5.

Derwitz, Sommer 1891

Otto war bereit. Er stand zwischen den Flügeln im Flugapparat, hatte die Unterarme auf die gepolsterten Vorrichtungen gelegt und mit den Händen die Griffe gepackt. Rechts und links von ihm hielten sein Bruder Gustav sowie ein junger Bursche namens Hugo Eulitz die Flügel fest, damit der Wind, der den Hang der Sandgrube hinaufwehte, den Flugapparat nicht umstieß.

Auf diesem Hügel am Rande der etwa sechs Meter tief abfallenden Grube bei der Mühle von Derwitz sollte Otto das Kunststück gelingen, auf das sie seit Jahrzehnten hinarbeiteten: der erste Flug. Und alle waren dabei: Gustavs Frau Anna mit dem kleinen Töchterchen, Agnes mit den vier Kindern, der Müller Hermann Schwach, der die Derwitzer Mühle betrieb, mitsamt Familie, sie alle warteten an dem Hügel, den man Spitzberg oder Mühlenberg nannte. Der Meteorologe Carl Kassner, ein Bekannter von Otto, hatte an einer günstigen Stelle seine Fotokamera aufgebaut, um den denkwürdigen Moment für alle Ewigkeiten festzuhalten. Die ganze Truppe war am frühen Morgen mit der Eisenbahn von Berlin zur Bahnstation von Groß Kreutz gefahren. Müller Schwach hatte sie dort mit dem Pferdefuhrwerk abgeholt und zur Mühle kutschiert. Den Flugapparat hatten sie aus einem Schuppen geholt, in dem Otto ihn mit Erlaubnis des

Und dann war es so weit. Auf Ottos Kommando ließen Gustav und Eulitz, ein Cousin von Agnes, der in Ottos Fabrik als Bauschlosser arbeitete, die Flügel los, und als Otto einen Schritt nach vorn machte, spürte er sogleich, wie der Wind kräftig unter die Flügel drückte. Das Fluggerät bestand aus einigen dicken Weidenruten, auf denen in Flugrichtung dünnere Weidenruten angebracht waren. Die Flügel waren durch ein Gestellkreuz verbunden und mit Schirting bespannt. Zur Stabilisierung hatten sie den Flugapparat hinten mit einer vertikalen sowie einer horizontalen Schwanzflosse versehen. Otto wartete auf ein Zeichen Kassners, der mit seiner auf einem Dreibein montierten Kamera hantierte. Kassners Photographie des ersten fliegenden Menschen sollte dieses Ereignis weithin bekannt machen. Wenn denn alles klappte.

Otto sah zu Agnes hinüber, deren Gesicht von ängstlicher Sorge überschattet war. Ihre Augen waren aufgerissen, mit einer Hand bedeckte sie ihren Mund, als wolle sie einen Schrei unterdrücken. Dass sie überhaupt nach Derwitz mitgekommen war, war ein kleines Wunder, und Otto wusste nicht recht, was er davon halten sollte. Wenn der Flug mit einer Bruchlandung endete und er sich gar verletzte, würde sie ihm wochenlang in den Ohren liegen, wie gefährlich die Fliegerei sei – Erfolg hin oder her.

Gustav und er hatten in den vergangenen Wochen jede Gelegenheit genutzt, das Abspringen mit dem Fluggerät von einem zwei Meter hohen Sprungbrett im Garten zu üben. Mittlerweile glaubte Otto zu wissen, wie er die Flügel halten musste, um eine besonders hohe Tragfähigkeit zu erzielen. Erst nachdem ihm die Handhabung des Fluggeräts in

Endlich hob Kassner eine Hand. Otto posierte, setzte eine konzentrierte Miene auf, und dann war das erste Bild im Kasten: Otto im Fluggerät am Abhang stehend, absprungbereit einen Fuß im Ausfallschritt vorgesetzt. Wieder wartete er, bis Kassner für die nächste Aufnahme bereit war, dann sprang Otto ab. Segelte den Hang hinunter, dann ein Stück durch die Grube. Fünf Meter, zehn Meter, fünfzehn Meter. Er dachte nichts, fühlte nur, und das Gefühl war unbeschreiblich. Überwältigend. Wind umströmte ihn, rauschte in seinen Ohren. Schwerelosigkeit. Bis in alle Ewigkeit könnte er weiterfliegen. Unsichtbare Kräfte trugen die Flügel, trugen ihn. Er blickte nach unten, sah den Erdboden, vielleicht vier, fünf Meter unter ihm. Ein Fehler. Durch den abwärts gerichteten Blick veränderte er unbewusst seine Körperhaltung. Die Flügel kippten ab, und er verlor die Kontrolle über das Fluggerät. Der Boden kam plötzlich sehr schnell näher. Otto stürzte, stürzte, stürzte und landete hart im Sand.

Blitze durchzuckten seinen Kopf, in dem es dröhnte wie von einem Hammerschlag. Er rappelte sich auf, taumelte, wankte. Das Fluggerät lag einige Schritte entfernt auf dem Boden, es schien unbeschädigt zu sein.

Schon kamen Gustav und Eulitz und alle anderen den Hang hinuntergelaufen. Doch Agnes war die Erste, die bei ihm war.

«Wir haben es geschafft», rief Otto ihr laut zu. Die Anspannung, das überwältigende Fluggefühl, der Triumph, nach jahrelangen Vorarbeiten endlich die Schwerkraft besiegt zu haben, wenigstens für zwei, drei Sekunden, das alles euphorisierte ihn wie ein Drogenrausch. Er hätte beim

In Agnes’ Miene war keine Freude zu sehen, nur ein wie in Stein gemeißelter Vorwurf. «Du blutest», war das Einzige, was sie sagte.

Otto wischte sich übers Gesicht. Sie hatte recht. An seiner Hand klebte etwas Blut. «Na und?», sagte er aufgebracht, schrie es beinahe heraus. Und dann lachte er. Gustav, Eulitz und Ottos Kinder kamen angerannt und Anna mit dem Kind, und der Müller und seine Familie, sogar dessen alte Eltern kraxelten den Hang hinab. Kassner winkte oben hinter seiner Kamera.

«Gustav – ich bin geflogen», rief Otto, und sein Bruder fiel ihm um den Hals. Sie hüpften und tanzten. Hand in Hand, Arm in Arm. Ihre Füße scharrten im Sand, Staubwolken wirbelten auf, die Welt drehte sich. Die Kinder sprangen hinzu, hingen den Brüdern an den Beinen wie Kletten und schrien vor Glück.

«Erinnerst du dich an unseren Schwur?», fragte Otto seinen Bruder. «Erinnerst du dich, dass wir uns in Vaters Torfstich schworen, wir würden den Vögeln ihr Geheimnis entlocken?»

«Ja, natürlich», erwiderte Gustav atemlos. «Und wie war es? Sag schon, wie war es zu fliegen?»

Otto rang um Worte, doch ihm wollte nichts einfallen, womit er seine Gefühle auch nur annähernd hätte ausdrücken können. «Es war groß», sagte er dann.

Er schaute zu Agnes hinüber, die etwas abseits stand, und er sagte noch einmal lauter: «Es war groß. Größer als – alles!» Und da lächelte sogar Agnes, zumindest ein bisschen, was aber auch daran liegen konnte, dass die Sonne sie blendete.

 

Otto bedauerte das sehr. Er hätte Agnes gerne von seinen Fortschritten erzählt. Etwa, dass er in Derwitz jetzt zwanzig, ja sogar bis zu fünfundzwanzig Meter weit geflogen war. Oder wie wichtig im Flug die Neigung der Flugfläche war – nicht zu hoch, um vom Wind nicht gebremst, und nicht zu tief, um nicht heruntergedrückt zu werden. Oder dass ihm die Landungen immer besser gelangen, weil er herausgefunden hatte, wie man die Flügel vor dem Aufsetzen ein Stück weit aufrichten musste, um die Geschwindigkeit zu reduzieren. Oder dass die Züge laut pfiffen, wenn sie auf der Bahnstrecke Berlin–Magdeburg, die nur fünfzig Meter von der Sandgrube entfernt war, vorbeifuhren, und dass die Passagiere hinter den heruntergezogenen Waggonfenstern Otto zujubelten. Oder dass in den Berliner Zeitungen Artikel über ihn erschienen, in denen man ihn den fliegenden Menschen nannte.

Von alledem erzählte er ihr nichts. Weil – so glaubte er – Agnes davon nichts wissen wollte.

Beinahe hätten sich ihre Hände berührt.

 

An dem Abend war nur die Hälfte der Sitzplätze im Ostend-Theater belegt. Man hatte zwar inzwischen einen Verein, die Freie Volksbühne, gegründet, um auch den weniger gut betuchten Arbeitern und ihren Familien einen Theaterbesuch für wenig Geld zu ermöglichen; allerdings waren dafür nur Vorstellungen am Sonntagvormittag reserviert. Heute Abend, ein Sonnabend, waren die Eintrittskarten für viele Menschen zu teuer. Auch ein Zugpferd wie die für ihre Schauspielkunst hochgelobte Holländerin lockte nach mehr als einem Jahr die Besucher nicht mehr in Scharen ins Haus.

Otto und Agnes nahmen ihre Plätze in der ersten Reihe ein. Otto hatte immer mal wieder an die Holländerin denken müssen, vor allem an die seltsame Geschichte, dass sich zwei Männer ihretwegen duelliert hätten. Wenn an der Geschichte etwas dran war. Und hatte er sich bei der Auswahl des Stücks vielleicht von dem Gedanken leiten lassen, er würde die Holländerin gerne wieder spielen sehen? Sie brachten im Ostend-Theater ja auch Dramen wie Henrik Ibsens «Stützen der Gesellschaft» oder «Die Weber» des jungen Dramatikers Gerhart Hauptmann, über den jetzt viele sprachen; der Theaterverein durfte diese sozialkritischen Stücke aber laut Vorgabe der preußischen Zensur nur in geschlossenen Veranstaltungen zeigen. Nein, selbstverständlich hatte sich Otto für «Kabale und Liebe» entschieden, weil Agnes das Stück liebte.

Der Applaus war laut, kräftig und anhaltend.

 

Als sie den Saal verließen, sah Otto erleichtert, dass ein Lächeln auf Agnes’ Lippen lag, ihre Augen glänzten, ihre Wangen waren gerötet. In der Stimmung hätten sie nach Hause gehen sollen, bei Kerzenschein im Wohnzimmer plaudern, dazu ein Glas Rotwein oder zwei. Wie in ihren früheren, ihren besseren Zeiten. Ja, das hätten sie tun sollen. Sie taten es aber nicht. Sie waren schon an der Garderobe und warteten auf ihre Mäntel, als Otto hörte, wie jemand seinen Namen rief. Otto hätte es ignorieren können. Stattdessen drehte er sich um und erblickte in der Menge im Foyer den jungen Meteorologen Carl Kassner, der Ottos Flüge photographierte. Otto hätte freundlich zurückwinken können, um sich dann auf direktem Wege mit Agnes zur Bahn zu begeben. Ja, hätte. Aber es sollte anders kommen, ganz anders.

Wie sich herausstellte, war Kassner ein leidenschaftlicher Theatergänger, womit sie gleich ein Thema fanden und das Stück «Kabale und Liebe» besprachen. Otto hoffte, dass Kassner dabei blieb und nicht auf die Fliegerei zu sprechen kam, was Agnes’ Laune getrübt hätte. Seine Sorge war unbegründet. Kassner hob gerade zu einer Lobrede auf die Darstellerin der Louise an, als er plötzlich eine Hand hob und rief: «Ja, wenn man vom Teufel spricht, ich meine natürlich: vom Engel. Mathilde! Mathilde, hier sind wir!»

Mathilde? Mathilde van Hüngen? Kassner kannte die berühmte Schauspielerin? Otto sah sie bei der Hoftür stehen, groß gewachsen, schlank, majestätisch. Sie steckte in einem Traum von einem roten Kleid, und um ihren Hals wickelte sich eine bunt gescheckte Federboa wie eine Würgeschlange. Sie strahlte, dass es den Garten in gleißendes Licht zu tauchen schien. Und dann kam sie zu ihnen, auf langen Beinen ausschreitend, stolz wie ein Pfau. Mit der Leichtigkeit einer sich im Wind wiegenden Blumenwiese schwebte sie zwischen den Leuten dahin, die ihre Hälse nach ihr verdrehten. Kassner ergriff ihre Hand, tauchte ab und küsste die Hand, als wolle er sie inhalieren.

Die van Hüngen erkundigte sich, wie den anderen das Stück gefallen habe. Kassner – sie nannte ihn mijn beste Carl – hob besonders die Art und Weise hervor, wie sie so hinreißend und ergreifend realistisch gestorben sei, dass ihm die Tränen gekommen seien. Sie lachte laut und erzählte mit kehligem Akzent, sie wolle schon noch eine Weile auf dieser schönen Welt leben. Otto hing an ihren roten Lippen, sah, wie sie sich bewegten, wie darunter die Zähne aufblitzten, wie die Zungenspitze über die Lippen fuhr und einen feuchten Glanz hinterließ. Und er versank in ihren Augen, die hell und funkelnd waren wie Bergseen, und wie er so starrte, merkte er gar nicht, dass auch sie ihn anschaute.

Agnes berührte ihn am Arm. «Frau van Hüngen hat dich etwas gefragt.»

«Hm?», machte Otto.

«Sie sind also der berühmte Herr Lilienthal?», wiederholte die Schauspielerin ihre Worte.

«Berühmt? Nun ja, berühmt würde ich mich nicht nennen», erwiderte Otto.

«Die Bescheidenheit ehrt Sie, mijn beste. Aber stellen Sie Ihr Licht niet onder de pantoffel. Carl hat veel over Sie erzählt, und in den Zeitungen habe ik Artikel gelesen over den … vliegende mensen … den – wie sagt man? Fliegenden Menschen? Ja? Sie sind ja een richtiger Ikarus!»

«Ach, Carl hat bestimmt übertrieben, und die Zeitungen machen das ja sowieso», sagte Otto und lachte.

«Das Bild ist … geweldig … wie sagt man das auf Deutsch? Ach ja: großartig», sagte die van Hüngen.

«Das ist es», sagte Kassner stolz. «Herr Lilienthal hat mich sogar schon mal mit dem Apparat fliegen lassen. Und am übernächsten Sonntag begleite ich ihn wieder nach Derwitz.»

Otto sah, dass aus Agnes’ Gesicht das Lächeln verschwunden war.

Die van Hüngen klatschte in die Hände. «Kann ik mij was wünschen?»

«Es war schön, Sie kennengelernt zu haben, Frau van Hüngen», sagte Agnes dazwischen. «Aber wir müssen nun leider nach Hause.»

«Natürlich, liebe Frau! Noch een Frage an Herrn Lilienthal: Darf ik Sie und mijn beste Carl zum Fliegen begleiten? Das würd ik gerne mit eigenen Augen zien.»

«Aber jederzeit», sagte Otto und merkte, wie sich Agnes versteifte.

«Das ist geweldig», rief die van Hüngen. «Ik kann es niet erwarten.»

Da schob sich Agnes vor Otto und sagte laut: «An dem Sonntag werde ich meinen Gatten übrigens nach Derwitz begleiten. Und unsere Kinder kommen auch mit. Alle vier!»