Groß-Lichterfelde, Sommer 1890

Einige Jahre, nachdem Otto aus dem Krieg heimgekehrt war, machte er eine Erfindung, die ihn nicht hoch in die Luft brachte, sondern tief unter die Erde. Trotzdem waren er und Gustav in jener Zeit nicht untätig bei ihren Bemühungen, das Flugproblem zu lösen: Sie unternahmen Versuche mit Flugmodellen und stellten systematische Messungen von Flächen in ruhender und bewegter Luft an. Sie konstruierten sogenannte Rundlaufgeräte – sich drehende Gestelle mit Flügeln –, mit denen sie nachwiesen, dass gewölbte Flügelflächen für den Flug vorteilhafter waren als ebene Flächen, mit denen schon andere Erfinder gescheitert waren. Otto hielt sogar vor dem Potsdamer Gewerbeverein seinen ersten öffentlichen Vortrag zur Theorie des Vogelflugs, der die Zuhörer reichlich irritierte. Die verschnupften aeronautischen Experten waren überzeugt, dass die Zukunft der Luftfahrt für Militär, Wissenschaft und Postverkehr dem lenkbaren Ballon gehörte – und keinesfalls dem Flug mit Tragflächen. Empört mussten sie mit anhören, wie ein Schnösel namens Otto Lilienthal die Ballonfahrt als Fehlentwicklung geißelte. Die Zukunft der Luftfahrt müsse dem Prinzip «schwerer als Luft» folgen, behauptete dieser junge Ingenieur, und nicht dem gasgefüllten Ballon nach dem Prinzip «leichter als Luft».

 

Mitte der 1870er-Jahre reiste Otto ins Steinkohlerevier bei Dresden. Im Auftrag einer Bergbaufirma sollte er den Bergleuten die Vorzüge neuer Bergbaumaschinen vermitteln. Und Otto, der Tüftler, erfand bei dieser Gelegenheit selbst ein solches Gerät: eine Handschrämmaschine, die leicht zu transportieren und einfach zu bedienen war, um mit gehärteten Zähnen das Gestein abzufräsen.

Irgendwann hörte der sächsische Bergbaubeamte Hermann Fischer von der Erfindung des jungen Herrn Lilienthal aus Berlin. Fischer stand in Diensten des Königlichen Steinkohlenwerks Zaukerode, er war ein ruhiger, bedächtiger Zeitgenosse, strebsam, fleißig, spielte Klavier, musikalisch nicht untalentiert, und er war vom lieben Gott mit drei Töchtern beschenkt worden. Er bot dem Junggesellen

Otto verliebte sich in Agnes’ natürliches Wesen und teilte ihre Leidenschaft für Musik. Sie spielte Klavier und sang wie eine Nachtigall wie einst Ottos Mutter. Otto und Agnes musizierten gemeinsam, gaben Hauskonzerte oder traten in der Roten Schänke in dem Ort Potschappel auf. Otto schaute Agnes gern dabei zu, wie sie mit flinken Fingern die Klaviertasten bearbeitete, während er – nicht immer auf den Punkt, aber dafür mit inbrünstiger Leidenschaft – Verdis Troubadour intonierte: «O Leonore, du all mein Glück, meine Lust! Gedenke mein!» Auch in Sachen Ordnung und Sauberkeit erinnerte sie ihn an seine Mutter, wenn Agnes jede Form von Schmutz im Hause Fischer bekämpfte. Nicht ahnend, dass Agnes’ Sinn für Ordnung und ihr Bedürfnis nach Sicherheit ihm, der bei der Verwirklichung seines Traums vom Fliegen kein Risiko scheute, bald sehr enge Grenzen aufzeigen sollten – so eng, dass es ihm die Luft zum Atmen raubte.

Nein, als sie sich im Oktober 1876 auf dem Burgwartsberg bei Pesterwitz verlobten, im Juni 1878 in der alten Kirche zu Döhlen heirateten und dann nach Berlin zogen, schwebte er vor Glück.

 

In Berlin, das aus allen Nähten platzte, war die Wohnungssituation noch immer angespannt. Daher zogen die frischvermählten Brautleute vorerst in Gustavs

Schließlich sah Agnes keinen Ausweg, als zum Gegenangriff überzugehen. Als Gustav eines Tages – Otto war nicht daheim – nörgelte, Agnes habe seine Socken verlegt, rammte sie ihm ihren vom Putzwasser schwieligen Zeigefinger gegen die Brust. Die Käsemaukensocken lägen unter seinem Bett, wo er selbst sie hingepfeffert habe. Wenn er ihr noch ein Mal unberechtigte Vorwürfe mache, werde sie nach Sachsen zurückkehren – und Otto vor die Wahl stellen: sie oder Gustav! Die Drohung wirkte. Aus Angst, Otto ganz zu verlieren, gab Gustav klein bei und teilte fortan seinen Bruder mit dem sächsisch brabbelnden Frauenzimmer. Und eigentlich kochte sie ja gar nicht so übel. Ihre Gartoffelsuppen schmeckten gut, und auch die nachmittäglichen Gaffee un Guchn wollte er eigentlich gar nicht mehr missen.

 

In Gustavs politischer und sozialer Weltanschauung lebte das revolutionäre Vermächtnis des Vaters fort, wenn auch in moderaterer Ausprägung. Er hatte sich als Kunstpädagoge versucht, eine Kunstwerkstatt für weibliche Handarbeiten eingerichtet und begonnen, pädagogisch wertvolles Kinderspielzeug zu entwickeln. Für Zeitschriften wie Neuer Kindergarten zeichnete er zum Beispiel Vorlagen zum Basteln, Ringelegen, Flechten, Falten und Modellieren.

Der Verkauf der Steine war jedoch problematisch, denn die Betreiber der Spielzeugläden wollten ihnen die Steinbaukästen nicht abnehmen. Daher gerieten sie schließlich an einen dubiosen Leipziger Verleger und Geschäftsmann namens Friedrich Adolf Richter. Richter, ein gelernter Strumpfwirker, hatte sich mit fragwürdigen Methoden ganz nach oben gearbeitet. So betrieb er ein pharmazeutisches Unternehmen, das auf die Herstellung medizinischer Spezial- und Geheimmittel spezialisiert war. Dazu gehörte eine Tinktur, die aus Kampfer, Salmiak, spanischem Pfeffer, Seife, Alkohol und ätherischen Ölen hergestellt und unter dem Namen Anker-Pain-Expeller – zu Deutsch: Anker-Schmerzvertreiber – in vielen Ländern vertrieben wurde. Das Mittel half angeblich gegen Rheuma, Krämpfe, Herzklopfen, Schwindel und Cholera, vermutlich auch gegen jede andere Krankheit.

Richter war ein durchtriebener Unternehmer. Er erkannte nicht nur sofort das Potenzial der lilienthalschen Spielbausteine, sondern auch den mangelnden Geschäftssinn der beiden Erfinder. Er speiste die Brüder mit einem Taschengeld in Höhe von ein paar Hundert Mark ab. Kaum waren

Richter scheffelte Millionen, und Otto und Gustav rauften sich die Haare. Sie hatten sich per Vertrag von Richter dazu verpflichten lassen, nie wieder selbst solche Steine herzustellen. Und als sie es dennoch taten, verloren sie einen nervenaufreibenden Rechtsstreit gegen den übermächtigen Richter. Schließlich war Gustav restlos bedient. Während er selbst kaum die Butter für seine Schrippen bezahlen konnte, machte seine Erfindung den skrupellosen Richter immer reicher. Gustav sah wie Hunderttausende Menschen in jener Zeit für sich keine Perspektive mehr in seinem Heimatland, das in eine wirtschaftlichen Rezession geschlittert war. Er brach mit Deutschland, mit Europa, wollte die trübe Vergangenheit, die niederschmetternden Erfahrungen, hinter sich lassen und auswandern, so wie sein Vater es vor vielen Jahren tun wollte. Für sein letztes Geld kaufte Gustav Fahrkarten für sich und Marie, und dann reisten sie in der Hoffnung auf Arbeit und ein besseres Leben ans andere Ende der Welt – nach Australien, wo, so sagte man, Milch und Honig flossen, das Klima herrlich und das Land dünn bevölkert war.

 

Das Geschäft lief an. Die Kessel verkauften sich hervorragend und bildeten die Grundlage für die florierende Dampfkessel- und Maschinenfabrik Otto Lilienthal, die in der Köpenicker Straße expandierte und bald sechzig Mitarbeitern Arbeit und Lohn gab. So wurde aus der kleinen Werkstattbude auf dem Hinterhof eine große Montagehalle mit Werkstätten, in denen die Arbeiter Dampfmaschinen, Dampfkessel und Dampfheizungen fertigten.

Dann kehrte Gustav nach fünf Jahren aus Australien zurück. Allerdings ohne Marie. Sie war nach Neuseeland übergesiedelt, wo sie einen Farmer geheiratet hatte. Gustav hatte in Melbourne als Baumeister und Ingenieur im englischen Staatsdienst Eisenbahnbrücken und Schienenverbindungen für die Bahnverwaltung im Staat Victoria konstruiert. Mit einem Jahresgehalt von umgerechnet neuntausend Mark hatte er gutes Geld verdient, und kaum war er in Berlin zurück, raffte er seine gesamten Ersparnisse zusammen und nahm den Kampf gegen Richter wieder auf. In Australien hatte Gustav für die Spielsteine eine neue Mischung aus

Als Richter davon Wind bekam, warf er in seinem Büro in Leipzig einen Aschenbecher durchs geschlossene Fenster, leerte ein Fläschchen Painkiller-Tinktur und krempelte, als sein Herzschlag sich beruhigt hatte, die Ärmel hoch. Er ließ seine Anwälte antanzen und verklagte Gustav. Mit dem neuen Gerichtsprozess begann Gustavs nächste Pechsträhne. Richter gewann erneut, und Gustav wurde zu einer Konventionalstrafe in Höhe von zehntausend Mark verurteilt. Auch musste er die Gerichtskosten von eintausend Mark tragen. Aber er gab nicht auf und verlagerte die Produktion seiner Steine ins Ausland, nach Paris, wo jedoch ein Feuer seine Werkstatt zerstörte. Als er mit Ottos Hilfe neue Produktmischungen erfand, schaltete Richter Zeitungsannoncen, in denen er behauptete, Gustavs Steine seien so giftig, dass Kinder, die daran leckten, qualvoll verendeten. Und er überzog Gustav wieder mit Klagen, warf ihm vor, er verletze das Patent. Richter war längst zu einem mächtigen Großunternehmer geworden, mit einflussreichen Freunden in Politik, Wirtschaft und Justiz. Er hatte über sein Firmenimperium die gierigen Finger im Schokoladen- und Kakaohandel. In Nürnberg betrieb er eine Lebkuchenfabrik, in Franken eine Glashütte. Er war Hoflieferant europäischer Kaiser- und Königshäuser, nannte sich Ritter des Portugiesischen Christusordens und des Tunesischen Nischanordens; man verlieh ihm das Ritterkreuz der Republik San Marino und den Titel Geheimer Kommerzienrat.

Im November 1887 sprach das hohe Gericht schließlich

 

1890 zwang der deutsche Kaiser Wilhelm II. den Reichskanzler Otto von Bismarck zum Rücktritt. Die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands benannte sich in Sozialdemokratische Arbeiterpartei Deutschland um. Im nordamerikanischen Bundesstaat South Dakota massakrierte die US-Armee bei Wounded Knee ein paar Hundert Lakotaindianer. Nellie Bly reiste in dreiundsiebzig Tagen um die Welt. Vincent van Gogh naschte vom Gift des Fingerhuts, malte einen von Melancholie umwölkten alten Mann, dann schoss er sich selbst eine Kugel in die Brust. In Thessaloniki brannte ein ganzer Stadtteil nieder. Die britische HMS Serpent sank vor der spanischen Küste, von hundertfünfundsiebzig Seeleuten überlebten drei. Der Franzose Clément Ader, der schon während der Belagerung von Paris einen Ballon gebaut hatte, scheiterte beim Versuch, mit einem dampfgetriebenen Fluggerät abzuheben. Ein amerikanischer Luftschiffer wurde nach einem misslungenen Fallschirmsprung zu Ehren des Königs von Hawaii vor Honolulu von Haien gefressen.

Agnes war ein herzensguter Familienmensch, eine treusorgende Seele, liebende Mutter und Ehefrau. Sie jonglierte mit Kindern und Haushalt wie eine Artistin, die sieben Bälle zugleich in der Luft hielt. Alle wollten versorgt, betüdelt, erzogen und bekocht werden, ebenso der Gatte, der oft spät heimkam. Auch das Haus mit Wohnstube, Arbeitszimmer,

Von außen betrachtet schien alles perfekt zu sein – wenn nur die Fliegerei nicht gewesen wäre. Agnes blickte mit großer Sorge jenem Tag entgegen, an dem es Otto tatsächlich gelingen sollte zu fliegen. Ihre Angst nahm geradezu obsessive Züge an. Er könne sich verletzen, sich womöglich den Hals brechen, befürchtete sie. Otto teilte ihre Sorgen nicht und versprach ihr, vorsichtig zu sein. Natürlich werde er sich nicht verleiten lassen, wie Ikarus der Sonne zu nah zu kommen, ha-ha, nein, da übertreibe sie jetzt aber, die liebe Agnes. Dann nahm er sie in die Arme und hörte sie an seiner Brust seufzen.

Ungeachtet ihres Kummers («Was soll aus den Kindern und mir werden, wenn du abstürzt?»), trieben Otto und Gustav ihre Flugversuche unbeirrt voran. Im Garten hinter Ottos Haus experimentierten sie mit dem Rotationsapparat, werkelten an Fluggeräten aus Weidenholz und Stoff und notierten ihre Berechnungen zu Luftwiderständen oder Flügelwölbungen. Ein Jahr zuvor hatte Otto das Buch Der Vogelflug als Grundlage der Fliegekunst veröffentlicht, in dem alle Ergebnisse ihrer Studien gesammelt waren, und sogar ein paar Exemplare verkauft. In dem Buch hatte Otto geschrieben, der freie Flug sei noch immer ein Problem für die Menschheit wie vor Tausenden von Jahren. Dennoch dürfe die Fliegekunst, der andauernde Kampf mit der Anziehungskraft der Erde, dem Menschen nicht für ewig entsagt sein. Forschung und Erfahrung müssten jenen großen Augenblick näher bringen, wo der erste frei fliegende Mensch, und sei es nur für wenige Sekunden, sich mithilfe

Das waren große Worte. Und was machte Agnes, als Otto ihr stolz die Sätze vorgelesen hatte? Sie wollte nichts davon hören, bearbeitete mit dem Schrubber den Fußboden, als wolle sie sich in den Untergrund fräsen – und sorgte im Sommer 1890 für eine kleine aviatische Katastrophe.

Otto war am Vorabend von einer Geschäftsreise heimgekehrt, hatte gut geschlafen und spazierte nun in freudiger Erwartung aus der Hintertür in den Garten zu der von hohen Bäumen gesäumten Rasenfläche. Der Garten bot genug Platz für ihre Flugexperimente – und für die Voliere, in der Otto vier Störche hielt, um ihre Flugübungen zu studieren. Ein Bauer aus Lindow hatte ihm die Vögel besorgt, zwei Pärchen für jeweils zwanzig Mark. Otto hatte die Jungstörche aufgezogen, sie mit Fleischbrocken und Fischen gefüttert und freute sich immer wieder darauf, sie zu sehen. So wie an diesem Morgen. Doch etwas stimmte nicht. Beim Näherkommen sah Otto, dass die Tür der Voliere offen stand. Er ging schneller, dann lief er, und seine schlimme Vorahnung bestätigte sich: Der Käfig war leer. Am Schloss fand er keine Spuren, dass jemand es aufgebrochen hatte. Offensichtlich war es mit einem Schlüssel geöffnet worden.

«Du siehst aus, als hättest du Gespenster gesehen», hörte er Gustav sagen, als der auf dem Rasen auftauchte.

«Sie hat die Störche freigelassen», sagte Otto aufgebracht.

«Wer denn?»

«Na, wer wohl?»

«Agnes?»

«Wer denn sonst? Die Kinder würden das nie machen … da ist sie ja!»

«Ein schlechtes Gewissen scheint sie nicht zu haben», sagte Gustav. «Vielleicht war sie es doch nicht.»

Otto gestikulierte ihr, sie solle herkommen. Er war überzeugt, dass sie die Störche freigelassen hatte, um seine Studien und somit die Flugversuche zu torpedieren. Sein Herzschlag beschleunigte sich. Er war enttäuscht und so wütend, dass er befürchtete, er könne sich zu unbedachten Äußerungen hinreißen lassen, die er später bereuen würde.

Agnes kam zu ihnen und fragte Gustav nach Annas Befinden, und sie lachte herzlich, als Gustav meinte, es sei alles in bester Ordnung. Otto stand daneben und kämpfte gegen etwas an, das heiß und gallig in ihm hochstieg. Agnes lud Gustav und Anna für das nächste Wochenende zu sächsischem Sauerbraten ein, eingelegt in eine Marinade nach Hausrezept, serviert mit Knödeln. Mit den Jahren hatte sich ihr sächsischer Dialekt abgeschliffen, auch wenn die Knödel bei ihr noch immer klangen wie Gneedel.

«Warum hast du das getan?», platzte es aus Otto heraus.

«Meinst du die Störche?», fragte Agnes und blickte ihn unschuldig an.

«Nein, das Nilpferd. Doch – ja: Natürlich meine ich die Störche.»

«Ach, weißt du, als ich sie gestern füttern wollte, sah ich ein paar Störche, so zehn oder fünfzehn waren es, die glücklich und frei über unser Haus hinwegzogen, und dann sah ich, wie unsere Störche ihnen traurig hinterherschauten …»

«Agnes!», sagte Otto scharf und rang um Beherrschung. Er verabscheute Leute, die sich gehen ließen und keiften wie Zechbrüder. «Agnes, du weißt, dass wir die Störche für unsere Fluguntersuchungen brauchen.»

«Dein Mitleid mit den Störchen war also der einzige Grund, dass du sie freigelassen hast?», fragte Otto. «Wolltest du nicht vielmehr unsere Experimente sabotieren, weil du immer Angst hast, es könnte etwas passieren?»

Agnes konzentrierte sich aufs Gras, als wäre dort etwas Bedeutsames zu sehen.

Gustav räusperte sich. Die Situation war ihm offenbar unangenehm. «Wir sollten jetzt loslegen. Das Wetter ist ideal.»

Otto stieß einen Seufzer aus. Gustav hatte ja recht. Die Sache ließ sich nicht mehr ändern. Als er und Gustav zur Werkstatt gingen, um ihr neues Fluggerät für den ersten Flugeinsatz zu holen, hörte er Agnes sagen: «Pass auf dich auf, Otto, bitte sei vorsichtig.»

 

«Warum kann Agnes nicht verstehen, dass die Fliegerei wichtig für uns ist?», fragte Otto.

Nach einem kurzen Fußmarsch waren bei der Königlich Preußischen Hauptkadettenanstalt in Groß-Lichterfelde angekommen und legten die Teile des Fluggeräts, das sie auf den Namen Möwe getauft hatten, an einem aus Erde und Bauresten aufgeschütteten Hügel ab. Die Kadettenanstalt war von hohen Mauern umgeben. Dahinter befanden sich die militärischen Unterrichts- und Dienstgebäude, außerdem Kirchen, ein Feldmarschallsaal, Pferdeställe, Turnhalle, Lazarett und Wohnungen. In jenen Jahren galt die Königlich Preußische Hauptkadettenanstalt als wichtigste Ausbildungsstätte der deutschen Streitkräfte. Offiziere der preußischen sowie der württembergischen Armee absolvierten hier ihre militärische Eliteausbildung und schmückten sich gern mit dem inoffiziellen Titel «Lichterfelder».

«Vor allem macht sie sich Sorgen um sich selbst und die Kinder.»

«Kannst du ihr das verdenken?»

Otto blickte Gustav scharf an. «Was soll denn passieren? Eine Beule am Kopf? Ein aufgeschrammtes Knie? Ein Loch in der Hose? Du weißt doch selbst, dass es gefährlicher ist, zur Hauptverkehrszeit die Friedrichstraße zu überqueren, ohne unter die Räder einer Bahn oder einer Kutsche zu kommen.»

«Oder von einem Tretrad überrollt zu werden», ergänzte Gustav. Bei der Erinnerung an den bedauernswerten Soldaten mussten sie lachen. Ottos Ärger verrauchte, und sie bauten die neuen Flügel zusammen.

Im Vergleich zu ihrem Modell aus dem vergangenen Jahr hatten sie an der Möwe einige Veränderungen vorgenommen. Das Vorgängermodell hatte aus einer elf Meter langen und an den Enden spitz zulaufenden, gewölbten Tragfläche bestanden; in der Mitte war eine Öffnung ausgespart, in die man hineinsteigen konnte, an der Vorderseite diente eine kräftige Weidenrute als Flügelholm. Sie hatten mit dem Gerät nur Steh- und Gehübungen im Wind gemacht und dabei festgestellt, dass der Apparat schon bei einer schwachen Brise kaum noch zu beherrschen war.

Die Möwe bestand aus einem Flügelpaar, das mit Schirting, einem leichten, mit Lack überzogenen Baumwollgewebe, bespannt war bei einer Spannweite von insgesamt zehn Metern. Zur Stabilisierung des Fluggeräts hatten sie eine zusätzliche Weidenholzstange als zweiten Holm eingezogen und außerdem hinten an dem Gerät einen Schwanz

Sie brachten die Möwe auf den vier Meter hohen Hügel. Gustav ermittelte mit dem Windmessgerät eine Windgeschwindigkeit von sechs Metern pro Sekunde. Dann half er Otto in das Fluggerät und die Flügel in der Waagerechten zu halten. Otto spürte, wie der Wind in die Flügel griff, und als er einen Schritt nach vorn machte, fuhr eine Böe den Hang hinauf und packte die Flügel. Otto war elektrisiert. Für einen kurzen Augenblick schien es, als schwebe er in Schwerelosigkeit. Das Herz hämmerte hart gegen seinen Brustkorb. «Ich bin abgehoben – hörst du: a-b-g-e-h-o-b-e-n!», rief er atemlos.

«Davon hab ich nichts gesehen», hörte er Gustav sagen. «Ein Hopser war das vielleicht, mehr nicht.»

In dem Moment fuhr die nächste Böe unter die Flügel. Otto verlor den Halt. Die Welt um ihn herum drehte sich, rotierte immer schneller. Otto spürte harte Schläge, hörte die Flügel knacken und krachen, und im nächsten Augenblick lag er am Fuß des Hügels, mit dem Kopf unten und den Füßen oben.

«Otto, bist du verletzt?», hörte er Gustav rufen. Er half ihm aus dem Fluggerät. Ottos Beine fühlten sich an wie aus Gummi, sein Kopf dröhnte. An einem Flügel waren Holzstreben gebrochen, das Schirting eingerissen.

«Du blutest an der Stirn», stellte Gustav fest, mit einem Anflug von Panik in der Stimme.

Doch Otto lachte. Er lachte so laut, dass die Leute auf dem Weg zwischen der Kadettenanstalt und dem Teltower Kanal stehen blieben und zu den beiden Männern mit dem seltsamen Flügelgerät sahen, bis sie kopfschüttelnd weitergingen.

«Du bist den Hang runtergepurzelt», entgegnete Gustav. «Übrigens hast du eine hübsche Beule am Kopf. Lass das lieber Agnes nicht sehen.»

«Was ist schon eine kleine Beule gegen den großen Schritt, den wir heute gemacht haben?», sagte Otto und rief den Leuten auf dem Weg hinterher: «Ich bin fast geflogen!»

Da sah er einen kleinen, schnauzbärtigen Mann in dunklem Gehrock, der nicht weit entfernt, halb verborgen hinter einem Schutthaufen, stand und durch einen Feldstecher offensichtlich in ihre Richtung schaute. Was machte der Mann denn da? Interessierte der sich vielleicht für ihre Flugversuche? Plötzlich ließ der Mann den Feldstecher sinken und schlug mit hektischen Bewegungen nach etwas in der Luft, als würde er ihnen zuwinken.

Otto winkte ihm grinsend zurück.