Anklam, Herbst 1867
An einem Augustmorgen im Jahr 1867 schleppte Otto den Stapel Palisanderholzlatten auf den Schultern von der Mietskaserne bis zum Lehrter Bahnhof. Er hatte Gustav in einem Brief sein Kommen angekündigt und ihn gebeten, er möge sich sofort Urlaub nehmen und alle Gänsefedern aufkaufen, die in Anklam und Umgebung zu kriegen waren. Die Buchenspanbrettchen ihres ersten Flugapparats hatten sich als untauglich und zu schwer erwiesen. Daher mussten sie das Risiko eingehen, dass man neugierige Fragen stellte, was die Lilienthals mit so vielen Federn zu tun gedachten. Ihnen blieben nur vier Wochen, bis Ottos Studium begann – vier Wochen also, um das neue Fluggerät zu konstruieren, zu bauen und natürlich: damit zu fliegen.
Otto war bester Stimmung. Dieses Mal mussten sie den Durchbruch schaffen. Er hatte sich einen neuen Flugapparat ausgedacht, hatte an den Abenden, zwischen der Arbeit bei Schwartzkopff – der Vorarbeiter grüßte jetzt immer sehr höflich – und der Nachtruhe im halben Bett gezeichnet, gerechnet, verworfen und wieder von vorn begonnen. Doch nun, mit dem neuen Entwurf, dem Palisanderholz und ganz, ganz vielen Gänsefedern, musste es gelingen. Ein erstes Hindernis auf dem Weg zum Menschenflug stellte allerdings bereits der Transport der Latten dar. Die Eisenbahn der Linie Berlin-Stettin fuhr schnaufend im Bahnhof ein, Passagiere strömten aus den Waggons, und als Otto mit seiner Fracht einsteigen wollte, musste er feststellen, dass die Holzstangen nicht durch die Tür passten. Weder von vorn noch quer von der Seite oder von schräg unten oder oben. Hinter ihm ballte sich eine Traube zunehmend ungeduldiger Passagiere: «Geh weg da mit deinen Stecken!» – «Er hält den ganzen Verkehr auf!» – «Gleich fährt der Zug ohne uns ab …»
Otto bat um Nachsicht und fand tatsächlich in einem spitzen Winkel von rechts unten nach links oben die Lücke, durch die sich die Latten ins Waggoninnere bugsieren ließen. Im Wagen hätte er jedoch beinahe ein altes Mütterchen aufgespießt, das sich, einen spitzen Schrei ausstoßend, gerade noch unter den Latten wegduckte. Der Schaffner, der von dem Tumult angelockt in den Wagen eilte, hatte weniger Glück und bekam eine Latte in den Bauch gerammt. Er tobte wie ein Dorfschullehrer und wollte Otto des Zuges verweisen, doch zurück ging es nicht mehr, weil andere Fahrgäste von hinten nachdrängten, und dann fuhr der Zug auch schon los.
Während der Fahrt blieb Otto bei den Latten stehen, die er zwischen Sitzbänken auf dem Boden des Mittelgangs gestapelt hatte. Männer, Frauen und Kinder tuschelten, sie kicherten und zeigten pikiert mit Fingern auf Otto, den es nicht im Geringsten störte, Zielscheibe ihres Spotts zu sein. Er begegnete den feindseligen Blicken mit freundlichem Lächeln. Hauptsache, er hatte es mit den Latten in den Zug geschafft, nur darauf kam es an. Außerdem verloren die Leute bald das Interesse an dem Burschen, der meinte, er müsse einen Holzstapel im Personenzug durch Preußen chauffieren. Männer lasen sich durch die Schlagzeilen der Zeitungen: «Bremen tritt dem Norddeutschen Bund bei», «In New Orleans tötet das Gelbfieber mehr als 3000 Menschen», «Brite läuft 100-Meter-Strecke in elf Sekunden», «Astronom entdeckt Asteroiden Undina». Frauen häkelten Schals und Socken. Kinder nörgelten: «Wie lange dauert’s noch?» – «Ich hab Hunger» und so weiter.
Otto ließ sich auf dem Holzstapel nieder, lehnte den Kopf an eine Sitzbank und döste ein. Eingelullt vom Schienengesang, dem monotonen Di-dumm-di-dumm-di-dumm, sammelte er seine Kräfte, und die sollte er bald darauf beim Umsteigen am Bahnhof von Angermünde brauchen, als er erneut Chaos anrichtete.
Bei dem Versuch, die Latten durch den nächsten Waggon zu zirkeln, stieß er im Gewimmel aus Armen, Beinen, Köpfen, Koffern und Taschen einem Herrn den Zylinder vom Kopf, rammte einem anderen das Holz an die Schulter und schlug schließlich einem dritten Herrn einen Becher aus der Hand, aus dem sich ein Heißgetränk über dessen Hose ergoss. «Du bist wohl übergeschnappt! Ich hau dir die Beißer krumm», fuhr ihn der Mann an. Wütendes Geschrei. Auch andere Herrschaften richteten ihren Unmut auf Otto und seine sperrigen Latten. Man brüllte, drohte ihm Prügel an, und in der aufgeheizten Stimmung bekam es Otto dann doch mit der Angst. Die Menge sammelte sich, die Menge brodelte, die Menge kochte. Schließlich wandten sich gut ein Dutzend Männer mit geballten Fäusten gegen Otto.
Er sah sich schon von Schlägen und Tritten malträtiert zu Boden gehen, als er beim Hantieren mit einer Latte unter den Rock einer jungen Dame geriet, wodurch ihr Rocksaum, ohne dass Otto es merkte, angehoben wurde. Sofort geriet der Vormarsch der Männer ins Stocken, sie wurden plötzlich sehr still und sehr langsam, und ihr Interesse richtete sich auf die panisch schreiende Frau. Bevor sie den Rock herunterziehen konnte, hatte das ganze Abteil gesehen, was sie darunter trug: nämlich gar nichts. Keine Strümpfe, keine Strapse, nicht mal eine Unterhose, nur nackte, helle Haut und ja, bei Gott!, ein Fleck dunkles Haar. Der Rock sank herab wie der Vorhang nach einem skandalösen Theaterstück. Verlegenes Hüsteln, verstohlene Blicke. Die Situation entspannte sich. Otto dachte: Herr im Himmel – was habe ich jetzt wieder gemacht! Die Frau tat ihm entsetzlich leid. Weil ihm nichts Besseres einfiel, hielt er ihr als Entschädigung einen Silbertaler hin, was die Frau natürlich missverstand und ihm eine schallende Backpfeife gab.
Die restliche Fahrt nach Anklam verlief dann aber tatsächlich ohne weitere Zwischenfälle.
Am Anklamer Bahnhof schleppte Otto seine Fracht, von eisigen Blicken der Fahrgäste und des Zugpersonals begleitet, aus dem Waggon. Auf dem Bahnsteig legte er die Latten ab, als Mutter, Marie und Gustav schon angelaufen kamen. Caroline begrüßte ihren Ältesten wie einen Heimkehrer nach langer Kriegsgefangenschaft, sie umarmte ihn, herzte ihn, küsste ihn auf Stirn und Wangen. Auch Marie schloss ihn in die Arme, und als Gustav an der Reihe war, reichten sie sich die Hände, wie unter Männern üblich. Otto lobte Gustavs kräftigen Händedruck. Die Maurerlehre schien ihm gutzu-tun, und Kraft würden sie brauchen bei dem, was zu tun war.
In ihrem Haus in der Peenestraße bugsierten sie die Latten die schmale Treppe hinauf in den Dachboden. Seit ihrer geheimen «Operation Storchenflügel» war hier nichts verändert worden. Auf dem Tisch lag das erste, mit einer Staubschicht überzogene Fluggerät, dessen einer Flügel beim Zusammenprall mit Pastor Gutengräber gebrochen war. Das Werkzeug befand sich an Ort und Stelle, ebenso die Böcke zum Ablegen der Konstruktion. Es kam Otto vor, als wäre er nur eine Woche fort gewesen, obwohl so viel Zeit vergangen war, in der sie wegen Schule und Lehre nur zu gelegentlichen theoretischen Überlegungen gekommen waren. Ottos Haut prickelte. Endlich konnte er seine Pläne umsetzen. Doch als er sich umschaute, stellte er fest, dass etwas fehlte, und zwar etwas Entscheidendes. «Wo sind die Gänsefedern?», fragte er.
Gustavs Blick sank beschämt auf die Bodendielen. «Ich … hab welche bestellt, wie du geschrieben hast, beim Schlachter, bei den Bauern. Aber als ich sie bezahlen sollte, war mein Geld alle …»
«Verdienst du nichts in deiner Lehre?»
«Ja, nein, ich meine: ja – doch … aber ich hatte alles ausgegeben …»
«Ausgegeben – wofür?»
«Für so ’ne Schokolade und solche Bonbons und anderes süßes Zeug halt, was es gab bei dem neuen Stand auf dem Marktplatz.»
Otto blickte Gustav an wie etwas Tierähnliches mit acht Beinen, das aus Wasserpflanzen hervorgekrochen kam. Er liebte seinen Bruder, ja, das tat er, fühlte sich ihm verbunden wie keinem zweiten Menschen auf Erden, aber Gustav schaffte es immer wieder, ihn an den Rand der Verzweiflung zu bringen. «Willst du damit sagen, du hast Süßigkeiten im Gegenwert mehrerer Säcke Gänsefedern in dich reingestopft?»
«Eigentlich bin ich zu dem Stand gegangen wegen der Verkäuferin, die hat so nett gelächelt …»
Otto musste sich setzen. Seine schönen Pläne gingen dahin. Er hatte Kopf und Kragen riskiert, um die Latten zu besorgen, wäre beim Transport beinahe gelyncht worden, und nun drohte das Projekt zu scheitern, weil eine Markttante seinem kleinen Bruder schöne Augen gemacht hatte.
«Wann wird geheiratet?», fragte er gepresst.
«Gar nicht. Sie ist nicht mehr da.»
Otto schüttelte ratlos den Kopf. «Hat wohl genug verdient an dir. Lässt sich von ’nem Mädel blankziehen, statt seine Kröten zusammenzuhalten und in die großartigste Erfindung der Menschheitsgeschichte zu investieren, seit … seit …»
«Du warst wohl noch nie verliebt, oder?»
Otto seufzte. Sein Bruder hatte offenbar gar nichts begriffen. «Mit so was wartet man bis nach der Ausbildung, wenn man ’n Einkommen hat. Sonst bringt das nur Scherereien.»
«’tschuldigung», murmelte Gustav kleinlaut. «Hast du nicht ’n bisschen Geld übrig vom Praktikum?»
«Ich hab zwei Taler und ’n paar Groschen, aber in vier Wochen beginnt mein Studium. Dann muss ich ’n Bett bezahlen, Bücher und Essen kaufen. Glaubst du, der liebe Gott schenkt mir was?»
Von außen klopfte es an die Tür, dahinter waren Mutters und Maries Stimmen zu hören, die vergnügt riefen: «Operation Storchenflügel!»
«Ja ja, ist offen», sagte Otto.
Mutter brachte einen Teller voll Haferkekse herein, Marie einen Krug Milch und zwei Becher. «Ach, wie schön», sagte Mutter, «jetzt sind wir alle wieder beisammen.»
«Ja», sagte Otto matt.
«Ja», echote Gustav.
«Warum hämmert und sägt ihr nicht am neuen Flugdings?», wollte Mutter wissen.
«Weil’s kein neues Flugdings geben wird», erwiderte Otto.
«Euch ist wohl das Geld ausgegangen.»
«Woher weißt du das?», fragte Otto.
«Ihr guckt wie Leute, die was Schönes kaufen wollen, aber pleite sind. Wie viel braucht ihr?»
Otto schüttelte den Kopf. «Du hast doch selbst kaum Geld, Mama.»
«Ich habe euch, und ihr seid mir wertvoller als alles Geld der Welt. Also – wie viel?»
«Ein Sack Gänsefedern kostet etwa ’nen Taler. Da bräuchten wir insgesamt so vier oder fünf Taler», rechnete Gustav vor.
«Gänsefedern? Na ja, warum nicht, solange das Geld nicht in Böhmers Hotel verschwindet.»
«Oder in den Taschen einer süßen Süßigkeitenverkäuferin», sagte Otto anklagend und erleichtert zugleich.
Beim Kauf der Federn traten Otto und Gustav unauffällig und in aller Verschwiegenheit auf. Bei jedem Anbieter kauften sie nur einen Sack, und auf Fragen, was die Lilienthal-Jungs mit so vielen Gänsefedern wollten, antworteten sie ausweichend: «Soll’n Geschenk sein», oder: «Is was für die Kirche.»
Anklam war aber nun mal eine kleine Stadt, und in einer so kleinen Stadt fiel es auf, wenn zwei Burschen – zumal wenn es sich dabei um die Söhne des legendären Tuchhändlers und Revolutionärs Gustav Lilienthal, Gott hab ihn selig, handelte – nahezu alle Gänsefedervorräte aufkauften, wie Schnapshändler alkoholische Getränke vor einem drohenden Alkoholverbot. Otto und Gustav waren mit dem Federsack kaum aus der Schlachterei raus, da erzählte es der Schlachter schon seinen Kunden, und die Bauern berichteten auf dem Markt jedem davon, der es hören wollten, also eigentlich allen.
Nach wenigen Stunden war der Federgroßeinkauf Stadtgespräch. Natürlich erfuhr auch Pastor Gutengräber davon und beorderte umgehend Gendarm Krummholz zur Lagebesprechung. Wenn sich da mal nichts Antiklerikales anbahnte. Krummholz war jedoch nicht überzeugt und forderte den Pastor auf, belastende Beweise zu liefern.
Während also die geistlichen und weltlichen Mächte Anklams über das verdächtige Tun der lilienthalschen Brüder grübelten, schleppten diese fünf mit Gänsefedern prallgefüllte Säcke auf die Dachkammer und schritten zur Tat. Sie hobelten und feilten die Kanten der Latten rund, wobei Otto dank seiner Erfahrungen aus dem Praktikum besondere Fingerfertigkeit bewies. Dann spitzten sie die Enden an, bis die Latten die Formen riesiger Federkiele hatten. Die zurechtgefeilten Holzleisten beklebten sie mit Stoffbahnen, an denen sie die Gänsefedern festnähten – und zwar: Feder für Feder; es waren Hunderte.
Was für eine Plackerei! Das Palisanderholz war hart wie Eisen. Beim Festnähen der Federn stachen sich Otto und Gustav mit den Nadeln die Finger blutig. Aber da mussten sie jetzt durch, im Dienste des Fortschritts und ihres eigenen Forscherdrangs, schließlich galt es, die Grenzen des physikalischen Wissens auszudehnen. So entstanden nach mehrtägiger Arbeit sechs Flügel, jeweils etwa zehn Fuß lang, wobei jeder Flügel aus mehreren Leisten bestand, zwischen denen die mit Federn bestückten Stoffbahnen wie Ventile funktionierten: Wenn man die Flügel nach oben bewegte, sollten sich die Federn öffnen, um die Luft durchzulassen, bei der Bewegung nach unten sollten sie sich schließen, damit der Luftwiderstand den Flügeln Auftrieb gab. Die Flügel wurden nun, drei an jeder Seite, an Bügeln befestigt, die demjenigen, der den Apparat bediente, um Brust und Hüfte geschnallt werden sollten. Mit Steigbügeln, Seilzügen und einem Winkelhebel würde man die Flügel dann auf- und abbewegen können. Ihrer Erfindung gaben Otto und Gustav den Namen Schlagflügelapparat. Er sah ein bisschen aus wie ein riesiger Urzeitflugsaurier. Nach drei Wochen war er bereit für den ersten Einsatz.
Draußen konnten sie den Apparat nicht testen, ohne dass ihnen Gutengräber oder Krummholz auf die Schliche kamen, die schon etwas zu ahnen schienen. Gutengräber schlich seit Tagen ums Haus, und dann tauchte er an jenem Tag plötzlich bei Mutter auf. Er ließ sich in die Küche bitten, wo er zunächst verdächtig unverfänglich übers Wetter plauderte («Gestern hat’s nicht geregnet, und vorgestern auch nicht, aber eigentlich könnte es mal wieder regnen, meinst du nicht auch, Caroline?»), bevor er auf ihre Söhne zu sprechen kam. Otto und Gustav, von Marie gewarnt, warteten mucksmäuschenstill auf dem Dachboden ab, während sich Caroline unten in der Küche schnell eine Geschichte ausdenken musste.
«Ich will ja nicht neugierig sein, meine Tochter, aber in der Stadt erzählt man sich seltsame Dinge über deine Söhne», sagte Gutengräber. Es fiel ihm nicht leicht, sich in Carolines Nähe auf das, was gesagt werden musste, zu konzentrieren. Ein Blick in ihre Augen, ihr breites, maskulines Kinn, die Wölbungen ihrer Brüste unter der Bluse, und sogleich war sein Begehren – seine Liebe! – entflammt wie ein Backofen.
«Dinge? Soso», entgegnete sie.
«Man sagt», er dämpfte die Stimme, «sie würden Säcke voller Federn horten.»
«Na und?»
«Na hör mal: Wozu braucht man so viele Federn?»
«Sind Sie schon mal in Berlin gewesen, Herr Pastor?», fragte Caroline.
«Nein. Warum sollte ich?»
«Weil Sie dann wüssten, dass es keinen Berliner gibt, der nicht sein eigenes Buch schreiben will. In Berlin hält sich jeder für so einzigartig, dass er seine Biographie aufschreiben will. Mein Ottochen wohnt ja nun in Berlin, er hat da Eisenbahnen gebaut, deshalb weiß er das.»
«Ach?»
«Ja, und was braucht man wohl, um ein Buch zu schreiben, Herr Pastor? Schreibfedern! Den Sinn fürs Geschäftliche haben Otto und Gustav von ihrem Vater geerbt. Deswegen haben sie sich gedacht, warum nicht groß ins Schreibfeder-Geschäft einsteigen?»
«Ach so? Schreibfedern? Na so was!»
Gutengräber war von der Geschichte nur halb überzeugt. Aber ihm blieb nichts anderes übrig, als den Brocken zu schlucken, zumindest vorerst. Als er aus der Küche ging, ruckte und zuckte sein Kopf wie ein Hahn, der auf dem Hof nach den Hühnern schaut. Schreibfedern! Zurück auf der Straße, schaute er zum Dach hinauf und glaubte hinter einer halb blinden Scheibe sich bewegende Schatten zu erkennen. Da oben war doch jemand! Der nächste Weg führte ihn geradewegs zum Gendarm Krummholz. Im Hause Lilienthal war etwas im Gange, illegale Machenschaften oder sogar Hexenwerk.
Auf dem Dachboden schlug für Otto und Gustav die Stunde der Wahrheit. Nachdem der Pastor fort war, hängten sie den Schlagflügelapparat an einem Seil unter einen Kehlbalken des Dachstuhls auf. Otto würde den Apparat als Erster testen. Auf der Leiter ließ er sich von Gustav zwischen den Flügeln in den Bügeln festschnallen. Wenn alles so funktionierte, wie Otto es sich ausgedacht hatte, würde schon der erste Flügelschlag den Apparat ein gutes Stück hochheben, um sich dann, angetrieben durch Ottos durchgetretene Beine, in der Schwebe zu halten wie ein gleitender Storch.
Gustav stand auf der Leiter mit einem Zollstock bereit, damit er die Höhe messen konnte, um die der Apparat durch die Flügelschläge aufsteigen würde. Dann trat Otto das Seil mit aller Kraft nach unten. Der Mechanismus begann zu arbeiten. Die Federn raschelten, die Flügel ächzten und knarzten; sie bewegten sich, schlugen auf und nieder in dem Rhythmus, in dem Otto die Beine streckte und anzog. Nach ein paar Ausschlägen verließ ihn die Kraft.
«Wie hoch war ich? Drei Fuß? Vier Fuß?», japste er.
«Ich hab nur mal drei, mal vier Zentimeter gemessen», sagte Gustav.
«So kleine Hüpfer waren das?» Otto war es vorgekommen, als wäre der Apparat bis unter den Kehlbalken aufgestiegen.
«Vielleicht musste schneller treten», schlug Gustav vor.
«Schneller geht nicht», stöhnte Otto. «Aber gut, gut, ich will’s versuchen.» Beim nächsten Versuch holte er das Letzte aus sich heraus. Und noch ein bisschen mehr. Er trat und trat und trat, die Zähne gefletscht, knurrend, jaulend, heulend. «Es muss funktionieren», rief er, ja – schrie er: «Es muss funktionieren! Es muss, es muss, es MUSS!»
Das Herz hämmerte gegen seinen Brustkorb, dann ging nichts mehr. Die Beine verweigerten ihm den Dienst. Gustav stützte ihn beim Abstieg von der Leiter. Otto wankte zum Stuhl und sank nieder. «Wie hoch war ich?»
«Vier Zentimeter, höher geht’s nicht rauf», sagte Gustav. «Der Apparat fällt jedes Mal wieder runter, wenn du die Beine anziehst.»
Als Ottos Herz wieder im Takt war, tunkte er einen Haferkeks in die Milch und knabberte gedankenverloren daran. «Irgendetwas muss ich übersehen haben. Wo ist der Fehler?»
Gustav nahm sich ebenfalls einen Keks. «Erinnerst du dich noch an unseren Tretwagen? Bei dem funktionierte der Antrieb so ähnlich, nur dass durchs Treten Räder statt Flügel bewegt werden. Den Antrieb habe ich ein bisschen umgebaut. Jetzt fährt der Wagen noch besser.»
Der Wagen war Gustavs Erfindung gewesen. Sie hatten ihn gebaut, bevor Otto nach Potsdam gegangen war. Das Gefährt war für zwei Personen konstruiert, etwa sieben Fuß breit, vorne zwei große Räder und hinten ein kleines Rad. Der Fahrer stand vorne und trieb die beiden großen Räder an, indem er mit einem Fuß auf eine geschwungene, sich drehende Stange trat, die mit den Rädern verbunden war. Jetzt erklärte Gustav, er habe ein weiteres Pedal angebaut, wodurch – wenn beide Fahrer traten – eine durchgehende, fließende Drehbewegung entstand, man also nicht immer wieder neuen Schwung holen musste.
«Das isses, Gustav!» Otto sprang vom Stuhl hoch. «So ’ne Tretvorrichtung bauen wir an unserem Flugapparat an. Damit erreichen wir eine höhere Leistung mit weniger Kraftaufwand und können den Apparat nicht nur in der Schwebe halten, sondern damit aufsteigen. Allerdings beginnt in wenigen Tagen mein Studium. Doch in den Semesterferien werden wir einen solchen Antrieb bauen – und fliegen!»
«Meinst du wirklich, dass es dann funktioniert?», fragte Gustav.
«Natürlich! Jetzt bauen wir den Apparat auseinander, und morgen früh machen wir mit den Flügeln ein paar hübsche Gleitflüge hinterm Haus, so wie’s uns auf dem Exerzierplatz beinahe gelungen wäre, wenn uns der blöde Pastor nicht in die Quere gekommen wäre.»
Unterdessen berichtete Gutengräber dem Gendarm Krummholz vom dringenden Tatverdacht gegen die Lilienthalbrüder und verlangte, in der Peenestraße 35 eine Hausdurchsuchung vorzunehmen.
Krummholz zog das Preußische Gesetzbuch zurate. «Da muss ich erst einmal nachschauen, ob ich berechtigt bin, eine solche Durchsuchung durchzuführen.»
«Ja, was denn sonst?», fuhr Gutengräber hoch. «Hier ist Gefahr im Verzuge.»
Doch Krummholz, der Paragrafenreiter, blätterte mit der seligen Ruhe eines Beamten in seinem Gesetzbüchlein, bis er eine Stelle fand, die er mit mahnender Stimme vorlas: «Paragraf 318. Ein Beamter, welcher mit Vorsatz rechtswidrig in eine Wohnung eindringt, soll mit Geldbuße bis zu einhundert Talern oder mit Gefängnis bis zu zwei Monaten bestraft werden.»
Gutengräber zog ein Gesicht, als zwinge ihn ein dringendes Bedürfnis auf den Abort. «Aber es ist doch nicht rechtswidrig, zwei Straftäter dingfest zu machen.»
«Hm, Straftäter? Ich glaube nicht, dass allein der Erwerb einer nicht näher definierten Menge Gänsefedern ein solches Vorgehen rechtfertigt. Eine Hausdurchsuchung will gründlich vorbereitet sein, sonst könnte man mir Fehlverhalten vorwerfen und das silberne Portepee aberkennen.»
«Aber es gibt bestimmt keinen Paragrafen, der uns verbietet, das Haus von außen zu beobachten, oder?»
«Nicht, dass ich wüsste.»
«Na also, was hält uns dann von einer kleinen Observation ab?»
«Meine Frau. Die hat das Abendbrot gleich fertig.»
«Und was soll das bedeuten?»
«Das bedeutet: Ich hab jetzt Feierabend.»
Am nächsten Morgen saß Gendarm Krummholz mit seiner Frau beim Frühstück – Spiegeleier, selbst gebackenes Brot mit zerlaufener Butter, Milch, Käse, Leberwurst –, als Pastor Gutengräber wieder an die Haustür klopfte, nein, dagegenhämmerte wie ein Abrissunternehmer.
Krummholz legte die Zeitung zur Seite, in der er mit einiger Zufriedenheit gelesen hatte, dass Bismarcks Unterstützer bei der Reichstagswahl gerade ihre Mehrheit behauptet hatten – Krummholz war Altkonservativer mit Leib und Seele –, und öffnete die Tür.
Gutengräber schoss herein wie ein Sektkorken, das Gesicht dunkelrot angelaufen: «Der Fall ist gelöst. Ich weiß jetzt, wozu die Lilienthalbrüder die Federn verwenden. Begleiten Sie mich unverzüglich zum Tatort!»
«Aber ich bin noch nicht im Dienst, meine Spiegeleier …»
Gutengräber war schon wieder draußen und rief: «Und vergessen Sie die Handeisen nicht!»
Krummholz zog die Uniform an, setzte die Pickelhaube auf, schnallte den Gürtel mit dem Offizierssäbel um und eilte hinter dem Pastor her in die Peenestraße. Geduckt schlichen sie ums Haus Nummer 35. Krummholz wollte den Pastor zurückhalten, doch da war der schon flink über den Gartenzaun aufs Privatgrundstück geklettert. Krummholz seufzte. Neugier und Diensteifer siegten über den Paragrafen 318, und er folgte dem Pastor über den Zaun in den Hinterhof, wo am Fuße eines Misthaufens ein paar Hühner nach Futter pickten.
«Dort – sehen Sie nur», flüsterte der Pastor heiser und zeigte nach oben.
Krummholz stockte der Atem. An der hinteren Hauswand lehnte eine lange Leiter, die unten vom jüngeren Lilienthalbruder festgehalten wurden, während oben, da wo die Leiter in gut dreizehn Fuß Höhe an den Dachvorsprung stieß, der ältere Lilienthalbruder auf der obersten Sprosse stand. Und – beim Barte des Preußenkönigs! – auf den Schultern hatte er Flügel.
«Sie müssen die Burschen sofort festnehmen», flüsterte der Pastor.
«Aber weswegen denn?», fragte Krummholz ratlos.
«Die wollen fliegen, Herr Gendarm. Fliegen! Denken Sie an Paragraf 135, die Gotteslästerung. Ich weiß Bescheid, dafür gibt’s drei Jahre Gefängnis.»
Krummholz schüttelte den Kopf, allmählich ging ihm der Pastor auf die Nerven. «Kein Mensch kann fliegen.»
In dem Moment sprang der Bursche von der Leiter ab. Für eine Sekunde schien er in der Luft zu schweben, dann stürzte er ab und plumpste in den Misthaufen wie eine abgeschossene Taube.