König Ottos Durchmarsch
In der Saison 1997/1998 führte der Aufsteiger 1. FC Kaiserslautern ab dem 4. Spieltag die Tabelle ununterbrochen an und sicherte sich am vorletzten Spieltag durch ein 4:0 gegen Wolfsburg vorzeitig den Meistertitel – ein beispielloser Durchmarsch. Olaf Marschall hat mit seinen 21 Toren in der gesamten Saison wesentlich dazu beigetragen:
»Wir mussten am 33. Spieltag gegen Wolfsburg ran, Bayern München als unser ärgster Verfolger reiste nach Duisburg. Wir rechneten mit einem Sieg der Bayern und damit, dass die Meisterschaft am letzten Spieltag entschieden würde. Es ging auch sehr gut für uns los, nach knapp einer Stunde führten wir mit 3:0, und es war klar, dass wir das Spiel gewinnen. Der Endstand war 4:0.
Die Blicke richteten sich also nach Duisburg, dort wurde noch gespielt und es stand unentschieden: 1:1. Wir fieberten dem Schlusspfiff entgegen, und als er kam, gab es kein Halten mehr – alle stürmten auf den Rasen. Es war Wahnsinn. Eine Viertelstunde feierten wir in der Kabine mit Sekt, dann gingen wir aber auch wieder raus zu den Fans. Für eine Meisterfeier war eigentlich nichts organisiert, alles war spontan, da wir mit einem Finale am 34. Spieltag gerechnet hatten. Die Wolfsburger feierten mit uns, da sie trotz der Niederlage den Abstieg abgewendet hatten.
Unser Ziel für die Saison war gewesen, die Klasse zu halten, 40 Punkte zu holen. Die hatten wir schnell zusammen. Wir setzten uns früh auf dem ersten Tabellenplatz fest, wir wurden Herbstmeister, und auch im Frühjahr standen wir noch ganz oben. Allmählich dachte man insgeheim schon mal über den Titel nach – öffentlich gesagt haben es aber die wenigsten. Auch die Medien rechneten damit, dass wir irgendwann einbrechen würden. Aber wir hatten eine gute, gefestigte Mannschaft, lauter Topspieler, viele davon Nationalspieler: Reinke, Kadlec, Schjønberg, Sforza, Marschall, Ballack, Hristov – und Otto Rehhagel, einen prima Trainer, der mit seinen Weisheiten wie ›Die Wahrheit liegt auf dem Patz‹ sehr unaufgeregt blieb. Unser Vorteil war zudem, dass wir als Aufsteiger ohne Druck aufspielen konnten, man erwartete von uns nichts. So eilten wir von Sieg zu Sieg und gaben den Druck an die hoch gehandelten Verfolger aus München, Leverkusen oder Bremen weiter.
Nach dem Sieg gegen Wolfsburg wurde eine Woche lang gefeiert, es folgte dann noch ein 1:1 gegen Hamburg, bei dem es für beide Mannschaften um nichts mehr ging. Ich machte an dem Tag mein 21. Tor, einen Elfmeter. Mit ein bisschen Glück hätte ich auch noch Torschützenkönig werden können, aber Ulf Kirsten traf einmal mehr als ich. Ich gönne es ihm, wir wurden schließlich Meister.«
Mannis Kommentar
Der 1. FC Kaiserslautern in den Neunzigerjahren, da kommen viele Bilder hoch: die jubelnden Stefan Kuntz, Gerry Ehrmann und Tom Dooley nach der Deutschen Meisterschaft 1991, der weinende Andi Brehme in den Armen von Rudi Völler nach dem Abstieg 1996, der triumphierende Otto Rehhagel auf der Tartanbahn des Münchner Olympiastadions nach dem 1:0-Auftaktsieg bei den Bayern in der Meistersaison.
Die Überraschungsmeisterschaft mit dem Aufsteiger Lautern war für »König Otto« eine riesige Genugtuung. 1996 haben ihn die Bayern gedemütigt und rausgeworfen, Uli Hoeneß schickte ihm noch diese wenig feine Bemerkung hinterher: »Otto Rehhagel ist ein Trainer für viele Vereine in der Welt – aber nicht für Weltvereine.«
Für einen erfolgreichen Aufsteiger wie Rehhagel, der es vom gelernten Maler über den eisenharten Verteidiger bis zum unantastbaren Fußballherrscher von Bremen gebracht hatte, muss dieser Abgang die schlimmste denkbare persönliche Niederlage gewesen sein. Seine mühsam kontrollierte Schadenfreude, nachdem zwei Jahre später der »Weltverein« vom Provinzclub aus der Pfalz auf Distanz gehalten wurde, war grenzenlos. Das Rückspiel haben die Lauterer übrigens auch (mit 2:0) gewonnen.
Die ohnehin heißblütigen – und manchmal nicht besonders fairen – Fans der Roten Teufel drehten am Rad: 100 000 erwarteten den Deutschen Meister vor dem Rathaus, oben vom Berg grüßte das Stadion, das mehr als symbolisch in Kaiserslautern über allem schwebt. Der Lautern-Fan lernt in seinem Leben die komplette Skala aller möglichen Emotionen kennen. Nur ein winziges Beispiel: Eine Woche nach dem Abstieg fuhren die Lauterer im Mai 1996 nach Berlin und gewannen – 1:0 gegen Karlsruhe – den DFB-Pokal.
Tollhäuser sind keine Kompetenzzentren; der Verstand wird dort regelmäßig am Eingang abgegeben. Und drinnen auf der Bühne präsentieren sich die bekannten Charakterrollen: der redliche, aber ahnungslose Vereinsfunktionär; der wohlhabende oder angeblich wohlhabende Profilneurotiker, der den Verein nur für sein Ego nutzt; der eingeschworene (Edel-)Fan, der wenig wirklich weiß, aber in allen sportlichen und wirtschaftlichen Angelegenheit mitreden oder, noch schlimmer, mitbestimmen will. An diesem gefährlichen Zusammenspiel fehlgesteuerter Charaktere ist der FCK später gescheitert: teure Fehleinkäufe, verdeckte Gehaltszahlungen, Steuerhinterziehung. 8,9 Millionen Euro an Steuern mussten nachgezahlt werden, der Schuldenstand betrug 2002 rund 40 Millionen Euro. Das Desaster endete 2005 mit dem zweiten Abstieg aus der Bundesliga. Aber nur vorläufig. Nach einigen Fahrstuhltrips zwischen Liga zwei und eins ereichten die Lauterer am Ende der Saison 2017/18 die dritte Liga. Ob sie jemals wieder an die goldenen Zeiten der Vereinsgeschichte anknüpfen können, ist fraglich. Für eine fussballverrückte Stadt wie Kaiserslautern ein Desaster.