Berlin, Frühjahr 1891
Als Otto ihr die beiden Billetts zeigte, schaute Agnes sie an wie etwas, das aus einer unbekannten Welt herabgefallen war. Sie stand mit tropfnassen Händen in der Küche, die fleckige Schürze um den Bauch gebunden, auf der Ablage stapelte sich das dreckige Geschirr vom Mittagessen. «Theaterkarten?», fragte Agnes ungläubig.
«Die Vorstellung im Ostend-Theater beginnt in zwei Stunden», bestätigte er.
«Und die Kinder? Ich muss doch die Kleinen ins Bett bringen.»
Otto schüttelte lächelnd den Kopf. Er hatte vorgesorgt und alles geplant. Es war lange her, seit er etwas mit Agnes unternommen hatte. Nur sie beide. Ohne Kinder. Ohne Verpflichtungen. So lange war das her, dass er sich kaum daran erinnerte. «Anna und Gustav kommen in einer halben Stunde, um auf die Kinder aufzupassen», erklärte er.
«Und der Abwasch? Der macht sich nicht von allein», sagte Agnes.
Otto seufzte. Er hatte erwartet, nein, nicht erwartet, gehofft hatte er, ja zu hoffen gewagt, sie würde sich über einen Abend mit ihm im Theater freuen. Dass sie ihm um den Hals fiel, wäre zu viel verlangt gewesen. Körperlich waren sie sich schon lange nicht mehr nah gekommen. Eine Umarmung? Ein Kuss? Oder gar noch mehr? Nein. Vermutlich war es normal, dass nicht nur die Leidenschaft, sondern jedes Verlangen nach Körperlichkeit nach so vielen Jahren Ehe abnahm. Oder ganz verschwand. Das versuchte er sich zumindest einzureden. Wenigstens zankten sie sich nicht über jede Kleinigkeit wie andere langjährige Ehepaare. Der Streit um die Störche, die sie vor etwa einem Jahr freigelassen hatte, war die letzte größere Sache gewesen, die eine Weile zwischen ihnen stand. Aber was war ihnen denn sonst noch geblieben? Gleichgültigkeit?
«Das Geschirr ist auch morgen noch dreckig», sagte er. «Den Tellern und Tassen macht es nichts aus, wenn sie über Nacht liegen bleiben.»
«Und was soll Anna denken, wenn sie die Unordnung sieht? Dass ich nicht in der Lage bin, meinen Haushalt zu führen?»
«Anna wird gar nichts denken. Ich habe ihr erzählt, dass ich dich mit den Theaterkarten erst kurz vor der Vorstellung überraschen wollte, damit du nicht wieder hundert Gegenargumente ins Felde führst.»
Damit schien er sie überrumpelt zu haben. Es sah zwar so aus, als gehe sie im Kopf einen Katalog mit Ausreden durch, ohne jedoch ein passendes Argument zu finden. Dann nickte sie, band die Schürze ab und ging aus der Küche, um sich fürs Theater umzuziehen.
Das Ostend-Theater – ein prunkvoller Bau in der Großen Frankfurter Straße, nicht weit von Ottos Maschinenbaufirma entfernt – führte an diesem Abend Schillers Drama «Kabale und Liebe» auf. Früher hatten er und Agnes kaum eine Theaterpremiere verpasst, als ihre Liebe frisch war, durchdrungen vom Feuer der Leidenschaft und dem Bedürfnis nach gemeinsamen Erlebnissen. «Kabale und Liebe» gehörte schon immer zu Agnes’ Lieblingsstücken. Es hatte Zeiten gegeben, da konnte sie, in der ersten Reihe mit Otto Händchen haltend, jeden Satz der Louise Miller mitsprechen, und sie hatte gekichert wie ein Schulmädchen, wenn sich jemand hinter ihnen mokierte, sie möge bitte schön ruhig sein.
Otto hatte sich für den Abend herausgeputzt: braunes Sakko, dunkle Hose, Hemd, Krawatte und einen steifen Hut. Auch Agnes trug schicke Sachen, seit langer Zeit mal wieder das helle Kleid, das an der Taille zusammengezogen war, dazu ihren weißen Hut. Nachdem sie sich überwunden hatte, das schmutzige Geschirr stehen zu lassen, und die Kinder in der Obhut ihrer Schwippschwägerin gut aufgehoben glaubte, war sie aufgetaut. Jetzt wirkte sie gelöster, ja, sogar ein bisschen aufgekratzt. Im Foyer nahm sie einen Theaterzettel mit, auf dem die wichtigsten Informationen zum Stück und den Darstellern standen. Otto kaufte noch ein Textbuch – für den Fall, dass Agnes nicht mehr textsicher sei, wie er sie neckte. Sie stieß ihn mit dem Ellenbogen an und behauptete mit gespielter Empörung, keinen einzigen Satz vergessen zu haben. Eine Hand an die Stirn hebend, rief sie, dabei herzergreifend stöhnend: «Jesus! Was ist das? Mir wird sehr übel!»
Beim Betreten des Saals spürte Otto die prickelnde Vorfreude, die er früher so geliebt hatte. Der hohe Raum war erfüllt vom gedämpften, erwartungsvollen Gemurmel. Unter der Decke brannten am Kronleuchter zweihundert Gasflämmchen. Im Saal fanden bis zu eintausendzweihundert Gäste Platz, und heute war eine der seltenen Gelegenheiten, bei denen eine Vorstellung ausverkauft war. Das war lange keine Selbstverständlichkeit mehr gewesen. Vor einigen Jahren hatte man das Ostend-Theater wegen Überschuldung sogar zeitweise schließen müssen. Danach hatten verschiedene Betreiber mehr oder weniger erfolglos versucht, das Haus wirtschaftlich zu führen. Im Volksmund nannte man es schon mal das finanzielle Massengrab des Ostens oder schlicht Pleitebude. Erst seit vor etwa zwei Jahren ein gewisser Max Samst die Direktion übernommen hatte, ging es wieder aufwärts.
Samst ließ das skandalöse Stück «Der Scharfrichter von Berlin» aufführen. Darin spielte sich der legendäre Berliner Henker Julius Krautz, der mehr als fünfzig Männer und eine Frau enthauptet hatte, in der Hauptrolle selbst. Auch berühmte Schauspieler hatte Samst auf seine Bühne gelotst, etwa den Mimen Josef Kainz; nachdem Kainz jedoch unlängst nach Amerika gegangen war, brachen die Zuschauerzahlen wieder ein. Bis zum heutigen Abend. Denn nun war es Samst gelungen, eine bekannte Schauspielerin ans Ostend-Theater zu holen, die sich bei der Premiere zum ersten Mal dem Berliner Publikum in der Rolle der Louise Miller zeigen sollte. Was den Andrang erklärte.
«Sie heißt Mathilde van Hüngen», las Agnes vom Theaterzettel vor, als sie und Otto sich auf ihre Plätze in der ersten Reihe setzten.
«Oh ja», raunte neben ihnen eine in ein rosafarbenes Kleid gestopfte Dame reifen Alters mit spitzem Näschen. «Sie kommt aus – Holland!» Dabei betonte sie Holland auf eine Weise, als sei dieser Teil der Niederlande der liederlichste Landstrich der Welt. «Die van Hüngen hat in Amsterdam gespielt, dann in Wien. Verstehen Sie? In Wien! Von dort hört und liest man ja auch so Sachen.» Welche Sachen dies waren, verriet sie nicht, sondern wedelte mit einem Fächer Luft in ihr erhitztes Gesicht.
«Was hört man denn so aus Wien?», fragte Agnes.
Als habe die Dame nur auf diese Frage gewartet, dämpfte sie hinterm Fächer die Stimme: «Ihretwegen haben sich in Wien zwei Männer duelliert. Zwei verheiratete Männer! Die van Hüngen selbst ist ja ledig.»
«Aber die Menschheitsgeschichte ist doch voll mit solchen Beispielen», sagte Otto, den die Entrüstung der Dame amüsierte. «Denken Sie nur an die schöne Helena von Sparta, für die zehntausend Soldaten in den Krieg gezogen sind.»
«Ach ja?», entgegnete die Dame, offenbar wenig interessiert am Schicksal der Helena oder der zehntausend Soldaten. «Weil keiner der Verehrer der van Hüngen den anderen mit der Pistolenkugel tödlich verletzen konnte, haben sie sich mit Händen und Zähnen zerfleischt. Und der Mann, der das überlebt hat, war der van Hüngen so verfallen, dass sie vor seinen Nachstellungen aus Wien fliehen musste. Und nun raten Sie mal, wohin?»
«Doch nicht etwa nach Berlin?», fragte Otto und tat entsetzt.
«Oh, mein Gott – nach Berlin», sagte Agnes, schaute Otto an, und beide mussten laut lachen.
Die Dame wandte sich beleidigt ab. Und der Vorhang hob sich.
Das Licht im Saal ging aus, das Gemurmel verebbte.
Auf der Bühne fiel das Licht auf den Musikus Miller, der sich aus einem Sessel erhob und ein Violoncello zur Seite stellte. Dann beklagte er sich bei seiner Frau, die im Nachtgewand am Tisch Kaffee trank, dass die Familie in Verruf gerate, wenn sich ihre Tochter mit dem Sohn des Präsidenten einlasse.
Otto, der das Stück Dutzende Male gesehen hatte, schweifte in seinen Gedanken ab. Am morgigen Sonntag wollten Gustav und er endlich wieder im Garten Experimente durchführen, um ihren hoffentlich ersten richtigen Flug vorzubereiten. Nach den erfolglosen Versuchen im vergangenen Jahr vom Hügel hinter der Kadettenanstalt hatten sie nach einem anderen Gelände gesucht. Bei dem Ort Derwitz, etwa vierzig Kilometer westlich von Lichterfelde, hatten sie eine Sandgrube entdeckt, die für ihre Ansprüche geeignet zu sein schien. Otto tagträumte sich zu der Sandgrube, von deren Rand man die etwa sechs Meter steil abfallenden Wände hinabsegeln könnte … als in dem Moment Louise Miller die Bühne betrat.
Ein Raunen wanderte durch den Saal. Louise Miller. Mathilde van Hüngen. Sie erschien vor Ottos Augen auf der Bühne mit der Wucht eines Sonnenstrahls, der durch aufgerissene Gewitterwolken brach wie ein Schwert der Götter. Hunderte Augenpaare folgten ihr, als sie zu ihrem Vater, dem Musikus Miller, trat, ihm die Hand reichte und ihm einen Guten Morgen wünschte.
Das also war sie, die geheimnisvolle Holländerin, wegen der sich die Wiener Herren an die Gurgel gegangen waren. Otto musste zugeben, die Frau hatte etwas an sich, das nur schwer in Worte zu fassen war, eine flimmernde Aura, einen lockenden Zauber, dem man – vor allem: Mann – sich schwer entziehen konnte. Sie strahlte etwas Naives, Schutzloses, Mädchenhaftes aus, das Beschützerinstinkte weckte. Zugleich war sie auf eine reife Art bezaubernd schön wie eine verbotene Frucht, die darauf wartete, von einem Helden gepflückt zu werden. Und im Saal des Ostend-Theaters waren an diesem Abend plötzlich sehr viele Helden versammelt.
Otto räusperte sich und lockerte den Knoten seiner Krawatte. Louise schwebte auf ihren kleinen Füßen über die Bühne, ihr Lächeln ein Sommertag am Meer, eine heiße Brise auf nackter Haut …
«Ist dir warm?», fragte ihn Agnes leise.
Otto schüttelte den Kopf und hustete in die Faust.
Agnes schaute ihn von der Seite an. «Sie spielt die Louise ganz gut, nicht wahr?»
«Ja, ganz gut», sagte er leichthin.
Auf der Bühne eilte ihr Geliebter, der Präsidentensohn Ferdinand, zu seiner Louise, die blass in den Sessel gesunken war und nun hochsprang, um Ferdinand um den Hals zu fallen. Es sei nichts, rief sie in ihrem angenehm klingenden niederländischen Akzent, Ferdinand sei ja nun da, es sei vorüber. Und so ging es weiter in dem Stück mit all den Intrigen und dramatischen Verwicklungen, bis im Finale ein verzweifelter Ferdinand seiner Geliebten den Becher mit den Worten reichte: «Die Limonade ist matt wie deine Seele – versuche!» Louise trank: «Die Limonade ist gut.» Dann, als das Gift zu wirken begann, sank sie nieder – «Jesus! Was ist das? Mir wird sehr übel!» und: «Sterbend vergab mein Erlöser. Heil über dich und ihn» – Auch Ferdinand sank zu Boden. «Louise, Louise. Ich komme. Lebt wohl …»
Der Vorhang fiel, und die Zuschauer sprangen von ihren Sitzen hoch. Donnernder Applaus.
Auch Otto klatschte, vielleicht sogar ein bisschen lauter als sonst.