16.

Berlin und Livand, 1868

Die Schwobschdub in der Berliner Friedrichstraße, nicht weit entfernt vom Oranienburger Tor, wurde von einem geschäftstüchtigen Gastronomen betrieben, der nie in Schwaben gewesen war, aber die Zeichen der Zeit erkannt hatte. Seiner trefflichen Analyse jüngster historischer Ereignisse zufolge war der Deutsche Krieg endgültig vorbei und die Fehde zwischen den süddeutschen Staaten und Preußen somit Geschichte. Berlin – die schillernde, brodelnde, schwarzen Rauch aushustende Metropole – würde nicht länger das Zentrum Preußens allein sein, sondern aller deutschen Länder. Aus allen Regionen würden die Menschen nach Berlin ziehen, sogar aus Bayern, Baden und Württemberg. An der Spree schlug das Herz der Zukunft, hier wirkte die Elite, hier wurden Gesetze gemacht, hier gab es die schärfsten Huren, die schlechteste Luft, das schalste Bier, die lustigsten Lieder. Berlin war nicht nur ein Ort zum Herrschen, Berlin war ein Ort zum Leben und Feiern.

An diesem Sommerabend 1868 hatte auch Graf Eberhard von Zeppelin einen Grund zum Feiern und seinen Bruder Ferdinand eingeladen. Natürlich in die Schwobschdub, die ein bisschen Heimatgefühl in der Ferne verhieß. Ferdinand, der seit einigen Monaten in Berlin im Königlich-Preußischen Generalstab diente, und Eberhard warteten an einem

Die vom Tabakrauch vernebelte Kneipe war proppenvoll, laut, aber zivilisiert ging es an diesem Abend zu. Bislang hatte es weder Schlägereien gegeben, noch war jemand über eine Kellnerin hergefallen. Die Klientel der Schwobschdub setzte sich zusammen aus zugewanderten Schwaben sowie eingeborenen Berlinern, denen nach exotisch-süddeutschen Gerichten und Getränken gelüstete oder die schlicht zu faul oder zu betrunken waren, um in einer traditionellen Kneipe zwei Straßenecken weiter zu saufen. Berliner Weiße und Kümmelschnaps gab’s hier auch, ebenso Spätzle und Grünen Aal, Maultaschen, Nonnenfürzle, Erbspüree und Weinschoppen.

Endlich sah Ferdinand eine Kellnerin aus Richtung des Tresens kommen, über dem Blechschilder philosophische Weisheiten verkündeten: «Säufste, stirbste, säufste nicht, stirbste ooch, also säufste» – und: «Glücklich ist, wer verfrisst, was nicht zu versaufen ist». Für Berliner Verhältnisse noch gut gelaunt, knallte das dralle Frauenzimmer zwei knapp zur Hälfte mit viel Schaum und wenig Bier gefüllte Humpen auf den Tisch, kassierte gleich ab und beschimpfte sie als geiziges Schwabendreckspack, weil Eberhard das Trinkgeld vergaß. Die Brüder stießen an und tranken.

«Jetzt raus mit der Sprache», sagte Ferdinand und wischte sich Schaum aus dem Bart. «Willst du heiraten?» Es sollte ein Scherz sein. Doch Eberhards überraschter Blick verriet, dass Ferdinands Schuss ins Blaue mitten ins Schwarze getroffen hatte.

«Wer hat dir das erzählt? Vater? Oder Eugenia?»,

«Niemand hat’s mir verraten. Aber es liegt doch auf der Hand. Mein kleiner Bruder ist im heiratsfähigen Alter, er hat es weit gebracht und unser Königreich Württemberg im Diplomatischen Corps vertreten und sich in Kreuzlingen ein schönes Gut gekauft, das er zum Schloss umbauen lässt. Was dürfte dem künftigen Schlossherrn in seinem Nest also noch fehlen?»

Eberhard grinste breit. «Sie heißt Sophie von Wolff-Stomersee, eine Freiin aus Livland.»

«Eine Freiin! Darauf lass uns trinken.»

Sie leerten die Becher, und Ferdinand winkte der Kellnerin hinterm Tresen, um Nachschub zu bestellen. Die Frau zeigte ihm den digitus impudicus.

«Und wie läuft’s bei dir?», fragte Eberhard. «Ja, ich weiß, beruflich hast du’s auch weit gebracht, davon hast du in deinen Briefen berichtet, und dass du jetzt sogar unter diesem preußischen General Moltke dienst – alle Achtung! Vater war wirklich ziemlich wütend, dass du zu seinem alten Feind gewechselt bist, aber mittlerweile scheint er seinen Ärger überwunden zu haben. Doch was ist mit den Damen?»

Ferdinand zuckte mit den Schultern. «Hat sich bislang nicht ergeben, aber ich hätte dafür im Moment eh keine Zeit.»

Die Kellnerin knallte zwei schäumende Becher auf den Tisch. Im Hintergrund stimmten ein paar Schwaben ein Lied an: «A Mäsle Bier, a Schöpple Wein, das wär so mei Plaisir, koi Mensch kann ohne Trinka sei, des geit ja schon d’Natur …»

Ein preußischer Student fühlte sich offensichtlich vom schwäbischen Liedgut provoziert. Er stand schwankend am

Ferdinand hob die Stimme, um die schallenden Gesänge zu übertönen: «Aus Livland kommt deine Braut, sagst du?»

«Ihre Familie entstammt einem alten Ratsgeschlecht, das vor einhundertfünfzig Jahren ins Baltikum ausgewandert ist, wo sie auf einem Schloss mit dem Namen Alt Schwanenburg leben …», antwortete Eberhard laut.

«Schwanstein?»

«Nein, Schwanenburg. Alt Schwanenburg.»

Berliner und Schwaben versuchten, sich im hitzigen Gesangsduell gegenseitig zu übertönen. «Wenn einer nimmer trinka ka, so holt ihn bald der Knochama …», sangen die Schwaben, und die Preußen konterten: «Wenn ehm die Kehle trocken ward, und er durstich lechzt nach dem Nassen, so is det der Ritter Art, det se mir nich sterben lassen …»

«Du kommst doch zu meiner Hochzeit im August, nicht wahr?», rief Eberhard.

Diese Frage hatte Ferdinand befürchtet. Natürlich wollte er seinen Bruder nicht enttäuschen, er freute sich sehr für dessen Glück, ja, das tat er wirklich. Aber der Gedanke an eine Hochzeitsfeier im Familienkreise gefiel ihm gar nicht. Von allen Seiten würden sie auf ihn einreden, wann er selbst endlich heiratete. Womöglich würde man ihn an Ort und Stelle mit einer angestaubten Jungfer verkuppeln wollen.

«Tut mir leid, Eberhard, ich glaube nicht, dass ich freibekommen werde», sagte Ferdinand ausweichend. «Meine Dienstzeit in Berlin endet bald, sie war auf ein halbes Jahr befristet, weswegen ich unseren König und General Moltke

«Das ist nicht dein Ernst, Ferdi», fuhr Eberhard auf.

Schwaben und Berliner grölten mit aufgerissenen Mündern und breiten Brustkörben. «Ich bin a Schwob, jetzt sieh i erst jede Stunde meh, was wir für famose Kerle send», tönten die Schwaben, als die Berliner, denen das Gesangsmaterial ausging, die nächste Eskalationsstufe zündeten. Die gesamte Berliner Fraktion stand vom Tisch auf. Ärmel wurden hochgekrempelt, Hände zu Fäusten geballt. An den Schläfen pulsierte das Blut in schwellenden Adern. «Schwäbisches Partikularistenpack», schrien die Berliner.

Ferdinand merkte erleichtert, dass Eberhard durch den Tumult – ein einziger Funke würde ausreichen, um die Situation explodieren zu lassen – von seinen Hochzeitsplänen abgelenkt wurde. Ferdinand brauchte mehr Bedenkzeit, wie er sich elegant aus der Lage winden konnte. Alles andere als eine verbindliche Zusage für die Hochzeit in Livland würde Eberhard als persönliche Zurückweisung werten.

Auch die schwäbische Fraktion bewegte sich jetzt auf die Berliner zu. Andere Kneipengäste räumten rasch die Tische. Die Kontrahenten, deren Gesichter die Farbe alten Rotweins angenommen hatten, brüllten mit aller gebotenen Verachtung hin und her: «Rotzaff!» – «Saubär!» – «Grasdaggl!» – «Jammalappm!» – «Backpfeifenjesicht!» – «Nuttenschwengel!» Speichel sprühte, schon wurden Fäuste ausgefahren, es gab erste Stupser und Knuffe. Die Luft war dick wie Sirup.

«Jetzt sag, dass du zu meiner Hochzeit kommst», drängte Eberhard wieder.

Nein, ich komme nicht, dachte Ferdinand. Und dann: Ja, na gut. Dann wieder: Oder lieber doch nicht. Herrje – er wusste es nicht. Er brauchte mehr Zeit!

Ferdinand legte die Hände als Trichter an den Mund, dann rief er, so laut er konnte: «Randschdoischloddzr! Randschdoischloddzr! Randschdoischloddzr!»

Mit einem Mal war es in der Schwobschdub still wie in der Gruft des alten Soldatenkönigs Wilhelm I. unter der Garnisonkirche. Zum Schlag erhobene Fäuste blieben in der Luft hängen, klauenartig gekrümmte Finger lösten sich von gegnerischen Hemdkrägen. Alle Köpfe drehten sich in Ferdinands Richtung.

«Wat für ’n Ding?», fragte ein Berliner interessiert.

«Randschdoischloddzr», wiederholte Ferdinand.

«Was soll’n det sein?», wollte ein anderer wissen.

«Das ist einer, der betrunken in der Gosse liegt und am Randstein leckt», erklärte Ferdinand mit der Miene eines Professors. Die Schwaben nickten zustimmend, und die Berliner raunten: «Oh ja, Randschdoischloddzr, det is jut, richtich jut.»

Preußen und Schwaben richteten ihre Hemden, Blut wich aus sich glättenden Gesichtern. Man schüttelte Hände, klopfte Schultern, machte Komplimente für die Merkwürdigkeiten fremdartiger Idiome. Schwaben lobten wuchtige Komposita wie «Backpfeifenjesicht», und Berliner fanden Wortschöpfungen aus Flora und Fauna wie den «Grasdaggl» amüsant. Man rückte Tische zusammen, bestellte Berliner Weiße und Schöpple, prostete sich zu, und in einem waren sich alle einig: Der Randschdoischloddzr war unschlagbar.

Ferdinand kehrte zu Eberhard zurück. Das

Eberhard empfing ihn grinsend. «Schau an, unser guter alter Randschdoischloddzr kann Kriege verhindern und Völker vereinen. Du bist ein Held. Aber ich warte noch immer auf deine Zusage. Und denk daran, was unsere Mutter wohl davon halten würde, wenn ihr großer Junge die Hochzeit seines einzigen Bruders schwänzt.»

Das saß. Der Gedanke an die geliebte Mutter ließ Ferdinands soeben gefassten Entschluss zusammenfallen wie ein Kartenhaus. Er seufzte ergeben: «Also gut – ich bin dabei.» Und dachte: Bestimmt wird’s auf der Hochzeit gar nicht so schrecklich.

Er sollte sich täuschen. Viele Biere, Liköre und Schnäpse später – alle Getränke spendierte ihnen die Kellnerin als Dank fürs unversehrt gebliebene Mobiliar auf Kosten des Hauses – verkündete Eberhard mit schwerer Stimme, gerade sei ihm eingefallen, dass seine liebe Sophie ja noch eine Cousine habe – und zwar eine ledige Cousine.

 

Das Geschlecht derer von Wolff war im 17. Jahrhundert aus Niederschlesien ins Baltikum ausgewandert, wo es die Landschaft um Livland für gut befand und sich dort niederließ. Die Familie war in der Gegend am östlichen Ufer des Rigaer Meeresbusens hoch angesehen. Sie wurde in den Reichsfreiherrenstand erhoben, was in der Anrede sehr wichtig klang, in der Adelshierarchie aber nur der Stufe eines Grafen entsprach. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts kaufte dann einer jener Reichsfreiherren von Wolff das alte Schloss Alt Schwanenburg, auch «Weißes Schloss» oder in lettischer Sprache «Vecgulbene» genannt, und ließ es im Stil

An einem lauschigen Abend im August 1868 wirbelte das Brautpaar im Schlosssaal übers Parkett und drehte schwungvolle Pirouetten zur fröhlichen Tanzmusik. Mindestens einhundert Gäste waren nach Alt Schwanenburg gekommen, um der Hochzeit der achtundzwanzigjährigen Sophie von Wolff-Stomersee – jetzt: von Zeppelin – und ihrem Gemahl, dem zwei Jahre jüngeren Grafen Eberhard von Zeppelin, beizuwohnen. Man bejubelte und beklatschte das Brautpaar. Eberhard trat im schicken Frack auf, seine Braut Sophie trug ein sündhaft enges Kleidchen und war mit einer Krone aus Blattgrün geschmückt. Beide strahlten vor glückseliger Zweisamkeit, sie waren der Mittelpunkt des Universums.

Nach dem Eröffnungstanz drängte die Gästeschar aufs Parkett: Verwandte, Freunde, Bekannte, wichtige und halb wichtige regionale Persönlichkeiten. Die Musikanten intonierten auf Flöte und Geige flotte Musik. Füße flogen, Röcke wehten. Die Leute zwitscherten wie Vögel in einer Voliere, und der Saal war erfüllt mit Fröhlichkeit – eine Fröhlichkeit, die jedoch nicht jeden im Saal mitnahm.

Ferdinand saß an der mit Porzellan und Essensresten beladenen Tafel, an der die Gäste gespeist hatten: gebratene Schwäne, gebackene Hechte, Räucherwurst, Hartkäse, Weintrauben. Er brütete über einem leeren Schnapsglas finstere Gedanken aus und machte dabei ein Gesicht wie auf seiner eigenen Hinrichtung. Seine Laune war ins

Schon die Anreise war für ihn die Hölle gewesen. Tagelang hatte er sich in ungefederten Kutschen auf holprigen Straßen, die diesen Namen nicht verdienten, durchrütteln lassen. Sein Hintern fühlte sich an wie mit einem Schinkenklopfer bearbeitet. Trotzdem hatte er sich fest vorgenommen, seinem Bruder und der neuen Schwägerin ein freundlicher und fröhlicher Gast zu sein. Und diesen Vorsatz hatte er tatsächlich befolgt – zumindest bis zur kirchlichen Trauung am Vormittag.

Am Vorabend hatte er nach seiner Ankunft noch die alte und neue Verwandtschaft im Kaminzimmer bei Pfeife und Virginiatabak mit seinen Abenteuern aus Nordamerika unterhalten: Mitreißend hatte er berichtet, wie er am Mississippi gegen Krokodile, Bären und Indianer gekämpft, an Schlachten zwischen Nord- und Südstaaten teilgenommen und eine atemberaubende Ballonfahrt unternommen habe («Meine Damen und Herren, die Zukunft der militärischen Aufklärung gehört der Ballonfahrt, zumal wenn es endlich gelingt, die Ballone lenkbar zu machen!»). Sein Publikum hing ihm an den Lippen, es gab Applaus, man sprach einen Toast auf ihn aus. In der Nacht hatte er geschlafen wie ein Kind in Abrahams Schoß, sich nach dem Frühstück über das sonnige Wetter gefreut und auf der Kutschfahrt zur lutherischen Gemeindekirche in Schwanenburg mit seiner Schwägerin gescherzt.

Doch dann war ihm die Trauung auf den Magen geschlagen. Warum – das konnte er selbst nicht genau sagen. Beneidete er etwa seinen kleinen Bruder um dessen strahlendes Glück mit seiner hinreißenden Braut? Vielleicht. War

Nun saß er allein am Tisch in Gesellschaft von abgenagten Schwanenknochen, ausgelutschten Schweineknorpeln, glotzäugigen Hechtköpfen und zerkrümeltem Weizenbrot. Vor ihm standen sein eigener Teller, auf dem die Speisen unberührt waren, sowie ein leeres Schnapsglas.

Die anderen Gäste fegten übers Parkett, schwatzend, ausgelassen, von Musik umweht. Sogar Ferdinands Vater tanzte mit irgendeiner Tante der Braut, dabei zog er Grimassen wie ein Pennäler, dem man einen Frosch in den Kragen gestopft hatte. Ferdinand hörte die Leute auf der Tanzfläche juchzen und lachen, hörte die Musik und wusste sich nicht anders zu helfen, als ein gefülltes Schnapsglas vom Nachbarplatz zu greifen und den Inhalt runterzukippen. Der Wodka war

Mit dem leeren Glas gestikulierte er in Richtung eines Dieners, der das Porzellan abräumte. Der Diener verstand und holte Nachschub. Während Ferdinand bestrebt war, seine Laune mithilfe von Wodka zu heben, entdeckte er an einem Nachbartisch eine kleine, verloren wirkende Person, deren Gesicht unter der Krempe eines riesigen Hutes verborgen war. Der mit aufgebauschtem Tüll bestückte Hut sah aus wie ein Gemüsegarten, und als der Hut sich plötzlich bewegte, tauchte darunter das spatzenhafte Gesicht einer blassen, jungen Frau auf. Sie blickte Ferdinand aus hellen Augen an, bevor der Hut wieder nach vorn kippte und nur noch ein spitzes Kinn und dünne, zum Strich zusammengepresste Lippen zu sehen waren.

Als der Diener Wodka brachte, bat Ferdinand ihn um die ganze Flasche. Er füllte sein Glas, leerte es und sah zu dem grünen Hut hinüber. Ob die Dame diese ledige Cousine der Braut war? Vier oder fünf Gläschen Wodka später rauschte ihm der Alkohol in den Ohren, und er war überzeugt, dass sie es sein musste. Er beschloss, klare Verhältnisse zu schaffen. Er würde sich doch nicht mit einer Frau verkuppeln lassen, nur weil andere meinten, er müsse für seinen Topf einen Deckel finden – einen Deckelhut, ha-ha!

Mit Flasche und Glas ging er zu der Dame und nahm ihr gegenüber Platz. Die Hutkrempe wanderte nach oben. Ferdinand blickte in ein mausgraues Gesicht mit spitzer Nase, dünnen Lippen, hohen Wangenknochen und blauen Augen. Von Nahem sah sie aus wie ein aus Papier gefaltetes Figürchen. Er konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie irgendwie anziehend auf ihn wirkte wie ein Gewächs mit winzigen Blüten, deren filigrane Schönheit man durchs

Ferdinand nannte ihr seinen Namen, und ihre Stimme war kaum mehr als ein Piepsen, als sie ihren nannte: «Isabella von Wolff.»

Wusste ich’s doch, dachte Ferdinand. «Soso, von Wolff. Dann sind Sie wohl die ledige Cousine der Braut?»

Sie schaute ihn aus Spatzenaugen an, schien kurz irritiert, dann deutete sie auf die Flasche in seiner Hand. «Haben Sie vor, die Flasche allein auszutrinken?», fragte sie mit ihrer leisen Stimme.

«Ich … nein, nein, entschuldigen Sie! Darf ich Ihnen ein Schlückchen einschenken? Aber ich muss Sie warnen: Der Wodka ist scharf wie Bärenpisse … ich meine, wie Bärenurin … nein, wie …»

«Na und?», piepste sie und schob ihr Glas über den Tisch.

Er füllte es zu einem Viertel, und als ihre Hand eine auffordernde Geste machte, schenkte er es voll bis an den Rand. Sie schien zufrieden. Ferdinand füllte auch sein Glas, und beide tranken den Wodka in einem Zug aus. Ferdinand schüttelte sich wie unter einem Schauder. Sie stellte ihr Glas ungerührt ab, als wäre Wasser drin gewesen.

«Alle Achtung», lobte er. «Noch einen?»

Sie schob ihr Glas wieder über den Tisch.

«Sie verstehen sich aufs Wodkatrinken», sagte er.

«Was soll ein kleines, lediges Mädchen, wie ich eins bin, auch sonst in der livländischen Einöde tun, während es sehnsüchtig darauf wartet, bis der Bruder desjenigen Mannes erscheint, der soeben die Cousine geheiratet hat, von der das kleine, ledige Mädchen seit Monaten nichts anderes zu hören kriegt, als dass es diesen Bruder unbedingt kennenlernen muss, denn der sei ja nicht nur ein weltreisender

Ferdinand wusste nicht, was er erwidern sollte, bis er plötzlich gegen seinen Willen lachen musste. Er lachte und lachte, Tränen liefen ihm über die Wangen, und er hielt sich den Bauch, bis er um Luft ringend seine Augen am Hemdsärmel trocknete.

Isabella von Wolff lachte nicht, sondern musterte ihn wie ein schlachtreifes Huhn, wobei sie so steif und kühl wirkte, als wäre sie aus einem Eisblock gemeißelt. Und ihr Ausdruck veränderte sich nicht, während sie gar nichts mehr sagte und Ferdinand dafür umso lebhafter erzählte. Er berichtete von seinen Abenteuern, die er schon gestern Abend vor Publikum im Rauchersalon zum Besten gegeben hatte, fügte einige Details hinzu, die seine Rolle noch heldenhafter erscheinen ließen. Schließlich zeichnete er auf einer Serviette einen Ballon, der durch einen Motor und eine Schiffsschraube angetrieben durch die Luft fuhr. Eines nicht mehr fernen Tages werde er so ein Luftfahrzeug erfinden, erklärte er. Damit werde er nicht nur die Ballonfahrt revolutionieren, sondern dem deutschen Militär einen Vorsprung bei der Feindaufklärung sichern und somit die Überlegenheit in allen künftigen Kriegen.

«Aha», machte Isabella von Wolff.

Ferdinand schenkte Wodka nach, als seine Schwägerin Sophie mit Eberhard, beide kindisch kichernd und vom Tanzen erhitzt, an den Tisch kamen. Sophie und Eberhard wechselten vielsagende Blicke, dann fragte Sophie wie beiläufig ihre Cousine, ob sie sich mit Schwager Ferdinand gut amüsiere.

«Es hätte schlimmer kommen können», antwortete Isabella von Wolff.

 

Und das war vermutlich auch besser so.