Bayers Blamage in der Bayernprovinz
Am letzten Spieltag der Saison 1999/2000 sollte der Deutsche Meister Bayer Leverkusen gekürt werden; der Mannschaft von Christoph Daum reichte ein Unentschieden beim Münchner Vorortclub. Es kam anders: Leverkusen blamierte sich mit einem 0:2, vierzehn Kilometer entfernt drehten die Bayern nach einem 3:1-Sieg über Werder Bremen am Rad, die »Meistermacher« aus Unterhaching erschienen später geschlossen zur Siegesparty. Der Leverkusener Goalgetter Ulf Kirsten war am Boden zerstört:
»Dieser 20. Mai 2000 war für uns eine einzige Katastrophe. Wir hatten die Bayern an den letzten Spieltagen der Saison immer schön mit drei Punkten auf Distanz gehalten. Vor dem Unterhaching-Desaster hatten wir schon 73 Punkte gesammelt und ganze zwei Spiele verloren. In anderen Jahren hätte eine solche Bilanz locker für den Titel gereicht.
Die Schale auf dem Silbertablett serviert gekriegt und dann doch nicht danach gegriffen, alles in einer gespenstischen Zweitliga-Atmosphäre vor gut 11 000 Zuschauern. Die Unterhachinger gingen druckvoll zur Sache, sie waren extrem motiviert, aus welchen Gründen auch immer. Hinterher wurde kolportiert, Uli Hoeneß hätte größere Mengen Würstchen aus seiner Fleischfabrik spendiert. Das halte ich für albern, aber selbst wenn die Bayern eine Siegprämie ausgesetzt hätten, na und? Auch dagegen wäre nichts einzuwenden gewesen.
Viel schlimmer war, dass wir einfach keine Antwort auf den Unterhachinger Siegeswillen fanden. Dabei waren wir sehr selbstbewusst ins Spiel gegangen, vielleicht waren wir schon zu sicher, weil wir vorher so souverän aufgetreten waren. Nach zwanzig Minuten unterlief Michael Ballack das Eigentor zum 1:0 für Haching. Das hat uns noch nicht umgeworfen, das war halt ein unglückliches Ding, kann immer mal passieren. Aber je mehr die Zeit verrann, je wütender wir Unterhachings Tor bestürmten, umso sicherer hauten die Blau-Roten die Bälle hinten weg. Ich selber hatte in dem Spiel keine einzige Torchance, der Kasten war wie vernagelt. Und auf der Bank gab es kaum Alternativen. Zu Beginn der zweiten Halbzeit kam Paulo Rink als weitere Offensivkraft; für ein komplettes Spiel hätte es nach seinem gerade verheilten Muskelfaserriss nicht gereicht. Für ihn blieb Boris Živkovi´cć in der Kabine.
Als Oberleitner in der 72. Minute mit dem 2:0 alles klarmachte, ging für uns die Welt unter. Bayern München hatte uns auf der Ziellinie abgefangen, punktgleich, aber mit einer um sieben Treffer besseren Tordifferenz.
Fast alle haben nach dem Schlusspfiff geheult wie die Schlosshunde. Es gibt ein Foto, auf dem ich dem dicken Calmund weinend in den Armen liege. Ehrlich, an die Szene kann ich mich nicht mehr erinnern. Wir waren allesamt total leer im Kopf, jeder war mit sich selbst beschäftigt und froh, später im Flugzeug zu sitzen. Zu Hause angekommen, haben wir uns noch kurz getroffen und sind dann in die Disco ausgeschwärmt. Bei mir dauerte die akute Phase der Frustbewältigung bis morgens um sechs.«
Manni Breuckmann
Um die Jahrtausendwende gab es im deutschen Fußball immer das gleiche Bild: Auf dem Rasen war ein Podest aufgebaut, auf dem Podest tanzten ausgelassene Spieler, die gerade einen Titel geholt hatten, vom Himmel regnete es glitzernde Metallic-Luftschlangen in den Farben des erfolgreichen Vereins, aus den Boxen donnerte »We are the Champions«.
Und wenn du dann den Blick etwa dreißig Meter nach rechts oder links schwenktest, sahst du Spieler von Bayer Leverkusen. Ob unter Daum oder – nach dessen »Schneesturm« – unter Toppmöller, immer das gleiche, deprimierende Bild. Und mittendrin der heulende oder die Fans tröstende Reiner Calmund.
Ganz besonders schlimm war es 2002: Vizemeister im Fernduell mit Borussia Dortmund – da mussten die Leverkusener wenigstens nicht die feiernden Borussen live sehen –, Niederlage im Pokalfinale gegen Schalke und dann auch noch die 1:2-Niederlage in Glasgow im Champions-League-Finale gegen Real Madrid. Für die Nationalspieler von Bayer Leverkusen (Ramelow, Schneider und Neuville, Ballack war gelbgesperrt) gab es dann als »Sahnehäubchen« noch die 0:2-Niederlage im WM-Finale von Yokohama.
Am allerdümmsten haben sie sich aber im Sportpark von Unterhaching angestellt. Und ich durfte als Reporter dabei sein, welche Freude! Durch wogende Kornfelder wanderte ich von der S-Bahn ins kleine Stadion und war doch etwas befremdet, dass in dieser Provinzatmosphäre der deutsche Fußballmeister ausgespielt werden sollte. Aber: Die Originalschale stand tatsächlich am Spielfeldrand. Und auf der Tribüne mitten in der Meisterkulisse von 11 300 Besuchern saßen Innenminister Otto Schily und DFB-Präsident Egidius Braun. Sie waren auf der falschen Party.
Mein Kollege Günther Koch vom Bayerischen Rundfunk feixte, heute ginge wohl ein großer Traum für mich in Erfüllung, wohl wissend, dass meine Gefühle für Bayer Leverkusen nicht besonders ausgeprägt sind. Aber irgendwie hat mich dieses tragisch-grandiose Versagen dann doch gepackt, ich fühlte am Ende eine Mischung aus Fassungslosigkeit, Mitleid und Wut über die Blödheit der Daum-Truppe. Viele weinten, auch Christoph Daum, der von seinem kleinen Sohn getröstet wurde, einige der mitgereisten 2 000 Fans diskutierten wütend mit Reiner Calmund.
Vierzehn Kilometer weiter, im Olympia-Stadion, ging derweil die Bayern-Meisterparty ab. Und ich hatte am nächsten Morgen das Vergnügen, im »Doppelpass« beim DSF dem noch beschwipsten Uli Hoeneß persönlich gratulieren zu dürfen. Hoeneß kam beschwingt mit der Meisterschale unter dem Arm, mit derselben Trophäe, die noch achtzehn Stunden zuvor der nutzloseste und überflüssigste Gegenstand im Sportpark zu Unterhaching gewesen war.