Stuttgart, 1892
An einem trüben Tag im Mai 1892 peitschte der Wind dicke Regentropfen durch Stuttgarts Gassen, als ein vom Wasser durchweichter junger Mann an die Tür jener Adresse klopfte, die man ihm genannt hatte. In der Hand hielt der Mann, der trotz des miesen Wetters fröhlich vor sich hinpfiff, einen Koffer. Man hätte ihn für einen der lästigen Vertreter halten könnte, die von Tür zu Tür gingen, um Streichhölzer, Versicherungen oder Putzlumpen zu verkaufen. Der Mann hieß Theodor Kober. Er war siebenundzwanzig Jahre alt, groß gewachsen, schlank wie eine junge Birke und kein Vertreter, sondern der mit einem sonnigen Gemüt gesegnete Sohn eines zeit seines Lebens ebenso fröhlichen schwäbischen Textilfabrikanten. Kober junior hatte schon in jungen Jahren eine besondere mathematische Begabung gezeigt. Mit Zahlen jonglierte er wie ein Zirkusartist mit Bällen, Keulen und Ringen, weswegen er nach Schule und Militärdienst nicht in die Fußstapfen seines Vaters getreten war, sondern in Stuttgart am Polytechnikum Ingenieurwesen studierte. Anschließend fand er eine Anstellung in Augsburg beim Fabrikanten August Riedinger, wo Kober in der Versuchswerkstatt für Aviatik mit den Ingenieuren Parseval und Sigsfeld an der Entwicklung eines Drachenballons arbeitete.
Vor einigen Tagen hatte ihn Riedinger rufen lassen und die Pläne eines Luftschiffs vor ihm auf dem Tisch ausgebreitet. Riedinger hatte erklärt, dass ein Schwabe namens Graf von Zeppelin die Pläne entworfen habe. Parseval und Sigsfeld seien von dem Projekt zwar nicht überzeugt, aber Riedinger wolle lieber sichergehen. Deswegen bekam Kober den Auftrag, dem Grafen bei der Konstruktion zu assistieren. Kober sollte herausfinden, ob so ein starres Luftschiff mit Metallskelett nur das Hirngespinst eines verrückten Erfinders war oder ob man es doch umsetzen konnte.
Riedinger hatte Kober gewarnt, er solle sich vor dem Grafen in Acht nehmen. Womöglich sei der Mann ein Genie, aber halt auch ein bisschen … Riedinger hatte den Satz nicht beendet, sondern sich an die Stirn getippt und gesagt: «Wenn Sie verstehen, was ich meine.»
Kober hatte verstanden, den Auftrag aber dennoch angenommen.
Jetzt, im Regen vor der Tür des Grafen stehend, zog er den Kopf zwischen die Schultern und machte sich klein. Riedinger hatte erklärt, der Graf sei ein Soldat alter Schule mit entsprechend empfindsamem Naturell und könne sich schon provoziert fühlen, wenn jemand ihn um eine Kopflänge überragte.
Kober klopfte erneut, diesmal lauter, bis er aus der Wohnung dahinter Geräusche hörte: schlurfende Schritte, unwilliges Stöhnen, grummelnde Lautäußerungen. Die Tür öffnete sich mit einem Ruck, und vor Kober erschien ein eher kleiner, korpulenter, fast kahlköpfiger Mann mit einem gewaltigen grauen Schnauzbart im grimmigen Gesicht.
«Wir kaufen nichts», fuhr ihn der Mann an mit einer Stimme, die das Potenzial hatte, die Sonne zu verdunkeln.
Kober duckte sich, machte sich so klein wie möglich, lächelte zurückhaltend, nannte freundlich seinen Namen und erklärte: «Herr Riedinger müsste Ihnen meine Ankunft in einem Brief angekündigt haben.»
Der Graf sah ihn an wie einen Hund, der auf den Teppich gepinkelt hatte. Für einen Moment waren nur seine übertrieben tiefen Atemzüge zu hören. Dann trat er mit eisiger Miene zur Seite und ließ Kober herein.
Ferdinand führte den Eindringling ins Arbeitszimmer, wo er über einer komplexen mathematischen Berechnung gebrütet hatte, die wahrscheinlich längst gelöst worden wäre, wenn ihn dieser Kober mit seinem Klopfen nicht aus dem Konzept gebracht hätte. Der Bursche, dem das Grinsen ins eulenartige Gesicht mit Schnauzer und Spitzbärtchen geklebt zu sein schien, war höchst suspekt. Wer ohne Grund grinste, hatte etwas zu verbergen. Wahrscheinlich war er auch so ein Möchtegerningenieur, wie der Duttenhofer ihm damals einen geschickt hatte. Einer, der schlau daherredete, sich von Ferdinand und Isabella mit Speis und Trank verköstigen ließ, um irgendwann zu verkünden, das Luftschiff werde nie abheben können. Sogar seinen Koffer hatte Kober schon mitgebracht. Der wollte wohl gleich hier einziehen.
Riedinger hatte Kober als «überaus engagierten und talentierten Ingenieur» angekündigt. Ferdinand hatte den Brief zerknüllt und in den Papierkorb geworfen. Hätte Isabella ihn beim Saubermachen nicht gefunden, die Sache wäre für Ferdinand längst in Vergessenheit geraten. Doch seine ordnungs- und menschenliebende Isabella hatte das Papier glatt gestrichen, den Brief gelesen und ihn Ferdinand vor die Nase gehalten mit den Worten, er solle dem überaus engagierten und talentierten Ingenieur wenigstens eine Chance geben. Rauswerfen könne er ihn ja immer noch. Bevor Ferdinand Gelegenheit zum Widerspruch bekam, hatte sie ihm ein paar Globuli und ein Glas Whiskey zum Runterspülen in die Hand gedrückt. Dagegen war er machtlos, vor allem gegen den Whiskey.
Nun war der Ingenieur also hier, und Ferdinand bereute schon, die Tür geöffnet zu haben. Isabella war auf ihrem Homöopathentreffen, wo man über Potenzierungen von Tollkirschen oder Arsen mit Wasser und Milchzucker debattierte. Wenn Ferdinand den Burschen hätte klopfen lassen, bis er mit wunden Fingern wieder abgezogen wäre, hätte Isabella nichts davon erfahren.
Erst einmal schickte er Kober zum Kleiderwechseln ins Nebenzimmer, bevor der die ganze Wohnung nass tropfte: Im Koffer werde er ja wohl frische Sachen mitgebracht haben. Kober lachte sinnlos und verzog sich. Als er kurz darauf zurückkehrte, trug er zwar andere, aber ebenfalls feuchte Kleider; offenbar war das Regenwasser sogar in den Koffer gedrungen.
Kober nahm am Arbeitstisch Ferdinand gegenüber Platz, der ihm die Unterlagen rüberschob. Nach dem Besuch bei Riedinger hatte Ferdinand alles nochmals gründlich überarbeitet, und nun war es nahezu perfekt. Er lehnte sich im Stuhl zurück, verschränkte die Arme vor der Brust und beobachtete Kober, der Bleistifte, Rechenschieber und ein Notizbuch, das trocken geblieben war, aus dem Koffer nahm. Die Utensilien legte er auf dem Tisch zurecht, dann betrachtete er die Pläne, hantierte dabei mit dem Rechenschieber und schrieb Zahlen ins Notizbuch.
Irgendwann, es waren wohl gut zwei Stunden vergangen, begann Kobers Magen hörbar zu grummeln. Auch Ferdinand merkte, dass er einen Mordshunger hatte. Aber er würde einen Teufel tun, sich was vom kalten Braten zu holen, den Isabella ihm hingestellt hatte. Dann würde er ja dem grinsenden Burschen davon abgeben müssen. Und so lieferten sich ihre knurrenden Mägen einen verzweifelten Wettkampf. Während Kober dies gar nicht zu bemerken schien, wurde Ferdinand allmählich flau zumute. Als er gerade überlegte, wie er sich davonstehlen konnte, um in der Küche unbemerkt ein Stück Braten zu essen, blickte Kober plötzlich triumphierend von den Notizen auf und zeigte beim Grinsen zwei Reihen weißer Zähne. «Leider muss ich Ihnen mitteilen, Graf Zeppelin, dass Ihr Luftschiff – so wie Sie es in Ihren Plänen ausführen – viel zu schwer ist. Mit dem Gewicht könnte es weder abheben noch in der Luft manövriert werden.»
Von heißer Wut gepackt, vergaß Ferdinand den an dieser Stelle gebotenen tiefen Atemzug. Stattdessen hämmerte er mit der Faust auf den Tisch, dass Kobers Bleistifte klapperten, und brüllte: «Was fällt Ihnen ein, Sie ogschissaner ognagder Hennakepf? Mein Luftschiff wird abheben!»
Und was machte Kober? Weder schrumpfte er vor Angst und Demut, noch hörte er auf zu grinsen. Mit einer Stimme, ruhig wie ein sedierter Komapatient, sagte er: «Ja, Ihr Luftschiff könnte abheben, Graf Zeppelin. Dafür bedürfte es jedoch ein paar Änderungen: Statt es mit einer zentralen Gondel auszustatten, die ziemlich schwer ausfällt, müsste man zwei voneinander getrennte, kleinere Gondeln anbauen, um die Lasten zu verteilen. Um in der Sache ganz sicherzugehen, wären natürlich weiterführende Berechnungen und Materialprüfungen nötig. Aber ich denke, auf die Weise könnte man die Längsträger des Metallskeletts leichter bauen und somit das Problem des Übergewichts lösen.»
«Oh …!» Ferdinands Faust hielt ein Stück über der Tischplatte inne. «Dessen sind Sie sich absolut sicher?», fragte er interessiert.
«Sie zweifeln doch nicht an Ihren eigenen Plänen, Graf Zeppelin?», fragte Kober und lachte laut und herzlich, und dieses Mal störte sich Ferdinand überhaupt nicht daran. Im Gegenteil antwortete er verzückt: «Dann lassen Sie uns sofort mit den Berechnungen für die beiden Gondeln beginnen, mein lieber Herr Kober. Ach, und wie wäre es mit einer kleinen Stärkung? Es gibt kalten Braten von gestern Abend.»