11.

Potsdam, 1864–1866

Im Sommer 1864 staksten die Störche auf der Suche nach Fröschen durch die Feuchtwiesen in den Peeneniederungen, als im Hause Lilienthal ein Abschied bevorstand. Otto hatte das Anklamer Gymnasium mit schmeichelhaftem Zeugnis beendet und wechselte nun – im Alter von sechzehn Jahren – auf die Königliche Provinzial-Gewerbeschule in Potsdam. Am Bahnhof von Anklam, der vor einem Jahr eröffnet worden war, stieg er mit einem Koffer voll Kleidung, Büchern und Skizzenheften – mit Zeichnungen von geflügelten Fluggeräten, bei deren Anblick dem ollen Gutengräber die Zornesröte in die Wangen geschossen wäre – in die Eisenbahn. Der Rest seiner Familie blieb auf dem Bahnsteig zurück. Mutter tupfte mit einem Taschentuch Tränen von ihren Wangen. Gustav kickte einen Stein über den Bahnsteig und sah so einsam und verlassen aus, wie er sich jetzt schon fühlte ohne den großen Bruder. Nur Marie war pragmatisch genug, in Ottos Abreise einen gewissen Vorteil zu erkennen: Die ohnehin nicht üppigen Mahlzeiten konnten nun in drei statt vier Portionen aufgeteilt werden; außerdem hatte Otto ihr das Buch mit den Abenteuern des Grafen Z vermacht.

Als sich die Eisenbahn schnaufend und sprotzend in Bewegung setzte, steckte Otto den Kopf durchs

Durch die Eisenbahn war das moderne Zeitalter in Anklam angekommen. Der erste Abschnitt der Verbindung Angermünde-Stralsund, betrieben von der Vorpommerschen Eisenbahn, schloss Anklam an das sich in Preußen rasch ausdehnende Schienennetz an. Schienen verbanden Städte, Länder und Menschen, die Welt rückte zusammen. Über die Ortschaften Ducherow, Pasewalk und Prenzlau fuhr Otto nach Angermünde und stieg dort in einen Zug um, der aus Stettin kommend nach Berlin weiterfuhr. In Potsdam würde er bei Mutters Stiefschwester Emilie sowie deren Ehemann Louis von Wyszowati, einem pensionierten preußischen Oberstleutnant, wohnen.

Nach einer Odyssee durch Potsdamer Gassen und Gässchen fand er das Haus in der Lindenstraße Nummer 15 und klopfte an. Die Tür wurde aufgerissen, als hätte dahinter jemand gewartet, und Tante Emilie, bekleidet mit einer langen Schürze, tauchte über ihm auf der Treppe auf. Sie war ein stattliches Weib mit großem Busen und vollem Gesicht, angefüllt mit Energie und gutem Willen, ein fleischiges Bergmassiv erdrückender Mütterlichkeit. Laut rief sie: «Mein Junge, mein lieber, lieber Junge, wie groß du geworden bist, aber so entsetzlich dünn und mager wie ’n gerupftes Huhn.»

Auf der Straße blieben einige Passanten stehen. Otto wollte schnell ins Haus verschwinden. Die Sache war ihm peinlich. Doch Tante Emilie füllte den Türrahmen aus, zog ihn an ihren Busen und presste ihm die Luft aus den Lungen. Dem Erstickungstod nahe, hörte Otto sie rufen, dies sei ihr Ottochen, der arme Junge, der ohne einen Vater aufwachsen

Otto war zwischen ihren Brüsten eingeklemmt. Er befürchtete, dass inzwischen halb Potsdam zusammengelaufen war und über seine Leidensgeschichte in Kenntnis gesetzt wurde. Und Tante Emilie fand kein Ende. Nun sei der arme Junge, ihr Ottochen, aber in guten Händen. Bekochen werde sie ihn, damit er Fleisch auf die Rippen kriege. Ihre eigene Tochter Antonie sei ja gerade erst ausgezogen, aber nun sei endlich wieder ein Kind im Hause.

Da rief eine männliche Stimme: «Wo ist der Bursche?»

Der Druck von Tante Emilies Armen ließ nach. Otto tauchte aus der Umklammerung auf und wurde von kräftigen Händen ins Haus gezogen. Louis von Wyszowati war ein Baum von einem Mann: breite Schultern, große Hände und der Rücken wie ein geladenes Gewehr mit aufgepflanztem Bajonett. Seine Miene war aus Granit geschlagen. Das Einzige an ihm, das nicht kantig war, waren die Enden des dunklen Schnurrbärtchens, die gezwirbelt waren wie Korkenzieher.

Tante Emilie schob Otto in der Küche an den Tisch, stellte ihm ein Glas Wasser hin und lud einen Teller voll mit Braten und dampfenden Kartoffeln, die sie unter einem Schwall brauner Soße ertränkte. Otto hatte wirklich Hunger. Als er aber nach Messer und Gabel griff, donnerte Onkel Louis los: «Der Kadett muss sich Kost und Logis erst verdienen!»

«Welcher Kadett?» Otto legte Messer und Gabel wieder auf den Tisch und trank einen Schluck Wasser.

Onkel Louis richtete den Zeigefinger auf ihn wie eine geladene Flinte. «Er ist der Kadett.»

Otto verstand nicht. «Ich werde nach den Ferien die Gewerbeschule besuchen.»

Otto stellte das leere Wasserglas vorsichtig ab.

«Preußische Tugenden, Kadett Lilienthal», sagte Onkel Louis. «Morgen beginnt seine Ausbildung. Und wenn er nur eine Minute zu spät zum Dienst erscheint, setzt’s ein zweites Waterloo.»

Der Duft des in Soße getränkten Bratens machte Otto halb wahnsinnig. «Eine Minute zu spät wonach?», fragte er.

«Eine Minute nach vier, Kadett», erwiderte Onkel Louis und polterte aus der Küche, wobei er sang: «Da grünt des Lorbeers frisches Reis, des tapfern Kriegers hoher Preis, nicht mehr verlässt Victoria – ihr Heldenland Borussia …»

«Ha-ha, du kennst ihn ja», sagte Tante Emilie am Herd, wo sie vergnügt in einem riesigen Topf rührte. «Manchmal ist er ein bisschen seltsam, die lange Zeit beim Militär, da bleibt was hängen.»

Otto schnitt ein Stück Braten ab. «Er meint doch vier Uhr am Nachmittag, oder?»

«Oh nein, er ist Frühaufsteher», sagte Tante Emilie.

 

Über Potsdam ging gerade die Sonne auf, als Otto, noch hundemüde, aber pünktlich zum Appell erschien. Damit war Lektion eins der heiligen preußischen Tugenden erfüllt. Im Garten überwachte Onkel Louis Ottos erste Übung: zwanzig Liegestützen zum Wachwerden, dann zwanzig Kniebeugen, bevor es mit Lektion zwei weiterging. Im Hausflur warteten zwei Dutzend Paar Schuhe und Stiefel in Reih und Glied, der Größe nach geordnet. Onkel Louis drückte Otto die Waffen

«Alle Schuhe?»

«Alle Schuhe!»

«Die Schuhe sind doch sauber, da ist kein Krümelchen Dreck dran …»

«Will der Kadett etwa einen preußischen Befehl infrage stellen?»

Otto musste einsehen, dass er keine andere Wahl hatte. Er hatte kein Geld für ein Mietzimmer oder Essen. Also musste er gehorchen und irgendwie das Beste daraus machen. Er legte die Hände an die Hosennaht, schlug die Hacken zusammen und rief: «Das heiligste aller preußischen Gebote ist die Pflichterfüllung!»

Onkel Louis schien kurz irritiert, dann sagte er mit Blick auf seine Taschenuhr: «Kontrolle um drei viertel sechs, Frühstück um sechs. Vielleicht.»

Während Otto die Schuhe putzte, saß Onkel Louis bei ihm auf einem Stuhl und las eine Ausgabe der Zeitung Provinzial-Correspondenz. Otto rieb die Stiefel mit Wichse ein, verteilte sie mit dem Lappen und schrubbte und polierte mit der Bürste, bis das glänzende Leder noch mehr glänzte. Onkel Louis’ Inspektion um halb sechs ergab, dass Otto bei zwei Paar Schuhen und einem Paar Stiefel nachputzen musste, und um Punkt sechs Uhr servierte ihm Tante Emilie zum Frühstück gebratenen Speck aufs Brot. Immerhin.

 

Für die nächste Lektion – es war unklar, ob es die Tugend Ordnung oder Fleiß war – befahl ihn Onkel Louis in den sonnigen Garten. Inzwischen war es ziemlich heiß geworden. Den Mittelpunkt des Gartens bildete eine quadratische Rasenfläche, gewässert und saftig grün, glatt und sauber wie

Onkel Louis reichte Otto Schere und Maßband und gab die Order aus: «Eineinhalb Zoll!»

Otto überlegte, ob er den Onkel darauf hinweisen sollte, dass jeder Grashalm wahrscheinlich auf genau diese Länge gestutzt war. Dann dachte er an die glänzenden Schuhe und machte sich daran, auf allen vieren über den Rasen zu kriechen, die Länge verdächtiger Grashalme zu messen und hier und da einen Zehntelzoll abzuschneiden.

Bis zum Dienstende verwandelte die Sonne sein Gesicht, Nacken und Arme in krebsrot gebrannte Schmerzzonen. Unterdessen hatte sich Onkel Louis im Schatten in der Provinzial-Correspondenz über den Waffenstillstand informiert, den Preußen im Bündnis mit Österreich im Krieg gegen Dänemark unterzeichnet hatte. Er war zufrieden, sowohl mit dem preußischen Militär als auch mit seinem Kadetten. Tante Emilie hingegen schlug die Hände über dem Kopf zusammen und nötigte ihrem Gatten das Versprechen ab, ihr Ottochen für den nächsten Gartendienst mit einem Sonnenhut auszurüsten.

Und Otto sehnte das Ende der Schulferien herbei.

 

Nach vier Wochen war es endlich so weit. Als die Ferien vorbei waren, übergab der Onkel seinen Kadetten Otto zur weiteren Erziehung an die Institution Schule. In der Königlichen Provinzial-Gewerbeschule, die ihren Sitz in der Nähe des Berliner Tores hatte, musste Otto langweilige Fächer wie Deutsch, Englisch und Französisch büffeln, lernte aber auch praktische Dinge, die ihn interessierten: Er vermaß Landschaften, zeichnete topographische Karten in

Aus Wochen wurden Monate, aus Monaten zwei Jahre, bis im Sommer 1866 das Schulende bevorstand. In der Schule hatte Otto von seinen Flugexperimenten, die er in Onkel Louis’ Garten unternahm, nichts erzählt, man hätte sich nur darüber lustig gemacht. Onkel Louis ließ ihn unbehelligt an Holzbrettern sägen, feilen und hämmern, während er kopfschüttelnd von seiner Provinzial-Correspondenz aufschaute und zusah, wie unter den Händen des Kadetten eine Konstruktion entstand, die aussah wie ein Windrad im Kleinformat: An einer Stange hatte Otto vier verstellbare Bretter befestigt, die durch Schnüre mit Gewichten verbunden waren und vom Wind oder von Hand bewegt werden konnten.

Als Otto jedoch begann, mit dem Gerät rätselhafte Versuche anzustellen, deren Ergebnisse er in ein Notizbuch schrieb, wurde Onkel Louis’ Neugier so drängend, dass er den Artikel über die hinterfotzigen Österreicher nicht zu Ende lesen konnte. Er tat so, als drehe er eine Kontrollrunde durch den Garten, knipste hier einen Zweig von einer Eibe, dort ein Blatt vom Buchsbaum ab, während er sich wie angelegentlich dem Kadetten näherte, der an dem Gerät drehte, es dann plötzlich anhielt und irgendetwas in dem Büchlein notierte.

«Beim Barte Bismarcks – wozu soll das denn gut sein?», entfuhr es Onkel Louis.

«Ich glaube», antwortete Otto, «dass das Fliegen letztlich auf der Erzeugung von Luftwiderstand beruht und alle Flugarbeit demzufolge in der Überwindung des Luftwiderstands.»

«Fliegen? Wieso fliegen? Lernt man so etwas heutzutage in der Schule?»

Onkel Louis sah aus, als hätte er einen Tritt gegen das Schienbein bekommen. «So? Ach so? Und du bist dir sicher, dass du die Schulprüfungen bestehen wirst?»

Otto zuckte mit den Schultern.

«Jetzt hör mir mal genau zu, Junge», hob Onkel Louis an. «In der Schule verdrehen sie euch jungen Burschen die Köpfe mit überflüssigem Humanismus und mit Unfug wie Luftwiderständen, Schwankungen und Dichtigkeiten. Das Beste wird sein, du gehst zum Militär und schlägst eine ordentliche Laufbahn ein. Das Heer formt den Mann, und es braucht frisches Blut, gerade in diesen Tagen. Die Österreicher fordern uns Preußen heraus, zusammen mit ihren Verbündeten, zum Beispiel diesen separatistischen Württembergern. Daher ist es die heilige Pflicht eines jeden Preußen, der in Saft und Kraft steht, mit Säbel und Flinte Abtrünnigen wie den Württembergern Manieren beizubringen. Du bist gut vorbereitet, hast unter meiner Führung Pünktlichkeit, Ordnung und Fleiß gelernt, und wenn du in einem Stück aus der Schlacht zurückkehrst, steht deiner militärischen

«Mhm», murmelte Otto und drehte am Windrad.

 

Als Otto nach dem letzten Schultag ins Haus in der Lindenstraße kam, legte er sein Abschlusszeugnis auf den Küchentisch und ging in den Garten. Tante Emilie und Onkel Louis – der Oberst mit vor patriotischem Stolz geschwollener Ordensbrust – waren zur Kaserne gegangen, um der feierlichen Verabschiedung der Soldaten beizuwohnen, die beim sogenannten Mainfeldzug den aufsässigen Württembergern, Badenern und Hessen in die Hintern treten sollten. Tante Emilie hatte mit Krieg zwar nichts am Hut («Können die sich alle nicht mal vertragen?»), aber sie mochte die Marschmusik, auch wurden Punsch und Schnittchen gereicht.

Otto stellte am Rand der Rasenfläche das Experimentiergerät auf, ermittelte Werte und verglich sie mit den Formeln aus seinen technischen Handbüchern. Dabei stellte er immer wieder fest, dass das eine überhaupt nicht mit dem anderen übereinstimmte. Er würde selbst ein paar mathematische Formeln entwickeln müssen. Gerade verfolgte er eine vielversprechende Idee, als er lautes Geschrei hörte.

Tante Emilie platzte aus der Hintertür und kam mit rudernden Armen in seine Richtung gelaufen, wobei sie achtlos übers akkurat geschnittene Grün walzte. Das Hütchen, das sie für die Militärfeier aufgesetzt hatte, rutschte ihr vom Kopf, und vor dem bebenden Busen sprangen zwei Knöpfe vom Kleid. In der Hand hielt sie Ottos Abschlusszeugnis, und dann schnappte sie sich ihn und drückte ihn an ihren Busen. «Wie glücklich du mich machst, mein Junge», gurrte sie. «In fast allen Schulfächern hast du vorzüglich gute

«Unsinn – nicht dein Essen war’s», drang Onkel Louis’ Stimme in die weichen Tiefen von Tante Emilies Busen an Ottos Ohren. «Sondern es ist meine Erziehung, die preußischen Tugenden, die ich ihn gelehrt habe.»

Otto wand sich aus Tante Emilies Umarmung. Onkel Louis stiefelte über den Rasen, auch er nahm keine Rücksicht auf die Grashalme. Er hatte eine Flasche Schaumwein mitgebracht, bereits entkorkt, sowie drei Gläser, die er verteilte und vollschenkte. Feierlich erklärte er, auf dem Zeugnis die Notiz des Schuldirektors gelesen zu haben, der dem Absolventen Otto Lilienthal persönlich gratuliere zum besten Examen, das ein Schüler an der Königlichen Provinzial-Gewerbeschule je erreicht habe.

Onkel Louis’ Stimme war weich wie gebürstetes Katzenfell, in seinen Augen glitzerten Tränchen. «Junge», sagte er, «du machst uns stolz. So glücklich bin ich nicht mehr gewesen, seit wir den Froschfresser Napoleon Bonaparte von seinem hohen Ross gestoßen haben. Mit dem Zeugnis bringst du es zum Oberleutnant, wie ich es bin, ach, was sag ich: Damit bringst du es zum General!»