9.

Anklam, 1861–1864

Wenige Monate nachdem Gustav Lilienthals Herz aufgehört hatte zu schlagen, musste Caroline beim Schreiner in Anklam wieder einen Sarg bestellen, dieses Mal einen sehr kleinen Sarg, kaum größer als eine Hutschachtel. Für Anna Leontine Therese Lilienthal, geboren Januar 1861, gestorben Oktober 1861. Todesursache: Auszehrung. Was sonst. In dreizehn Jahren hatte Caroline acht Kinder zur Welt gebracht, drei waren noch am Leben. Und auch sie lebte noch, ja auch sie, Caroline Lilienthal, die Witwe, die alleinerziehende Mutter, lebte.

Für Annas Trauerfeier machte Caroline ihr dunkles Haar zurecht, flocht es zu Zöpfen, die sie auf ihrem Hinterkopf kranzförmig zusammensteckte. Sie zog ihre schwarzen Kleider an und trug an der linken Hand zwei Ringe: ihren Ehering und den ihres verstorbenen Gatten.

Am Altar sagte Pastor Gutengräber ein paar Verse auf: «Mit Gott fang an, mit Gott hör auf, das ist der schönste Lebenslauf.» Solche Sachen. Es war ja auch für ihn nicht einfach, bei jeder Beerdigung, die Familie Lilienthal betreffend, andere Sätze aus den Schriften der Bibel zu extrahieren.

Caroline konnte der Predigt nicht folgen, ihr Kopf war wie betäubt, eine schwarze stumpfe Leere. Ihre Augen waren trocken, ihr Blick war geradeaus gerichtet, ohne etwas

Die Kinder rückten dicht an Caroline heran. Mutter und Kinder, die letzten Lilienthals, sie pressten sich zusammen wie ein Klumpen matschiger Erde. Otto, Gustav und Marie waren alles, was Caroline noch hatte, und sie waren alles, wofür es sich noch lohnte, am Leben zu bleiben.

«… denn der Staub muss wieder zu der Erde kommen, wie er gewesen ist, und der Geist wieder zu Gott, der ihn gegeben hat», predigte Gutengräber, bis er irgendwann zum Finale kam: «Gepriesen sei der Name des Herrn.»

Als die Trauergemeinde auseinanderging, bat Gutengräber Caroline auf ein Wort. Er berührte sie mit sanftem Druck am Arm und schob sie in den Schatten hinter einer Steinsäule. Umständlich versicherte er ihr sein Beileid fürs verstorbene Töchterlein, mindestens zum fünften Mal an diesem Tag, dann druckste er herum, äußerte ein paar nichtssagende Sätze übers Wetter, bis er endlich damit rausrückte, was er eigentlich sagen wollte: Caroline, die bedauernswerte Witwe, dürfe sich nicht scheuen, ihn, ihren Pastor, die gute Seele Anklams mit besten Verbindungen nach ganz oben, um Beistand und Rat zu bitten. Sie stehe nun allein in der Welt, vor allem ohne männlichen Gebieter und sachkundigen Führer durch die verschlungenen Pfade im Garten des Herrn.

Caroline blickte ihn an, diesen kleinen, unkenhaften,

«Ich bin nicht allein», sagte sie mit fester Stimme. «Ich habe meine Kinder. Otto und Gustav sind dreizehn und zwölf Jahre alt, also fast schon erwachsen.»

«Ach na ja, die Jungen!» Gutengräber machte eine wegwerfende Handbewegung. «Gerade die Jungen sind es, die die Fürsorge eines Mannes brauchen, der ihnen Anstand und Gottesfurcht beibringt.»

Caroline dachte an den Spitznamen, den die Kinder dem blassen Männlein gegeben hatten. «Und wer sollte Ihrer Meinung nach die Position eines solchen Gebieters einnehmen, Pastor Toten- … ähm Gutengräber?»

Gutengräbers Augen rotierten in den Höhlen wie im Wasserglas gefangene Brummer. Er dämpfte die Stimme: «Was den Jungen fehlt, meine Teuerste, ist eine fachkundige Aufsicht. Mir blieb nicht unverborgen, dass sie sich mit Hexenwerk und dunkler Magie beschäftigen. Weißt du denn nicht, dass sie Zeichnungen anfertigen von geflügelten Menschenwesen? Auch kam mir zu Ohren, dass die Jungen – bei allen Heiligen! – ein Gerät planen, mit dem sie fliegen wollen wie Vögel. Fliegen, Verehrteste, du hast richtig gehört: Sie wollen fliegen.»

«Fliegen? Na so was», rief Caroline mit gespielter Empörung. Was bildete sich der Pastor ein? Wollte er sich als Erzieher ihrer Kinder aufdrängen, während sie um ihr verstorbenes Töchterlein trauerte?

 

Otto und Gustav richteten in der geräumigen Dachkammer ihres Hauses eine Werkstatt ein, die nur wenige Eingeweihte

«Operation Storchenflügel», leierte sie die Parole herunter und brachte dann einen Teller herein, belegt mit Hirsekeksen, die Mutter gebacken hatte und die so staubtrocken und hart waren, dass Marie einen Krug Milch zum Einweichen mitlieferte. Sie stellte die Sachen auf dem mit Werkzeugen, Baumaterialien und Papieren bedeckten Tisch ab und tunkte einen Keks in die Milch, bis er eine essbare Konsistenz annahm. Währenddessen schaute sie ihren Brüdern bei der Arbeit an der Flügelkonstruktion zu, an der sie den ganzen Winter über herumwerkelten, streng geheim natürlich.

Für die Flügel hatten sie aus Holzlatten zwei Gerüste von jeweils zwei Metern Länge und einem Meter Breite gebaut und auf Holzböcken abgelegt. Auf die Lattengerüste leimten sie dünne Brettchen aus Buchenspanholz, das die Vogelfedern ersetzte. Hätten sie so viele Federn in Anklam aufgekauft, wie für die Flügel nötig wären, hätten sie sich verdächtig gemacht, und man hätte sie für verrückt erklärt. Wer nur darüber nachdachte, ob ein Mensch fliegen könne wie ein Vogel, galt mindestens als übergeschnappt, wenn nicht als komplett irrsinnig. Oder als Gotteslästerer. Und wenn der Totengräber ihnen auf die Schliche käme, würde er Gendarm Krummholz alarmieren. Im Preußischen Gesetzbuch gab es zwar keinen Paragrafen, der explizit die Verwendung von Flügeln zur Nachahmung des Vogelflugs ansprach, weil dafür der Präzedenzfall fehlte. Aber Pastor Gutengräber hatte im Unterricht erwähnt, dass man dafür den Paragrafen 135, der die Gotteslästerung betraf,

«Wann sind eure verbotenen Flügel endlich fertig?», fragte Marie, den Mund voll mit aufgeweichtem Hirsekeks. Für die technischen Innovationen ihrer Brüder brachte sie wenig Verständnis auf. Sie hätte es lieber gesehen, wenn sie einen Heißluftballon bauten, so wie Graf Z, um damit ans Adriatische Meer zu fahren.

«Wahrscheinlich niemals», sagte Gustav betrübt und pulte an seinen vom Leim verklebten Fingern. «Wir müssen noch Riemen an den Flügeln anbringen, durch die man die Arme zum Festhalten hindurchführen kann. Aber wir haben keine Riemen …»

«Kauft doch welche.»

«Ne, geht nicht, unser Geld ist alle.»

«Kopf hoch, Gustav», sagte Otto. «Wir fangen halt noch ’n paar Schmetterlinge und verkaufen sie an den ollen Hasselbach.»

Jener Hasselbach lebte in einer schiefen Hütte beim alten Exerzierplatz, draußen am Stadttor, und sammelte Schmetterlinge, auch behauptete er, ein pensionierter preußischer Generalleutnant zu sein. Für Große Feuerfalter, Blaue Eichenzipfelfalter oder Feurige Perlmuttfalter hatte er immer ein paar Silbergroschen übrig. Zur Finanzierung des Flügelmaterials hatten ihm die Jungen ihre gesamte Sammlung getrockneter Schmetterlinge, die sie in den Peeneniederungen gefangen hatten, verkauft.

 

«Was kosten denn diese Riemen?», fragte Caroline, die unbemerkt in die Dachkammer gekommen war. Marie hatte

Gustav schloss hinter ihr ab, sicher war sicher.

«Es müssten ordentliche Lederriemen sein, die was aushalten», überlegte Otto laut. «So drei, vier Silbergroschen kosten die vielleicht.»

«Ich habe ein paar Münzen zur Seite gelegt, die gebe ich euch», sagte Caroline. «Ich will ja nicht, dass meine Jungs vom Himmel fallen.»

Mit Gesangsunterricht verdiente sie inzwischen etwas Geld. Anklamer Damen lernten bei ihr Atemtechnik und Tonleitern und wie sie ihre Stimmlippen dehnten und zum Schwingen brachten. Auch ging Caroline bei anderen Familien putzen, verdiente jedoch weder mit Gesang noch mit Saubermachen viel Geld, aber es reichte fürs Essen, manchmal auch für eine Blutwurst oder ein neues Kleidungsstück. Oder für Lederriemen.

Otto wusste, dass seine Mutter eigentlich für ein Kostüm sparte, das im Schaufenster von Brinkmöllers Modeladen ausgestellt war. Er war dabei gewesen, als sie das Kostüm entdeckt und sich unsterblich verliebt hatte: ein Kleid aus dunklem Taft, dazu ein passendes Bolerojäckchen mit weißem Kragen, weißen Manschetten und Rüschen verziert. Billig waren die Sachen nicht. Wenn Otto das Geld gehabt hätte – abzüglich der Materialkosten für die Flügel natürlich –, hätte er es Brinkmöller sofort für das Kostüm auf den Tresen gelegt.

«Du möchtest dir doch dieses Kleid kaufen», sagte er.

Caroline betrachtete die fast fertigen Flügel und die auf dem Tisch liegenden Konstruktionszeichnungen. «Das Kleid? Ach so, ja, weißt du, Otto, so ’n Kleid kann man sich selber schneidern. Habt ihr das alles gezeichnet?»

«Und damit wollt ihr wirklich fliegen? Die Flügel von Vögeln sehen irgendwie anders aus.»

«Natürlich kann man damit fliegen», erwiderte Otto. «Wenn die Flügel fertig sind, müssen wir nur ein bisschen damit üben.»

«Oh fein, da wird der Pastor aber große Augen machen», sagte Caroline und lachte, schloss die Tür auf und ging nach unten, um das Geld für die Lederriemen zu holen.

 

Der alte Anklamer Exerzierplatz lag außerhalb des Stadttors. Früher hatten Otto und Gustav hier Cowboy und Indianer gespielt: Sie waren Chingachgook und Uncas, Hawkeye und Major Heyward, und Marie, wenn sie mal mitkommen durfte, spielte die Indianermädchen Cora und Alice; sie wurde entführt, musste sterben oder Major Heyward alias Gustav heiraten. Für Indianerspiele fühlten sich Otto und Gustav mit ihren dreizehn und zwölf Jahren inzwischen zu alt, jetzt wollten sie das verwilderte Gelände als Flugplatz nutzen. Einmal waren sie beim Sondieren des Geländes vom Totengräber überrascht worden, als sie am Schießplatz den Kugelfang, einen etwa zehn Fuß hohen Wall, mit ausgebreiteten Armen hinuntergelaufen waren. Der Pastor warf ihnen blasphemische Umtriebe vor, doch sie behaupteten, sie würden für Generalleutnant Hasselbach Schmetterlinge fangen. Hasselbach, der gleich um die Ecke wohnte, bestätigte dies, als sich Gutengräber dessen geflügelte Exponate zeigen ließ. Als Gutengräber wieder abzog, war er allerdings nur halb überzeugt.

 

Nun, in einer sternklaren Nacht im Frühling 1862, schlug die Stunde der Wahrheit. Der Mond schien, der Wind wehte

«Beide Flügel zusammen haben ein ganz schönes Gewicht für einen allein», sagte Gustav.

«Man muss nur genug Schwung kriegen», erwiderte Otto und ließ sich von Gustav das zusammengesetzte Flügelpaar auf den Rücken legen. Dann schob er die Arme durch die Riemenschlaufen, und als er sich wieder aufrichtete, stellte er fest, dass die Flügel tatsächlich schwer auf seine Schultern und Arme drückten. Ob es vielleicht eine mathematische Formel gab, mit der man das Verhältnis zwischen Körper- und Flügelgewicht berechnen konnte? Otto war ja erheblich schwerer als so ein Storch.

Mit der Last der Flügel auf dem Rücken stapfte er den Kugelfangwall hinauf. Oben angekommen, drehte er das Gesicht in den Wind. In den Peenewiesen hatten sie beobachtet, wie die Störche immer erst gegen den Wind anliefen, bevor sie abhoben. Und genau so wollte Otto es jetzt auch machen.

Gustav knetete unten auf dem Exerzierplatz vor Aufregung die Finger. Otto hingegen war die Ruhe selbst. «Ich schreib dir ’nen Brief, wenn ich in Amerika angekommen bin», rief er.

«Wirklich?», fragte Gustav. Seiner Stimme war nicht anzuhören, ob er die Frage ernst meinte. Was durchaus möglich war. Gustav war manchmal ein bisschen langsam im Kopf. Wo ich zu laut bin, ist er zu leise, wo bei mir alles rausmuss, bleibt’s bei ihm im Kopf hängen, dachte Otto, und das

Oben auf dem Wall spürte Otto den Wind gegen die Flügel drücken. Er spannte seine Muskeln an, dann lief er los. Zwei, drei Schritte den Hang hinab, so schnell es ging mit dem Gewicht auf den Schultern, bis er nicht mehr konnte und auf dem Platz zum Halten kam.

Gustav kam zu ihm. «Auf deinen Brief aus Amerika werd ich wohl noch ’ne Weile warten müssen», stellte er nüchtern fest. «Hoch biste ja nicht gerade geflogen.»

Otto japste nach Luft, sein Herz raste, und das Blut rauschte ihm in den Ohren. «Ich bin überhaupt nicht geflogen», fuhr er Gustav an, und dann, als er wieder zu Atem gekommen war, entschuldigte er sich. Gustav konnte ja nichts dafür, dass er nicht abgehoben war.

Beim nächsten Versuch musste es klappen. Während Otto die Flügel den Hang wieder raufschleppte, grübelte er, ob sie bei der Konstruktion etwas übersehen hatten. Bei den Vögeln sah’s ganz einfach aus: laufen, abspringen, fliegen und fertig.

«Was machen die Störche anders?», überlegte er laut.

«Vielleicht solltest du vorher ’nen Frosch fressen», rief Gustav. Manchmal hatte er doch Humor.

«Ha-ha», machte Otto. Und los ging’s. Dieses Mal sprang er im Laufen hoch und glaubte, kurz einen tragenden Widerstand unter den Flügeln zu spüren, aber nein, da landete er auch schon wieder auf dem Boden. Er lief weiter, hüpfte, lief, lief, lief und kam dann völlig außer Atem zum Stehen. Nach weiteren erfolglosen Flugversuchen übernahm Gustav, der bald darauf ebenfalls vor Erschöpfung aufgeben musste.

Otto schleppte die Flügel für einen letzten Versuch den Hang hinauf. Als die Wolken den Mond bedeckten, sammelte Otto die letzten Kräfte, lief los und rief: «Ihr blöden Flügel – fliegt! Fliegt endlich!»

Er hüpfte über den dunklen Platz, den Wind im Haar und unter den Flügeln, die wieder nicht abheben wollten. Plötzlich stieß er im vollen Lauf mit etwas zusammen. Gustav war es nicht, an dem war er gerade vorbeigelaufen. Otto stürzte zu Boden. Es knackte, Holz splitterte, ein Flügel zerbrach. Etwas Schweres landete auf Ottos Brust, etwas, das panisch schrie und nach Schnaps roch. Und das mit einer Stimme, die Otto kannte, keuchte: «Heilige Maria und Josef!»

Gutengräber rollte von Otto herunter, und als durch die Fetzen der aufgerissenen Wolkendecke Mondlicht auf die Erde herabfiel, rief er: «Hab ich die Saubande auf frischer Tat ertappt. Hab ich euch, ihr Ketzer.»

 

Der Pastor trieb die Sünder mitsamt dem Beweismaterial durch die Straßen. Gustav schleppte den heilen Flügel, Otto den kaputten, an dem zwei Latten gebrochen und ein paar Spanholzbrettchen abgeplatzt waren.

Gutengräber hatte hervorragende Laune, was zum einen daran lag, dass er einen im Tee hatte, und zum anderen, weil ihm das Jagdglück hold gewesen war. In letzter Zeit hatte er regelmäßig Kontrollgänge zum Exerzierplatz gemacht und sich dort die Nächte um die Ohren geschlagen. «Ich hab euch Burschen damals kein Wort geglaubt. Schmetterlinge sammeln? Für den alten Hasselbach? Dass ich nicht lache. Ha-ha.»

Der Pastor pfiff eine fröhliche Kirchenmelodie, ewiger, gerechter Gott oder so was und paffte beim Gehen seine Pfeife. Doch er trieb die Jungen überraschenderweise nicht in Richtung von Krummholz’ Haus, sondern sie bogen in die Peenestraße ab, wo sie vor der Nummer 35 hielten. Gutengräber klopfte lässig an die Tür, klopfte lauter, wippte in seinen Schuhen, klopfte noch lauter, bis im Haus Caroline Lilienthals verschlafene Stimme zu hören war: Welcher Narr störe ihre Nachtruhe?

«Öffne dem Diener des Herrn deine Tür, meine Tochter», rief er, der Pfeifenstiel steckte zwischen seinen fleckigen Zähnen wie eine Flöte. «Ich bringe dir etwas, das sich auf Irrwegen verlaufen hat.» Den Jungen zuzwinkernd, fügte er leise hinzu: «Gut gesprochen, nicht wahr? Eure brave Mutter wird euch gleich die Hosenböden versohlen, dass es eine Freude ist, und glaubt mir, wenn jemand ’ne ordentliche Tracht verdient, dann ihr beiden.»

Caroline stand in der Tür, bekleidet mit einem hellen Nachthemd aus grobem Leinen, das bis knapp unter die Knie herunterhing wie ein Sack. «Warum sollte ich meine Söhne schlagen, Herr Pastor?»

«Ja und, sind sie denn geflogen?», fragte Caroline.

Gutengräber rupfte die Pfeife aus den Backenzähnen. «Wie – ja und? Verstehst du nicht, was ich sage, meine Tochter? Sie wollten – fliegen

«Habe ich verstanden, Herr Pastor», sagte Caroline. «Kommt rein, Jungs.»

«Moooment», fuhr Gutengräber dazwischen. «Ich und Gott, wir verlangen, dass sie bestraft werden, und zwar durch die Hand ihrer Mutter, hier und jetzt!»

Caroline blickte ihn an wie einen Hund, der mit einem Huhn im Maul erwischt worden war. Ihre Augen wurden flach und kalt. «Haben Otto und Gustav geraucht?»

Gutengräber blickte auf die qualmende Pfeife in seiner Hand. «Nein, das heißt, ich weiß nicht, aber ich glaube nicht …»

«Haben sie ihr Geld fürs Glücksspiel ausgegeben?»

«Worauf willst du hinaus, meine Tochter?»

«Haben sie Bier getrunken? Oder Schnaps?»

«Also, ich denke nicht …»

«Hätten sie geraucht, gespielt oder getrunken, dann hätten sie eine Tracht Prügel verdient. Sehen Sie meine Hand, Hochwürden?»

Carolines Hand hing wie eine Axt vor der Nase Gutengräbers, der den Großteil seiner Selbstzufriedenheit eingebüßt hatte. «Die ist ja nicht zu übersehen.»

«Diese Hand weiß, wie man eine Tracht Prügel gibt – wenn’s einen Grund gibt. Rieche ich Alkohol in Ihrem Atem?»

Caroline beachtete ihn nicht mehr. «So, Jungs, jetzt müsst ihr mir gleich erzählen, wie’s war mit den Flügeln. Warum ist der eine denn kaputt?»

Die Tür fiel krachend hinter Caroline und den Jungen ins Schloss. Gutengräber stand noch davor, als seine Pfeife längst erkaltet war. Dann ging er ratlos nach Hause. Er fühlte eine bittere Kälte in sich, ganz tief drinnen, die Kälte der Einsamkeit. In seinem Haus, dem stillen Haus, betrachtete er an der Wand im Wohnzimmer das Kruzifix und das Gemälde des mit einem Heiligenschein gekrönten Heilands. Dann überzeugte er sich, dass an den Fenstern die Vorhänge zugezogen waren. Er öffnete die unterste Schublade der Kommode, nahm ein leeres Blatt Papier heraus, faltete es in der Mitte, faltete und knickte dann eine Spitze und an den Seiten schmale Falze. Mitten im Wohnzimmer stellte er einen Stuhl zurecht, auf den er stieg und das gefaltete Blatt mit einer Vorwärtsbewegung aus seiner Hand entließ. Es segelte durch den Raum wie ein Vogel im Gleitflug, prallte dann gegen die Wand und fiel zu Boden.

Gutengräber stopfte das gefaltete Papier in den Ofen, schürte die Glut und sah zu, wie das Feuer aufloderte, wie der Papiervogel sich schwarz färbte, sich wölbte, für eine Sekunde über den Flammen tanzte und sich dann auflöste.

Vor dem Zubettgehen kniete Gutengräber vor seinem Hausaltar nieder und betete drei Vaterunser und dann, als er schon im Bett lag, noch ein viertes Vaterunser; man wusste ja nie.