Liverpool an, der AC Milan führte unangefochten mit 3:0. Ob es die Einwechslung von Didi Hamann in der zweiten Hälfte war? Jedenfalls wendeten die Reds das Blatt, erkämpften ein 3:3 bis zum Ende der Verlängerung und entschieden dann auch das Elfmeterschießen für sich. Liverpool war Champions-League-Sieger! Und brauchte vierzehn Jahre, um mit Jürgen Klopp die Trophäe ein weiteres Mal an die Merseyside zu holen.
Ein Champions-League-Ergebnis des BVB aus dem Jahr 2013 wirkt bis heute auch wie ein Wunder: Borussia Dortmund stand im Viertelfinale gegen Málaga, hatte im Hinspiel ein 0:0 geholt und lag im Rückspiel nach 90 Minuten mit 1:2 hinten. Aus und vorbei also? Nein! Denn es begab sich folgendes: 91. Minute, 2:2, Marco Reus; 92. Minute, 3:2, Felipe Santana. Málaga raus, Dortmund im Halbfinale! Die Champions-League-Saison endete dann mit dem ersten und einzigen rein deutschen Finale, in dem die Bayern über den BVB triumphierten.
Das gleiche Ergebnis wie bei der Partie Dortmund-Schalke im Herbst 2017 gab es fünf Jahre zuvor im WM-Qualifikationsspiel Deutschland-Schweden in Berlin. Da wurden Peinlichkeits-Höchstnoten an die deutschen Nationalkicker vergeben. Die führten unangefochten nach einer Stunde mit 4:0 gegen die bis zu dem Zeitpunkt tiefenentspannt-harmlosen Schweden. Wie es dann dazu kommen konnte, dass die Skandinavier in der dritten Minute der Nachspielzeit ein 4:4-Remis holen durften, können sich einige Beteiligte bis zum heutigen Tag nicht erklären. Aber immerhin: Deutschland beendete diese WM-Rutsche mit dem Titel 2014, spätestens da war der Ärger über das versemmelte Schweden-Spiel verraucht.
Manchmal geht es also so richtig rund in den Fußballstadien. Bis dahin dürfen wir uns schon mal einen Knopf abfreuen, weil unsere Lieblingsmannschaft unter scheußlichen Umständen 1:0 gewonnen hat. Oder wir regen uns über den Schiedsrichter auf, über die Herrschaften im Kölner Keller oder über die falschen Aufstellungen und Einwechslungen des Trainers. So kommt zumindest keine Langeweile auf. Notfalls holen wir uns noch ein Bier und eine Bratwurst.