18.

Berlin, Herbst 1868

An einem Tag im Herbst 1868 musste Ferdinand eine wichtige Angelegenheit klären. Er verließ am Vormittag seine Wohnung in der Nähe des Oranienburger Tores und machte sich auf den Weg zum Großen Generalstab, wo er General Moltke um ein vertrauliches Gespräch unter vier Augen gebeten hatte. Der Termin war zwar erst in zwei Stunden, aber Ferdinand wollte lieber auf dem Flur warten, als zu spät bei Moltke zu erscheinen, denn als Preuße legte der großen Wert auf Pünktlichkeit. Für das Gespräch hatte Ferdinand seine beste Uniform angezogen. Die steinalte Witwe, bei der er zur Untermiete wohnte, hatte seine Jacke und Hose gewaschen, die Lederstiefel gewichst und gebürstet und die Knöpfe auf Hochglanz poliert, bis sie blitzten und funkelten wie Katzenaugen in der Dunkelheit.

Ferdinands Dienstzeit in Berlin, die auf ein halbes Jahr befristet war, endete in wenigen Tagen. Daher wollte er Moltke um eine Verlängerung bitten. Der Dienst in Berlin war nicht unspannend, auch wenn die Arbeit Ferdinand nicht erfüllte. Er ertappte sich immer wieder dabei, wie seine Gedanken abschweiften und zu den Ballonen wanderten. Neulich hatte ihm ein Vorgesetzter vorgeworfen, er würde mit offenen Augen im Dienst schlafen. Geschlafen hatte Ferdinand zwar nicht, aber einem Tagtraum nachgehangen, in dem er

Als Ferdinand an diesem Vormittag auf dem Weg zum Generalstab in die Friedrichstraße kam, herrschte dort wie oft dichter Verkehr. Vor einer Kreuzung stauten sich die Kutschen. Pferde schnaubten, Kutscher schimpften, und irgendwo trillerte ein Gendarm auf seiner Pfeife.

Ferdinand suchte eine Lücke zwischen den Kutschen und trat auf die Fahrbahn. Beinahe hätte ein Pferd seine Uniform besabbert. Er machte einen weiten Schritt über einen Haufen Pferdedung hinweg, ohne seine Stiefel zu beschmutzen, als plötzlich von links zwischen Kutschen und Pferden ein seltsames Gefährt heranraste. Ferdinand sah zwischen zwei großen Rädern einen dunkelhaarigen Burschen stehen, hinter dem ein blonder Kerl saß.

Was dann folgte, ging zu schnell, als dass sich Ferdinand später an technische Details des Gefährts erinnerte – nur, dass er ein solches Vehikel nie zuvor gesehen hatte. Im ersten Moment war er beeindruckt von der Konstruktion, erst im zweiten Moment wurde er sich der Gefahr bewusst, das mahnende Bild des im Verkehrsgewühls von Saint Paul überfahrenen Rasdingens vor Augen. Ferdinand hörte die Burschen rufen: «Aus dem Weg!» Im Hintergrund trillerte

Als er sich wieder aufrappelte, sah er das Gefährt in einer Seitenstraße verschwinden. Ein dicker Gendarm lief an ihm vorbei und blies aus roten Backen in eine Trillerpfeife. Ferdinand wollte den Burschen ebenfalls folgen, um ihnen die Ohren lang zu ziehen, stellte jedoch fest, dass seine Uniform voller Straßenstaub war. So konnte er unmöglich bei Moltke aufkreuzen. Er musste eine andere Uniform anziehen. Zum Glück hatte er noch genug Zeit.

Das glaubte er zumindest.

 

Im Laufschritt kehrte er in seine Wohnung zurück, zog die schmutzigen Stiefel, Hose und Uniformjacke aus und legte die frischen Sachen zurecht, als es an der Tür klopfte. Vermutlich hatte die Witwe ihn heimkommen sehen. Sie lebte allein in dem Haus, seit ihr Gatte, ein preußischer Offizier, vor zwei Jahren im Deutschen Krieg von einer süddeutschen Kugel getroffen worden war. Bauchschuss, ein schmerzvoller, langsamer Tod, irgendwo auf einem Schlachtfeld in der Gegend von Tauberbischofsheim. Ferdinand hatte lieber nicht erwähnt, dass er dort auf der anderen Seite gekämpft hatte.

Es klopfte wieder. «Ich komme ja gleich», rief er.

Die Witwe klopfte lauter. Ferdinand ging in Unterwäsche zur Tür und schloss auf. Auf dem Gang stand nicht die Witwe, sondern eine kleine, mausgraue Person in schlichtem Kleid, hohen Stiefeln und einem winzigen Hütchen auf dem Kopf – Isabella, die Cousine seiner Schwägerin.

Isabella von Wolff schien entsetzt. Ihr Blick wanderte von Ferdinands Socken über die halb nackten Beinen hinauf zu seiner Brust. Hatte sie noch nie einen Mann in Unterwäsche gesehen? Im Treppenhaus knarrte eine Tür.

Ferdinand dämpfte die Stimme: «Kommen Sie doch herein.»

«Natürlich nicht», sagte Isabella entrüstet und schaute schnell woandershin.

«Nun kommen Sie schon», drängte Ferdinand. Nicht auszudenken, wenn die Witwe ihn in Unterwäsche und in Gesellschaft einer Dame entdeckte. Die Witwe würde ihn für einen Lustmolch halten, der ihr Haus in ein Bordell verwandelte.

Er ließ die Tür offen und ging zurück ins Wohnzimmer, wo er schnell die Uniform anzog, sich vor dem Spiegel durchs Haar kämmte und den Scheitel glatt zog. Isabella folgte ihm zögerlich. Sie stand mitten im Raum, stocksteif wie eine Säule, den Blick zu Boden gesenkt, die Finger ineinander verschränkt wie Bootsplanken. Auch Ferdinand fehlten die Worte. Von draußen drang Straßenlärm gedämpft durchs Fenster, in einer Ecke tickte die Standuhr.

Dann sagte er, mit bangem Blick auf die Uhr: «Ich würde Ihnen gerne einen Kaffee anbieten, aber leider muss ich in einer halben Stunde im Großen Generalstab ein Gespräch führen. Wir beide könnten uns doch am Nachmittag in einem Wirtshaus treffen …»

«Nein», sagte sie ungewöhnlich laut und aufgeregt, ohne ihn anzuschauen. «Ich begleite meinen Vater auf einer Geschäftsreise nach Potsdam. Er wollte eigentlich selbst mit Ihnen sprechen, aber er hat sich heute Morgen den Fuß

«Ja, was denn?», fragte Ferdinand.

Isabella schloss die Augen. «Ich soll Sie im Auftrag meines Vaters fragen, ob Sie gewillt wären, seine Tochter zu heiraten?»

«Wie bitte?» Ferdinand wich zurück und stieß gegen den Beistelltisch. Ein Becher kippte um und kollerte scheppernd über die Tischplatte. Dann war es wieder still, nur die Uhr tickte, und draußen bellte ein Hund.

«Ich denke, also, ich nehme an, also …», sagte Ferdinand umständlich, «also, Ihr Vater meint mit seiner Tochter Sie, oder?»

«Eine Schwester habe ich nicht.»

Ferdinand hustete in seine Faust, als würde ihm eine Gräte quer im Hals stecken. Dann sagte er: «Ich muss zugeben, dass mich diese Frage überrascht.»

«Ja.»

«Nein, sie überrascht mich nicht nur, diese Frage kommt unerwartet wie der Schuss eines Heckenschützen, wie plötzliches Artilleriefeuer im Morgengrauen, wie eine aus heiterem Himmel herabfallende Granate…»

«Ja.»

«Gestatten Sie mir die Frage, ob diese Frage allein die Frage Ihres Vaters oder auch Ihre Frage ist?»

Ihr Blick zuckte, als folgten ihre Augen einer nervösen Fliege, bis sie Ferdinands Augen flüchtig streiften, bevor ihr Blick wieder zu Boden sank. Auf dem Gang vor der Haustür knarrten die Dielen. «Ja», sagte Isabella schließlich, «meine Frage wäre das schon auch.»

 

«Und – wirst du sie heiraten?», rief Eberhard gegen den Kneipenlärm an.

Ferdinand zuckte über einem mit Bierschaum gefüllten Becher ratlos mit den Schultern. Das Gespräch zwischen ihm und Isabella hatte kaum zehn Minuten gedauert, inklusive ausgedehnter Schweigephasen. Schließlich war sie mit den Worten gegangen, ihr Vater erwarte seine Antwort bald. Ferdinand hatte ihr nachgeschaut, wie sie mit wieselflinken, kleinen Schritten die Stufen hinuntergetippelt war, und beinahe hätte er seinen Termin bei Moltke vergessen.

Er war nur eine Minute zu spät angekommen. General Moltke, obwohl preußischer Pünktlichkeitsfanatiker, hatte ihm nicht nur die Verspätung durchgehen lassen, sondern seinem Gesuch um eine Verlängerung zugestimmt, vorbehaltlich des königlichen Einverständnisses. Moltke stellte Ferdinand eine Kommandostellung im 1. Garde-Dragoner-Regiment in Aussicht und ließ ein Bittschreiben an den württembergischen König aufsetzen. Vor wenigen Tagen war die Bestätigung aus Stuttgart eingetroffen: Der König gewährte Ferdinand ein weiteres halbes Jahr in Berlin unter der Bedingung, anschließend als Mentor dem Prinzen Wilhelm die philologischen Flausen auszutreiben.

Ferdinand hätte also einen guten Grund zum Feiern gehabt, zumal Eberhard vorhin unerwartet aufgetaucht war. Er hatte auf dem Weg von Konstanz nach Schwanenburg einen Zwischenhalt in Berlin eingelegt und gab zu, dass er es gewesen sei, der Isabella Ferdinands Adresse gegeben hatte. Aber er beteuerte, den Grund dafür nicht gekannt zu haben. Was Ferdinand ihm nicht so recht glaubte.

Ferdinand hatte keine Lust, als Streitschlichter aufzutreten. Er setzte den Becher an und fand unter dem Schaum einen Schluck Bier, dann antwortete er auf Eberhards Frage: «Aber ich kenne die Cousine deiner Frau doch überhaupt nicht.»

«Zum Kennenlernen habt ihr ein Leben lang Zeit.»

«Aber sie ist … wie soll ich’s sagen? Sie ist eigenartig, so steif und leise …»

«Na und? Ist besser als eine, die dir den Marsch bläst. Überleg mal: Sie gehört dem Adel an wie wir, und durch ihren Vater ist sie mit Geld und Ländereien ausgestattet. Sieh mich an: Mit Sophies und meinem Geld konnten wir das Gutshaus in der Nähe von Schloss Girsberg kaufen, und rate mal, wie wir das Schloss nennen werden.»

«Woher soll ich das wissen? Neu Schwanenburg vielleicht?»

«Nein, es wird Schloss Ebersberg heißen. Ebersberg, verstehst du? Wie Eberhard. Daran siehst du, wohin eine klug gewählte Hochzeit dich bringen kann – in ein Schloss, das deinen Namen trägt. Oder willst du den Rest deines Lebens ein einsames Dasein als jammernder Junggeselle in einer Mietwohnung verbringen?»

Das wollte Ferdinand nicht. Aber diese Isabella heiraten? Nur weil sie vermögend war? Und weil ihr Vater, den Ferdinand mit seinen Abenteuergeschichten in Alt

Neben ihrem Tisch krachte ein Stuhl gegen die Wand. Mittlerweile prügelte sich fast der ganze Saal, inklusive Belegschaft. «Vater gefällt die Idee deiner Hochzeit mit Isabella übrigens auch», rief Eberhard. «Und unsere Schwester Eugenia überlegt schon, welches Kleid sie anziehen wird.»

«Dann scheint das für euch schon beschlossene Sache zu sein», sagte Ferdinand.

«Sieht ganz so aus, lieber Bruder», sagte Eberhard und grinste.

 

In den nächsten Monaten bekam Ferdinand mehrere Briefe aus Schwanenburg geschickt. Er las sie, dann legte er sie in eine Schublade, ohne sie zu beantworten. Die Briefe waren kurz, nur drei, vier Sätze, verfasst in Isabellas winziger, krakeliger Schrift, als habe sie beim Schreiben in einem schaukelnden Boot gesessen, mit dem immer gleichen Inhalt: Ihr Vater – und sie selbst auch – würden gerne wissen, ob Ferdinand einer Hochzeit zustimme. Hochachtungsvoll, Ihre Isabella von Wolff. Ihre Isabella. Seine Isabella? Zum Kennenlernen hätten sie ein Leben lang Zeit, hatte Eberhard gesagt. Ach herrje – was sollte Ferdinand nur tun?

Zunächst tat er das Naheliegende und brachte seine Zeit in Berlin rum. Im Frühjahr 1869 kehrte er nach Stuttgart zurück, um wie versprochen in den Dienst des Königs zu treten und dessen Sohn Prinz Wilhelm zur Räson zu bringen – eine Aufgabe, an der Ferdinand schier verzweifelte. Der Prinz war lahm und faul und uninteressiert an hoheitlichen oder militärischen Fragen. Auch ließ er sich weder für die Wissenschaft, nicht mal für höhere Kunst begeistern, sondern las kitschige Liebesromane, nörgelte an allem herum, nichts

Nach einem dieser frustrierenden Tage setzte sich Ferdinand in seiner Stuttgarter Wohnung an den Schreibtisch und nahm Isabellas Briefe aus der Schublade. Er suchte den Brief heraus, dem seine Zeichnung des Ballons mit Motor und Schiffspropeller beilag, die Ferdinand ihr bei der Hochzeitsfeier geschenkt hatte. Als er jetzt das Blatt betrachtete, stellte er fest, dass er lange nicht mehr an die Ballone gedacht hatte. Zu viele andere Dinge waren ihm im Kopf herumgespukt: der Militärdienst in Berlin, der nihilistische Prinz und Isabella, ja, auch Isabella. Sie hatte ihm die Zeichnung vor einigen Wochen zurückgeschickt – ohne Kommentar. Seither waren keine Briefe mehr gekommen, und er glaubte zu verstehen, was sie ihm damit sagen wollte: Noch einmal würde sie ihn nicht fragen.

Er legte ein Blatt Papier auf den Tisch, stippte die Schreibfeder ins Tintenfass und begann zu schreiben. Warum er das machte, wusste er selbst nicht genau. Vielleicht war es der Frust über seinen Dienst beim nörgelnden Prinzen, vielleicht auch die beängstigende Vorstellung, er würde sein einsames Dasein tatsächlich als jammernder Junggeselle beschließen, wie Eberhard ihm prophezeit hatte. Was auch immer ihn dazu bewogen haben mochte, an diesem Abend schrieb er also seinen ersten Brief an Isabella. Und im August 1869 – genau ein Jahr nach Eberhards Hochzeit – heiratete er sie.