Der Schwabe kommt spät, aber gewaltig
Am Ende der Saison 1991/92 gab es ein dramatisches Showdown um die deutsche Meisterschaft mit dem überraschenden Sieger VfB Stuttgart. Eintracht Frankfurt, Borussia Dortmund und der VfB gingen punktgleich in den letzten Spieltag; Frankfurt verlor 1:2 in Rostock, die Dortmunder gewannen mit 1:0 beim MSV Duisburg und hatten 86 Minuten die Hand an der Schale. Die Stuttgarter mit Trainer Christoph Daum siegten durch ein Tor von Guido Buchwald vier Minuten vor dem Ende mit 2:1 in Leverkusen und wurden dank der besseren Tordifferenz Meister. Matthias Sammer, damals beim VfB, erinnert sich nur lückenhaft:
»Unseren Sieg in Leverkusen habe ich unter kuriosen Umständen miterlebt. Es war nach zwei Jahren mein letztes Spiel für den VfB, mein Wechsel zu Inter Mailand stand unmittelbar bevor. Da habe ich mich schon sehr geärgert, als mir Schiedsrichter Hans-Peter Dellwing in der 79. Minute die rote Karte zeigte. Nach einem vermeintlichen Foul an Jorginho, der nach meinem Empfinden durch die Gegend ›schwalbte‹, wollte der Schiri mir Gelb geben. Als ich protestierte und auch noch einen kleinen Applaus andeutete, zog er plötzlich Rot. Ich trollte mich in den Kabinengang und setzte mich im Duschraum enttäuscht auf die rote Schaumstoffmatte, auf der Wiggerl Kögl vor dem Spiel immer seine gymnastischen Übungen machte. Ich war – beim Spielstand von 1:1 – der festen Überzeugung, der VfB würde im Meisterschaftsrennen den Kürzeren ziehen, und sinnierte über meinen verunglückten Abgang. Denn was auf dem Spielfeld passierte, bekam ich nicht mit, da es Fernsehgeräte im Kabinentrakt damals nicht gab.
Plötzlich kam unser Doc Thomas Fröhlich angerannt und schrie: ›Komm raus, Matthias, wir führen zwei zu eins!‹ Ich wollte schon erwidern ›Verarschen kann ich mich selber!‹, da merkte ich, dass er es offensichtlich ernst meinte und wir ein, nein das Tor geschossen hatten.
Als ich raussprintete, sah ich noch, wie unsere Jungs sich in den Armen lagen. Ich habe eine Weile gebraucht, um die Situation zu begreifen. Ein paar Minuten zuvor war die Meisterschale noch so weit weg wie die Erde vom Mond gewesen, und jetzt hatte uns Guido Buchwald mit seinem Kopfballtor nach Flanke von Kögl auf Wolke neun befördert.
Der VfB Stuttgart war Deutscher Meister, ich zog mit meinem ersten ›West-Titel‹ in der Tasche gen Italien.
Kaum einer hatte uns auf der Rechnung, denn Leverkusen war unter den Gegnern der drei Titelkandidaten der schwerste, für Bayer ging es immerhin noch um einen UEFA-Pokal-Platz. Christoph Daum hatte uns für das entscheidende Spiel in die richtige Spur gebracht. Wir fuhren schon am Donnerstag in die Sportschule Hennef und haben ganz entgegen den Erwartungen hart trainiert, denn Daum gab die Parole aus: ›Wir geben bis zuletzt Vollgas am Samstag!‹ Und am Ende hatten wir tatsächlich das größere Stehvermögen.«
Mannis Kommentar
In der Bundesliga wurde die Meisterschaft 25-mal am letzten Spieltag entschieden. Diese besonders knisternde Spannung ist nach 2010 aus der Mode gekommen, zweimal Dortmund und danach immer nur die Bayern machten das Titelrennen vor dem letzten Bundesliga-Samstag klar, Bayern München 2014 sogar schon am 27. Spieltag.
Das Saisonfinale 1991/92 gehört zu den ganz großen Fußballdramen. Nicht nur, weil vor dem Buchwald-Paukenschlag drei Teams punktgleich an der Spitze lagen; sondern weil mit Daums Stuttgartern die Mannschaft das Rennen machte, mit der nur Stuttgarter gerechnet hatten.
Es war das Jahr nach der Wiedervereinigung, die Bundesliga spielte mit zwanzig Vereinen, weil Rostock und Dresden aus der DDR-Oberliga hinzugekommen waren. Dortmund hatte von den drei Meisterkandidaten die schlechteste Tordifferenz und war trotzdem vier Minuten vor dem Ende Deutscher Meister: Der BVB führte beim MSV Duisburg seit der 9. Minute durch Stéphane Chapuisat mit 1:0, die Konkurrenz kam nicht in die Puschen.
Guido Buchwald zerstörte mit seinem Tor die schwarz-gelben Träume. Wie fünfzehn Jahre später, bei der Meisterschaft 2007, lauerten die listigen Schwaben im Hinterhalt, um im entscheidenden Augenblick zuzuschlagen.
Das größte Trauerspiel fand in Rostock statt. Augenzeugen berichten, sie hätten noch nie so viele Männer weinen sehen wie nach dem Frankfurter 1:2 an der Ostsee. Die Aufgabe bei Hansa Rostock hielten die meisten Eintracht-Fans für eine Formalie. Frankfurt war praktisch schon Deutscher Meister. Mit den Spitzenkräften Uli Stein, Uwe Bein, Andy Möller und Anthony Yeboah spielten die Hessen frisch nach vorne; die Medien sprachen von Fußball 2000. Zwar gab es häufig Zoff zwischen Stein und Möller, die merkwürdigen Personalrochaden von Trainer »Stepi« Stepanovic´ provozierten Zwietrachtattacken, aber die Eintracht, da waren sich die Experten einig, war einfach mal dran.
Im entscheidenden Spiel jedoch machten die Nerven nicht mit, die Mannschaft spielte wie gelähmt. Uli Stein sagte hinterher: »Rostock war der Wegweiser für die Zukunft der Eintracht, wir sind falsch abgebogen.« Nach dem Schlusspfiff zerlegte Ralf Weber eine Fernsehkamera und wurde im letzten Moment daran gehindert, Schiedsrichter Berg zu attackieren, der einen berechtigten Elfer nicht gegeben hatte. Nur Trainer Stepanovic´ war abgezockt genug, Ruhe zu bewahren; er prägte den bis heute unvergessenen Spruch: »Lebbe geht weida.«
Zu den Gewinnern von Rostock gehörte ZDF-Reporter Töpperwien: Er stand dabei, als ein reicher Eintracht-Fan die zwanzig Tausender, die er als Prämie für die Mannschaft vorgesehen hatte, wütend in die Luft warf. Töpperwien gehörte zu denen, die beherzt zugriffen.