13.

Berlin, Herbst 1866 – Herbst 1867

Tausende Menschen strömten in jenen Jahren aus Dörfern und Kleinstädten nach Berlin, mit einem fröhlichen Lied auf den Lippen und erfüllt von der naiven Hoffnung auf ein besseres Leben. Die Stadt saugte sie ein, die Stadt, der gierige, lüsterne Moloch, in dessen Bauch die hungrigen Maschinen dampften und zischten, rumpelten und ratterten, fraßen und spuckten. Durch die Adern der Stadt floss das Blut, bestehend aus Menschen, die die Maschinen mit Eisen und Öl fütterten, mit Stoff und Garn, mit Leder und Gift. Die Adern waren die vermüllten Straßen und dunklen Gassen, durch die das Menschenmaterial schwemmte, zerlumpte Gestalten, die den Maschinen dienten. Maschinen, die Eisen schmiedeten, Stahl kochten, Kleider nähten, Gulasch in Metalldosen schweißten. Maschinen, die neue Maschinen bauten, mehr und mehr Maschinen und immer mehr Maschinen.

Die Menschen wurden die Diener der Maschinen, die sie fütterten und sich selbst fast überflüssig machten, weil es viel zu viele Menschen gab. Die Löhne sanken, und die Stadt fraß und spie die Menschen aus, jagte sie in die dunklen, muffigen Löcher, die ihre Wohnungen waren, ohne Toiletten, aber mit feuchten Kellern, in denen ansteckende Krankheiten grassierten, Tuberkulose, Syphilis, Krätze.

 

Nieselregen sank auf Otto herab wie ein feuchter Vorhang, als er im Herbst 1866 nach Berlin kam, mit einem Taler in der Tasche. Mehr Geld hatte ihm seine Mutter nicht geben können, als er nach seiner Zeit in Potsdam und einem kurzen Urlaub in Anklam aufgebrochen war, um in Berlin ein Praktikum zu absolvieren.

Bis er endlich ein freies Mietbett in einer Wohnung in der Nähe des Oranienburger Tores gefunden hatte, war Otto nass bis auf die Knochen. Die Wohnung – sie schäbig zu nennen, wäre noch freundlich gewesen – lag in einer Mietskaserne, ein mehrgeschossiges, gesichtsloses Haus mit bröckelnder Fassade und Fenstern wie tote Augen, hinter denen die Menschen in engen Kammern lebten. Der Eigentümer der Wohnung vermietete in der engen Bude fünf Betten, einige waren nur auf den Boden gelegte Strohsäcke.

Otto hatte Glück und ergatterte ein Bett mit Gestell und

Am Morgen von Ottos erstem Arbeitstag im Praktikumsbetrieb brachte der Droschkenkutscher nach der Nachtschicht einen Laib Kommissbrot und Hartkäse ins Mietsloch. Auf der Bettkante sitzend, aßen die drei zum Frühstück Brot und Käse, während vor der schmutzigen Fensterscheibe die lärmende Stadt erwachte.

«Die Leute in Berlin woll’n imma wenijer für ’ne Kutschfahrt zahlen», beklagte sich der Droschkenkutscher. «Sojar die reichen Säcke machen een uff kniepig un tun behaupten, sie ham keen Jeld, weil die Arbeiter anjeblich zu jierich sind und mehr Lohn woll’n.»

«Dabei sin det die Unternehma, die den Arbeitern imma wenijer zahl’n», sagte der Rollkutscher, ein bleicher Kerl, der wie vierzig aussah, aber noch keine zwanzig war. «Man kricht ja kaum noch Luft von den janzen Qualm, den die ihre Fabriken rauspusten.»

«Berlin jeht vor de Hunde», sagte der Droschkenkutscher. «Aba wo soll man hin? Woanners isset doch ooch scheiße. Oder, Lilienthal, wie isset in Anklam?»

Der Droschkenkutscher klappte eine zerbeulte Taschenuhr auf, und als Otto einen Blick darauf warf, schnellte er hoch, als ob er einen elektrischen Schlag bekommen hätte. Er zog seine Straßenkleider an, wünschte dem einen erfolgreiche Fahrten und dem anderen angenehme Bettruhe. Dann hastete er das Treppenhaus hinunter, zwei, drei Stufen gleichzeitig nehmend, auf die Straße, zum Oranienburger Tor, wo er in die mit Reitern und Kutschen verstopfte Friedrichstraße abbog und dann weiter in die Chausseestraße. Die Gegend hatte er schon in seiner Potsdamer Zeit erkundet und kannte sich hier aus.

Am ersten Arbeitstag durfte er nicht zu spät kommen. Er drängte sich auf den Bürgersteigen durch dichter werdende Menschenmassen, kam aber in dem zäh und träge dahinfließenden Strom immer langsamer voran, und es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis die Fabriktore in Sicht kamen.

Die Chausseestraße war gesäumt von Fabrikschloten, die wie Obelisken in die Höhe ragten. Die Berliner nannten die Gegend Feuerland oder auch: Birmingham der Mark. Hinter dicken Steinmauern sprühten die Essen Funken, und aus turmhohen Schornsteinen atmeten die Maschinenwerkstätten und Metallgießereien den Rauch aus, der wie ein schwarzes Gebirge den Morgenhimmel verdunkelte. Im Gegensatz zu den Bettkumpanen war Otto elektrisiert vom Anblick der Qualm speienden Schlote. Sicher, die Luft stank erbärmlich, aber das war der Fortschritt, und den gab’s nur mit Maschinen, und Maschinen machten nun mal Dreck. Otto hob den Kopf aus der schlafwandelnden

Berlin gebar die Zukunft, war Herz und Motor, und die Zukunft war: Bewegung, Mobilität, Transport, Beförderung. Alles geriet in Fluss, alles fuhr, schnaufte, ratterte. Gleise wurden quer durch Europa gelegt, Netze geknüpft, Städte verbunden, Länder erschlossen. Die Maschinen schmiedeten Schienen und Eisenbahnen, bogen Bleche, stanzten Nieten, drehten Schrauben, schweißten Stahl – und so geschah es in der Eisengießerei und Maschinenfabrik Schwartzkopff, durch deren Tor Otto nun ging.

Hinter dem Tor öffnete sich ein mit Maschinenteilen, Holzstapeln und Kohlenbergen vollgestellter Hof, gesäumt von verklinkerten Hallengebäuden, deren Außenmauern halb verdeckt waren von Gerüsten. Offenbar wurden die Gebäude erweitert, neue Hallen gebaut. Kräne drehten sich, Pferde zogen Holzbalken, Männer brüllten Kommandos. Der Herr über das Reich aus Eisen, Kohle und Holz war Louis Schwartzkopff, Maschinenmeister und Unternehmer, der die Eisengießerei und Maschinenfabrik mit einem Kompagnon gegründet hatte und Eisenbahnmaterialien wie Weichen, Wasseranlagen und Drehscheiben produzierte.

Otto hatte auf einem Zettel den Namen der Abteilung notiert, wo er sich melden sollte. Arbeiter zeigten ihm den Weg ins Verwaltungsgebäude. Dort schickte man ihn von einem Stockwerk hinauf ins nächste, dann wieder runter. Man reichte ihn durch Vorzimmer und Büros, bis er in einer lärmenden Halle dem Vorarbeiter gegenüberstand, ein Mann groß und dick wie ein Bär im Winterspeck, mit einem Kreuz wie ein Prellbock, Händen wie Kohlenschaufeln. Der Mann, offensichtlich schlecht gelaunt, fuhr Otto an, was ihm einfalle, am ersten Tag zu spät zu erscheinen.

«Zu spät is zu spät», schnauzte der Vorarbeiter. «Hast wohl noch nüscht von preußische Tugenden jehört, wa?»

«Doch, doch – Pünktlichkeit, Ordnung, Fleiß», zählte Otto auf und lächelte, was der zweite Fehler war.

Der Vorarbeiter kochte hoch wie Kartoffelwasser: «Nur Luhmiche lachen! Wat gloobt der denn, watta hier machen wird bei sein Praktikum?» Er zog das Wort Praktikum in die Länge, als sei es etwas Anstößiges.

«Ich will lernen, Maschinen zu konstruieren und zu bauen», sagte Otto, öffnete schnell seine Tasche und nahm ein Blatt Papier heraus, auf dem er die eigene Konstruktion einer Wassermühle gezeichnet hatte.

Der Vorarbeiter warf einen uninteressierten Blick darauf. «Noch keene Haare am Sack, aba konstruier’n woll’n? Junge, die Konstrukteure sind hier die Jötta, un du – du bist Dreck unter mein Fingernagel. Du fängst bei die Grundlagen an, janz unten.» Er drückte Otto ein zurechtgesägtes Eisenrohr in die Hand, schickte ihn an eine freie Werkbank und befahl ihm, die Schnittränder des Rohrs zu entgraten. Er stattete Otto mit alten Handschuhen, einer Feile und einer Drahtbürste aus, gab ihm eine kurze Einweisung, und dann brachte Otto seinen ersten Arbeitstag bei Schwartzkopff damit zu, von Eisenrohren die scharfen Kanten abzufeilen und abzubürsten. An den Eisensplittern riss er sich trotz der Handschuhe die Finger blutig. Die fertigen Rohre musste er in eine Kiste packen, und wenn die Kiste voll war, stellte ihm der Vorarbeiter eine leere Kiste hin und gab ihm weitere Rohre.

Auch in den nächsten Tagen machte Otto nichts anderes, als Eisenrohre zu entgraten, bis er die Nase voll hatte,

Der Vorarbeiter starrte ihn an wie ein Hund einen saftigen Schinken. «Möchte der Herr Praktikant von mir vielleicht die Füße massiert ham? Oda wär vielleicht ’n heißet Bad jenehm? Ick gloob, et hackt! Weitamachen, Bursche – sonst kanna seine Papiere abholen!»

Er legte Otto weitere Eisenrohre auf den Tisch.

 

Ein paar Tage später machte Otto auf dem Firmengelände eine Entdeckung, die er gar nicht hätte machen dürfen, oder besser gesagt: Er machte zwei Entdeckungen, die nicht für seine Augen bestimmt waren. Bei einem Rundgang – er vertrat sich in einer kurzen Pause zwischen zwei Eisenrohren die Füße – fand er zunächst heraus, wo seine mühsam entgrateten Werkstücke verblieben: Das Ergebnis seiner verschorften Hände Arbeit lag achtlos hingekippt zwischen rostigen Drähten, verbogenen Speichen und Schienenfragmenten auf einem Haufen Schrott hinter einer großen Werkhalle.

Otto dampfte vor Groll. Da ergab ja das Schuheputzen bei Onkel Louis mehr Sinn. Er beschloss, dem Vorarbeiter die Meinung zu sagen, als er sah, dass an der Werkhalle eine Seitentür halb offen stand. Aus einem Gespräch unter einigen Arbeitern hatte er mal herausgehört, dass man in dieser Halle an einer streng geheimen Sache arbeite.

Otto schlenderte zu der Tür. Nachdem er sich überzeugt hatte, dass niemand in der Nähe war, spähte er durch den

Wohliges Prickeln kroch ihm den Rücken hinab. Dabei mitzuhelfen, eine solche Eisenbahn zu konstruieren, das wäre nach seinem Geschmack. Während er sich an einen Zeichentisch träumte, mit Stift und Lineal eine technische Zeichnung aufs Papier zaubernd, packte ihn plötzlich jemand von hinten an der Schulter.

«Spionierst du hier rum?», herrschte ihn ein Mann an. Er schien kein normaler Arbeiter zu sein, trug unterm Jackett ein sauberes Hemd. Sein Haar war rot wie rostiges Eisen, seine Miene hart wie eine geballte Faust.

«Ich … ich vertrete mir die Beine», stammelte Otto.

«Was hast du in der Halle gesehen?»

«Nichts, gar nichts, wirklich absolut nichts.»

Der Rothaarige blickte selbst durch den Türspalt. «Stell dich nicht dumm, Junge! Man sieht doch was. Gehörst du zu Borsig?»

«Nein, ich bin hier Praktikant und entgrate Eisenrohre, 263 Stück bislang.»

«Ach? 263 Stück, na so was …»

Otto ergriff die Gelegenheit, seinen Frust über die Sinnlosigkeit seiner Praktikantentätigkeit bei dem Mann abzuladen. «Seit Tagen feile ich Rohre glatt, und dann wirft man sie auf den Müll. Wenn ich das gewusst hätte, wäre ich tatsächlich besser zu Borsig gegangen. Da hätte man mich bestimmt an einer Eisenbahn mitkonstruieren lassen. Auf der

«Nun reicht’s aber», fuhr der Mann ihn an. «Glaub mal nicht, dass du bei Borsig was anderes getan hättest. Praktikant ist Praktikant. Und nun – Abmarsch! Und lass dich an dieser Halle nicht mehr blicken.» Er schob sich an Otto vorbei durch die Tür und zog sie fest hinter sich zu.

 

Zurück an der Werkbank, ranzte ihn der Vorarbeiter an, was ihm einfalle, so lange der Arbeit fernzubleiben. Ein Schwung neuer Rohre warte darauf, entgratet zu werden.

Otto, noch immer erzürnt über die Nutzlosigkeit seiner Tätigkeit, stemmte die Fäuste in die Hüften: «Ich protestiere dagegen, mir eine Arbeit aufzuhalsen, deren Ergebnis auf dem Schrotthaufen landet!»

Der Vorarbeiter brauchte zwei Sekunden, bis er sich wieder gefasst hatte: «Biste ’n Revoluzza? Arbeiterverein, wa? Det sag ick dir, Bursche, wenn de hier agitieren tust, dresch ick dir die Scheiße aus die Ohr’n!»

Otto hämmerte das Herz bis in den Hals. Der Vorarbeiter und er maßen sich mit feurigen Blicken, bis ihm der Vorarbeiter grinsend eine löchrige Zahnreihe präsentierte und mit honigsüßer Stimme sagte: «Ick will ma nich so sein und jeb dir wat Neuet zu lern’.»

In der Kiste, die er Otto jetzt brachte, waren keine Eisenrohre, sondern Bleche, frisch abgeschnittene Bleche zum Entgraten. Das Lachen des Vorarbeiters dröhnte durch die Halle wie das Kläffen eines tollwütigen Hundes.

 

An den Werkbänken standen die Arbeiter stramm, als der Graubart Otto erspähte, plötzlich die Richtung wechselte und mit festen, flinken Schritten auf ihn zukam, die ganze Gruppe im Schlepptau, darunter auch der Vorarbeiter in ungewohnt demütiger Haltung.

«Warum trägst du keine Handschuhe?», fragte der ältere Herr Otto scharf.

«Weil ich kündige», antwortete er wahrheitsgemäß.

Der ältere Herr sah aus, als hätte er einen Schraubenzieher verschluckt. Der Vorarbeiter räusperte sich höflich, beugte sich zu dem Alten hinunter und erklärte, der junge Mann, ein Praktikant, sei durch revolutionäres Verhalten aufgefallen.

«Ich habe mich beschwert, weil ich Rohre und Bleche für den Müll entgraten muss, statt etwas Sinnvolles zu tun, eine Eisenbahn konstruieren zum Beispiel», entgegnete Otto.

«Du bist ein Konstrukteur?» Der Alte schien überrascht. «Wir suchen welche, der Markt ist leer gefegt.»

Bevor Otto antworten konnte, trat der Mann mit dem rostroten Haar an den Alten heran und flüsterte ihm etwas ins Ohr. «Aha. Hast du Referenzen?», fragte der Alte dann.

Otto nahm ein Blatt Papier aus der Tasche und zeigte es ihm.

«Flügel … ja, Flügel für ein Windrad, das eine Wasserpumpe zum Entwässern eines Torfstichs antreibt», bemühte Otto eine Notlüge. Eigentlich war die Zeichnung der Entwurf eines neuen Flugapparats, den er und Gustav bauen wollten – wenn sie hoffentlich bald die Zeit dafür fanden. Nach seinem Schulabschluss war Otto nur für kurze Zeit in Anklam gewesen. Dort hatte er Gustav, der eine Maurerlehre begonnen hatte, kaum gesehen. Aber sie hatten sich hin und wieder Briefe geschrieben, in denen sie Ideen und Skizzen austauschten.

Der Alte wendete ratlos das Blatt Papier. «Interessant, aber was ist das hier für eine Vorrichtung? Soll da einer reinsteigen können und mit den Flügeln schlagen?»

«Das Projekt befindet sich noch in einem frühen Stadium», sagte Otto ausweichend. Die Wahrheit über den Flugapparat konnte er dem Alten natürlich nicht auf die Nase binden, der würde ihn für verrückt erklären.

«Melde dich morgen früh bei Kaselowsky», sagte der Alte, gab ihm die Zeichnung zurück und ging weiter.

«Wer ist Kaselowsky?», fragte Otto.

«Das bin ich», sagte der Rothaarige. «Herzlichen Glückwunsch übrigens – Herr Schwartzkopff hat dich soeben persönlich in meine Konstruktionsabteilung befördert.»

Im Hintergrund knirschte der Vorarbeiter mit den Zähnen.

 

Otto tauschte die Werkbank mit einem Zeichentisch im Konstruktionsbüro, wo er bald erfuhr, dass man trotz aller Geheimhaltung bei Borsig offenbar bereits Bescheid wusste über das Eisenbahnprojekt. Schwartzkopff wollte damit dennoch erst an die Öffentlichkeit gehen, wenn der Prototyp

Am ersten Tag in der neuen Abteilung war Otto auf die Minute pünktlich. In der Nacht hatte er vor Aufregung kaum Schlaf gefunden, sondern sich auf der Betthälfte neben dem schnarchenden Rollkutscher herumgewälzt, während er sich ausmalte, wie er Treib-, Kolben- oder Kuppelstangen konstruierte und man ihm die Entwicklung von Feuerbüchsen, Nassdampfventilreglern oder Blasrohrköpfen anvertraute. Umso größer war die Enttäuschung, als Kaselowsky ihn zunächst einmal mit einer profanen, ja unwürdigen Aufgabe betraute: Otto sollte Kaffee kochen – und zwar für die gesamte Belegschaft im Saal, also einige Dutzend Männer. Er könne doch Kaffee kochen? Das sei nämlich eine Grundvoraussetzung. Sonst kenne er ja den Weg zurück an die Werkbank, wo sich der Vorarbeiter inklusive der Eisenrohre und Bleche über ein Wiedersehen bestimmt sehr freue.

Also kochte Otto eine Plörre, aus der man die mangelnde Leidenschaft herausschmeckte, bis Kaselowsky einsah, dass Otto zwar willens war, seine Talente aber doch eher im technisch-zeichnerischen Bereich lagen als in der Kaffeeküche. Er wies Otto einen Zeichentisch zu, und Otto legte mit Reißzeug, Zirkel, Bleistift, Radierer, Schriftschablonen und Kurvenlineal los.

 

Otto kaute auf einem Stück Brühwurst und überlegte, ob er zufrieden sein konnte oder nicht. Sein Anteil an der Entwicklung moderner Eisenbahntechnologie war doch recht gering, oder: nahezu unsichtbar. Die eine oder andere von ihm gezeichnete Schraube und Muffe mochte vielleicht eingebaut worden sein, womit sein Beitrag bei null Komma irgendwas lag. Wenn überhaupt. Aber immerhin hatte er etwas Geld verdient.

Und Geld brauchte er dringend. Jede Münze sparte er sich eisern vom Munde ab als finanzielle Rücklage, um im Herbst mit dem Technikstudium an der Königlichen Gewerbeakademie beginnen zu können. Und dann war da noch der neue Flugapparat, den er und Gustav bauen wollten – um endlich ihren ersten Vogelflug zu absolvieren. Natürlich kostete auch das Material für die Flügel Geld, es sei denn, Otto würde günstiger an das Material kommen. Vielleicht sogar

 

Im Spätsommer, Ottos Praktikum ging dem Ende zu, schlich er in die Halle und sah den Vorarbeiter mit finsterer Miene um die Arbeiter an den Werkbänken patrouillieren. Die Palisanderlatten lagen vor einem Kabuff, in das sich der Vorarbeiter manchmal zurückzog, um sich vom Herumschreien auszuruhen. Otto machte sich klein, huschte zwischen den Werkbänken hindurch und hatte den Holzstapel beinahe erreicht, als der Vorarbeiter ihn erspähte. Seine Gesichtsfarbe wechselte von hell- zu dunkelrot. «Ham se dir rausjeworfen, du Konstrukteur?», fuhr er Otto an. «Wart, ick find gleich ’n paar hübsche Eisenrohre for dir.»

«Ich wäre eher an diesen Latten interessiert.»

«Die brauch’n aba nicht entgratet zu werden.»

«Ich möchte sie kaufen.»

«Biste blöde? Die sind unvakäuflich.»

«Ich hörte, sie sollen weggeworfen werden.»

«Desterwegen sind se ja ooch unvakäuflich.»

«Weil sie Abfall sind?»

«Jenau, Klugscheißer, und jetzt zieh Leine!»

Otto fischte aus seiner Hosentasche eine Handvoll Münzen und hielt sie dem Vorarbeiter hin. Kurz blitzte Gier in dessen Augen auf, doch dann sagte er: «Willste mir bestechen, Bürschchen? Die ollen Latten sind dem Schwartzkopff seine, nur der bestimmt, wat damit passieren tut.»

So verstrich wertvolle Zeit, und in wenigen Wochen würde das Studium beginnen, und Otto würde keine Zeit mehr haben für das Fluggerät. Er schmiedete Pläne, dachte sogar daran, bei Nacht und Nebel in die Halle einzusteigen, um die Latten einfach so mitzunehmen, verwarf den Gedanken aber wieder. Unmöglich konnte er zehn Fuß lange Holzleisten an den Wärtern, die über das Fabriktor wachten, vorbeischmuggeln, und unterm Hemd konnte er sie ja wohl schlecht verstecken. Außerdem war er kein Dieb, nein, ganz gewiss nicht – im Gegensatz zum Vorarbeiter, dem Otto durch einen Zufall auf die Schliche kam. Sein Freund, der Rollkutscher, erzählte ihm eines Abends vor dem Zubettgehen, er habe an dem Tag eine Fuhre bei Schwartzkopff gefahren. Und zwar habe er für einen großen, grimmigen und geizigen Mann mit rotem Säufergesicht einen Stapel Holzlatten transportiert; der Mann habe ihm übrigens nicht mal einen Pfennig Trinkgeld gegeben.

Nach einigen Nachfragen zum Aussehen des Mannes und der Beschaffenheit der Holzlatten war Otto klar: Der große, grimmige, geizige Mann war niemand anderes als der Vorarbeiter, dem es irgendwie gelungen war, das Holz aus der Fabrik zu schaffen. Was auch erklärte, warum er darauf aufgepasst hatte wie ein Schießhund. Nur – was hatte er damit vor?

Der Vorarbeiter persönlich riss sie auf, erzürnt über die Störung seiner von alkoholischen Getränken begleiteten Abendruhe. Er war zwar nicht die hellste Kerze auf der Torte, aber sogar er begriff sofort, dass der Praktikant, der da unvermittelt vor der Türschwelle auftauchte, ihm auf die Schliche gekommen sein musste – und welche Folgen dies für ihn, den des Diebstahls überführten Vorarbeiters, haben könnte, weswegen er seine Tat sofort gestand. Ja, er habe die Latten vor dem Müll bewahrt, um damit seine Hütte einzuheizen. Er verdiene doch so wenig Geld, und das gehe alles für den Unterhalt von Frau und Kindern drauf, auch Schnaps und Bier würden immer teurer. Während er gestand, kamen ihm die Tränen, und er schrumpfte zusammen wie ein geplatzter Luftsack. Gegen seinen Willen bekam Otto Mitleid mit dem Vorarbeiter, als er aus dem Innern der Hütte, die ihn an das schimmlig-feuchte Haus seiner Familie in Anklam erinnerte, Kinder weinen und das Ofenfeuer knistern und knacken hörte. Er drückte dem Vorarbeiter alle Münzen, die er in seiner Tasche fand, in die Hand. Immerhin konnten noch achtzehn Palisanderholzlatten vor dem Ofen gerettet werden – genug, um damit ein Paar Flügel zu bauen.