Steglitz und Berlin, Sommer 1892 – Herbst 1893
«Die Limonade ist matt wie deine Seele – versuche!», sagte Otto und reichte Mathilde den Becher, den sie in einem Zug leerte. «Die Limonade ist gut …», sagte sie und sank dann, von einem plötzlichen Beben ergriffen, nieder. Otto fuhr aus dem Traum hoch, in Schweiß gebadet, wie immer an dieser Stelle. Er blinzelte ins Licht der Morgensonne, die durchs Schlafzimmerfenster schien. Im Aufwachen verblassten die Traumbilder, die Konturen der sterbenden Mathilde wurden unscharf, lösten sich auf. Wenig später war Otto nur das ungute Gefühl geblieben, einen unverzeihlichen Fehler begangen zu haben.
Er schlüpfte leise aus dem Bett, um Agnes, die schnarchend neben ihm lag, nicht zu wecken. Heute war endlich wieder Sonntag. Rasch zog er sich an, packte in der Küche Proviant ein, schlich aus dem Haus und marschierte zu Fuß nach Steglitz, einem Nachbarort von Lichterfelde. Dorthin hatte er die Flugversuche in die sogenannten Rauhen Berge verlegt. Die Möglichkeiten bei der Derwitzer Mühle, wo er im vergangenen Jahr Flugweiten von bis zu fünfundzwanzig Metern erreicht hatte, waren ausgeschöpft. Die gestreckte Erhebung der Rauhen Berge bei Steglitz fielen an einer Stechwand etwa zehn Meter tief in eine Sandgrube ab. Das Gelände war nicht ungefährlich, denn in der Grube lagen teilweise noch die alten Lorengleise, über die Otto beim Landen schon gestolpert war.
Auf einem Hügel, der von seiner Absprungstelle einige Hundert Meter entfernt war und Maihöhe genannt wurde, hatte er in einem Schuppen die Fliegestation eingerichtet, in der die Flugapparate lagerten. Auch konnte er das Dach des Schuppens zum Absprung über einer mehrere Meter tief abfallenden Böschung nutzen, wenn der Wind aus Westen wehte.
Als Otto beim Schuppen ankam, war Gustav bereits eingetroffen. Otto freute sich, seinen Bruder mal wieder für sich allein zu haben, ohne ihre Frauen und Kinder. Gustav hatte nur noch selten Zeit für die Fliegerei. Er verdiente sein Geld mittlerweile als freischaffender Architekt und Baumeister und hatte gut zu tun. Auch für seine Familie hatte er ein Haus in der nicht weit entfernten Dahlemer Straße gebaut.
Aus dem Schuppen holten sie das neue Fluggerät, dessen Flügel aus mit Schirting überspannten Weidenholzrippen eine Spannweite von neuneinhalb Metern hatten. Als sie die Sachen zur Absprungstelle schleppten, legte sich jedoch der Wind, weswegen sie beschlossen, erst einmal zu frühstücken, bis der Wind wieder auffrischte. Sie packten belegte Brote, Käse und harte Eier aus und ließen sich im platt getretenen Gras über der Sandgrube nieder.
«Du bist still heute Morgen», stellte Gustav zwischen zwei Bissen fest. «Irgendetwas scheint dir auf der Seele zu liegen.»
«Mhm», machte Otto nur, während er an einer Stulle kaute. Die Bilder aus dem Albtraum, in dem er Mathilde mit der Limonade vergiftete, blitzten in seinem Kopf auf.
Am gegenüberliegenden Rand der Sandgrube kamen die ersten Schaulustigen zusammen. Seit sich Ottos Flugversuche herumgesprochen hatten, pilgerten ganze Familienverbände mit Großeltern, Eltern und Enkelkindern aus Steglitz und Lichterfelde, ja sogar aus Berlin sonntags in die Rauhen Berge. Bauern waren dabei, Handwerker und Hausfrauen, die es sich mit Picknickkörben auf Decken gemütlich machten. Otto war eine Attraktion – der fliegende Mensch, der in der an Abwechslungen armen Gegend die Zuschauer anlockte. Darunter waren Bewunderer seiner Fliegekunst ebenso wie Leute, die sich über ihn lustig machten und vor allem auf spektakuläre Bruchlandungen hofften. Auch an diesem Morgen ließ eine Abordnung der letzteren Fraktion nicht lange auf sich warten. Aus einer Gruppe junger, lärmender Männer löste sich ein Bursche, dessen Schultern breit waren wie die eines Ochsen. Mit einem Humpen Bier in der Hand gestikulierte er provozierend in Ottos und Gustavs Richtung und rief: «Heda – nu fliecht ma endlich los! Wir wolln wat zu kieken ham.» Er lachte glucksend, und seine Kumpels grölten.
Otto störte sich nicht an den Leuten, die in den Flugversuchen nichts anderes sahen als eine Zirkusnummer. Wie sollte er es ihnen verdenken? Alles, was neu war, musste ihnen ja seltsam vorkommen. Und bei allem, was sie nicht verstanden, behalfen sie sich, indem sie es ins Lächerliche zogen, um sich über ihre eigene Unwissenheit hinwegzuheben. Sogar unter sogenannten Experten gab es genug Dummköpfe, die durch Rechthaberei glänzten – all die Ballonfahrer und Verfechter lenkbarer Luftschiffe, die ihre mechanischen Trugschlüsse verteidigten, als könnten sie das Geheimnis der Fliegerei im Alleingang lösen. Sie gaben vor, große Kenner der Flugmechanik zu sein, ohne je ein Lehrbuch der elementaren Mechanik in der Hand gehabt zu haben. Sie konnten ja nicht mal den Unterschied zwischen Kraft und Arbeit definieren. Wie also sollten ein paar Steglitzer Bauernlümmel, die schon am heiligen Sonntagmorgen angetrunken waren, geistig in der Lage sein, Ottos Flugversuche zu würdigen?
Er winkte dem Burschen freundlich zu, der grummelnd zu seinen Kumpanen zurückging, als er feststellte, dass sich Otto nicht provozieren ließ. Wahrscheinlich berieten sie sich jetzt, wie sie die irren Flieger aus der Reserve locken konnten.
«Könnte es sein, dass sie dir noch immer auf der Seele liegt?», fragte Gustav.
Otto schnippte einen Brotkrümel von seiner Hose. Gustav konnte er nichts vormachen. Sein Bruder kannte ihn besser als jeder andere Mensch. Er war sein zweites Ich, so war es immer gewesen. Natürlich hatte Gustav damals mitbekommen, dass Mathildes Fortgang Otto schwer getroffen hatte (falls auch Agnes seinen Kummer bemerkt hatte, hatte sie zumindest nichts dazu gesagt). Gustav hatte ihn so lange zur Rede gestellt, bis Otto ihm sein Geheimnis anvertraut hatte. Sein Bruder war zunächst aus allen Wolken gefallen, hatte ihm aber zugehört, ohne ihm kluge Ratschläge zu geben oder Vorhaltungen zu machen. Vor allem die Frage, warum Mathilde so plötzlich verschwunden war, ließ Otto lange nicht zur Ruhe kommen. Was hatte sie damit gemeint, es sei besser für sie beide? Hatte sie etwa Sorge, er könne sich mit jemandem duellieren?
«Ja – und nein», sagte er dann. «Es gibt noch eine andere Sache, die mich beschäftigt, die aber indirekt mit Mathilde zu tun hat.»
Gustav biss in die Stulle. «Ich bin ganz Ohr.»
«Meine Firma hat im Frühjahr im Ostend-Theater eine neue Heizungsanlage eingebaut. Jetzt hat mir der Direktor einen Brief geschrieben, er könne die Anlage nicht bezahlen, weil das Theater wieder in finanziellen Schwierigkeiten stecke. Populäre Schauspieler wie die van Hüngen könne er sich nicht mehr leisten, die gespielten Stücke träfen nicht den Zeitgeist, Zuschauer blieben aus und so weiter.»
«Und nun willst du die Heizung wieder abbauen?»
Otto schaute in den blassblauen Himmel. Helle Wolken waren aufgezogen, unter denen Vögel mit ausgebreiteten Schwingen kreisten. «Nein, das bringe ich nicht übers Herz», sagte er dann. «Ich fühle mich dem Theater verbunden, es ist wichtig für die Menschen. Denk nur an Dramen wie ‹Die Weber›. Wie sollen die Leute von sozialen Missständen erfahren, wenn nicht durch solche Stücke? Die preußischen Zeitungen dürfen wegen der Zensur über diese Themen nicht berichten.»
Gustav nickte zustimmend. «Allerdings trägst du auch Verantwortung gegenüber deinen Arbeitern, die darauf angewiesen sind, dass du ihre Löhne bezahlen kannst. Schließlich müssen sie Essen, Kleider und Miete bezahlen.»
«Das weiß ich doch, es ist verzwickt. Und nun hat mich der Direktor um ein Gespräch gebeten – und zwar im Theater, in dem ich nicht mehr war, seit … du weißt schon.»
«Warum schlägst du dem Direktor nicht vor, dass ihr euch woanders trefft?»
«Weil ich mich nicht für immer vom Theater fernhalten kann, auch wenn ich kein gutes Gefühl dabei habe.»
«Dann geh hin! Die Schauspielerin ist fort und kehrt hoffentlich nie wieder zurück. Versuch, sie zu vergessen. Für dich. Und für deine Familie …»
In dem Augenblick erwachte der Wind. Otto spürte einen kühlen Luftzug im Gesicht. Er schloss die Augen, merkte, wie die bedrückenden Gedanken kleiner wurden, und konzentrierte sich auf das, was nun kommen würde. Böen strichen durch die Sandgrube und die steile Stechwand hinauf. Der Wind wehte frontal gegen die Flugrichtung – genau so, wie die Störche ihn erwarteten, bevor sie Anlauf nahmen, um sich mit kräftigen Flügelschlägen gegen den Wind in die Luft zu heben. Das war es doch, dachte Otto, das war es, was zählte: Das Geheimnis des Vogelflugs zu lösen, das und nichts anderes, keine trübsinnigen Gedanken über Irrungen und Wirrungen, über enttäuschte Gefühle und vertane Chancen.
Als Otto in den Flugapparat stieg, erhoben sich die Zuschauer von den Picknickdecken. Männer pfiffen, Frauen klatschten, Kinder hüpften mit rudernden Armen. Und die Zechbrüder krempelten die Hemdsärmel hoch und bewegten sich drohend in Richtung der Absprungstelle. «He, Luftikus!», höhnte der stiernackige Anführer. «Fall ma kräftich uff die Neese. Sonst tu ick sie dir platt klopp’n.» Seine Kumpanen lachten.
«Das sind Maulhelden, die tun nichts», sagte Otto zu Gustav, der unruhig wirkte und Ottos Zuversicht offenbar nicht teilte.
Otto machte sich für den ersten Flug bereit. Dann sprang er ab. Der Flugapparat glitt den Hang hinunter, segelte durch die Sandkuhle, dreißig, vierzig, fünfzig Meter, weiter, immer weiter. Der Wind drückte unter die Flügel, rauschte ihm in den Ohren. Er überflog die alten, im Sand vergrabenen Gleise. Der Flugapparat senkte sich und kam dem Boden näher. Da hob Otto die Vorderseite der Flügel an, um die Geschwindigkeit abzubremsen, verlagerte den Schwerpunkt seines Körpergewichts und landete. Er spürte den Boden unter den Füßen, lief ein paar Schritte und wurde langsamer, bis er stillstand. Die Landung war perfekt gelungen.
Oben an den Hängen jubelten die Leute. Gustav kam angelaufen und maß die Flugstrecke, um als Ergebnis freudig zu verkünden: «Das waren achtzig Meter – ein neuer Rekord!» Ottos bislang weiteste Flugstrecke hatte etwas mehr als siebzig Meter betragen.
«Ein Rekord, der schnell wieder gebrochen werden will, auf geht’s», sagte Otto lachend.
Als sie den Flugapparat zur Absprungstelle zurückbringen wollten, kamen ihnen in der Sandgrube die grölenden Trinker entgegen, Fäuste reckend, Humpen wie Waffen schwenkend. Oben verstummten die Zuschauer. Otto und Gustav blieben mit dem Fluggerät stehen. «Was machen wir jetzt?», fragte Gustav heiser.
Der Anführer, dessen grobes, vernarbtes Gesicht aus der Nähe noch bedrohlicher aussah, grinste mit einem Mal breit, als er rief: «Knorke, Alter! So wat hab ick noch nie jeseh’n. Det war ja extraordinär! Ne richtich tolle Nummer war det. Dürfen wa uns dit Fluchjerät ma ankiek’n?»
Einige Tage später stand Otto in der geöffneten Tür eines zwielichtigen Büros, in dem der Theaterdirektor Max Samst hinter einem unter Papieren, Perücken, Hüten und anderen Kleidungsstücken begrabenen Schreibtisch aufsprang wie ein Gummiball. «Treten Sie näher, Herr Lilienthal, bitte, bitte! Ich habe Sie erst am Nachmittag erwartet …» Schnell räumte er Hosen, Socken und eine zerbeulte Melone von einem Stuhl, warf die Sachen in eine Ecke und bot Otto den Stuhl an.
Otto ließ sich nieder. Samst verschwand wieder hinter dem Schreibtisch und schob den Krempel beiseite, bis er durch eine Schneise freie Sicht auf seinen Gast hatte. Samst war mindestens einen Kopf kleiner als Otto, was nicht ungewöhnlich war, denn Otto überragte die meisten Menschen. Samst erschien ihm als nervöses, fahriges Männlein, etwa Anfang dreißig, flatternde Bewegungen, blasses Gesicht und ein gezwirbelter Schnurrbart, der vor Aufregung zuckte, als er verlegen grinste und Otto aus Augen anstarrte, die so hell waren, als sprühten sie Funken.
Ein vom Staub fast erblindetes Fenster ließ nur spärlich Licht ins Büro. Zu spät bemerkte Otto in dem Halbdunkel die gerahmten Porträts, die hinter Samsts Schreibtisch die Wand bedeckten. Natürlich fiel Ottos Blick sofort auf das Porträt der Mathilde van Hüngen, es hing wie mit Absicht gleich hinter Samsts rot glühendem linken Ohr. Das Bild zeigte sie in ihrer Paraderolle als Louise Miller, mit Spitzenhäubchen und hinreißendem Lächeln.
Otto wandte den Blick ab und schaute Samst an, der sofort vom Theater zu erzählen begann. Dem Haus gehe es schlecht, es bringe nicht einmal genug Geld ein, um bescheidene Spesen zu decken. Jeden Tag sei der Saal hundeleer. Wenn er einen Platz, der eine Mark kosten sollte, ausnahmsweise für achtzig Pfennig anböte, locke dies auch kein Publikum. Ein Teufelskreis. Er könne den Schauspielern kaum ihre Gagen zahlen, weswegen sie andere Engagements suchten. Sogar er selbst habe schon auf der Bühne aushelfen müssen, obwohl er mit bescheidenem schauspielerischem Talent gesegnet sei, ebenso wie seine noch weniger mimisch talentierte Ehefrau. Wenn nicht bald ein Wunder geschehe, müsse er das Theater schließen.
Als Samst sein Klagelied für eine Atempause unterbrach, fragte Otto: «Sie haben mich darum gebeten, Herr Samst, die von meiner Firma gelieferte Heizung in Raten abzuzahlen. Erlauben Sie mir die Frage, wie Sie die Raten aufbringen wollen, wenn Ihr Theater kein Geld erwirtschaftet?»
«Jaaa, also, jaaa …» Samst sah aus, als habe er eine Schere verschluckt.
Wie Otto vermutet hatte, wusste der Direktor darauf keine Antwort. Daher sagte Otto: «Ich habe in der Zwischenzeit über Ihr Anliegen nachgedacht und bin durchaus bereit, Ihnen entgegenzukommen …»
«Oh, wie schön», rief Samst.
«… allerdings werde ich mein Angebot an zwei Bedingungen knüpfen.»
«Ach ja? Ja, ja – natürlich … wenn ich das bezahlen kann.»
Otto nahm aus seiner Tasche eine Broschüre, die ihm neulich in die Hände gefallen war, und reichte sie Samst. Der warf einen Blick darauf und meinte, er habe davon gehört. In der Broschüre hatte ein Schriftsteller namens Wilhelm Meyer-Förster seine Ideen für eine neuartige Theaterform dargelegt. Meyer-Förster, der durch den Roman «Die Saxo-Saxen» eine gewisse Bekanntheit erlangt hatte, plädierte für eine sogenannte Volksbühne. Durch einen niedrigen Eintrittspreis in Höhe von zehn Pfennigen sollte auch ärmeren Menschen der Besuch der Theateraufführungen ermöglicht werden. Durch die Zehnpfennigtheater könne man die Bühnen für das gemeine Volk öffnen, dem Theater den elitären Vorhang entreißen – und eine Bühne für alle Menschen schaffen.
«Interessant», murmelte Samst, jedoch wenig überzeugt. «Aber wir wollten über eine Ratenzahlung für die Heizungsanlage sprechen.»
«Genau das machen wir. Eine meiner Bedingungen lautet, dass ich mich im Theater einbringen werde und ein Mitspracherecht bei allen finanziellen Belangen bekomme. Ich führe seit Jahren erfolgreich ein Unternehmen, und ein Theater ist nichts anderes als ein Wirtschaftsunternehmen: ohne Zuschauer keine Einnahmen, ohne Einnahmen kein Betrieb. So einfach ist das.»
«So einfach?» Samst zog ein Gesicht, als hätte er in faules Obst gebissen. Hinter seinem Ohr lächelte Mathilde honigsüß.
«Ja, so einfach! Wir machen das Ostend-Theater zum Zehnpfennigtheater – und die Leute werden uns die Türen einrennen. Wenn ich richtig informiert bin, hat das Theater eintausendzweihundert Sitzplätze. Das garantiert bei vollem Haus Einnahmen in Höhe von einhundertzwanzig Mark. Wie hoch sind Ihre Einnahmen gegenwärtig?»
«Ähm, niedriger … viel niedriger.»
«Also, Herr Samst, wir annoncieren in den Zeitungen, dass der Eintritt im Ostend-Theater ab sofort nur zehn Pfennige kostet. Und vergessen Sie den sozialen Aspekt nicht: Über den niedrigen Preis hat jeder, egal ob arm oder reich, die Gelegenheit, an Kunst und Unterhaltung teilzuhaben.»
«Aha», sagte Samst. Mit der Bedingung war er völlig überfahren worden. Er war ein Vollbluttheatermensch und stammte aus einer Schauspielerfamilie. In seinem Berufsleben hatte er ausschließlich Theaterluft geschnuppert. Woher sollte er sich in Geldfragen auskennen? Er kratzte sich am Kinn, drehte seinen Schnurrbart und fragte dann: «Und wie lautet Ihre zweite Bedingung?»
«Ich möchte schauspielern.»
«Schauspielern? Sie überraschen mich immer wieder aufs Neue, Herr Lilienthal. Haben Sie überhaupt Bühnenerfahrung?»
«Früher haben meine Frau und ich in Gaststätten musiziert. Außerdem habe ich Sprech- und Gesangsunterricht genommen. Meine Mutter war studierte Sängerin und Musiklehrerin.»
«Und weil Sie in Gaststätten gesungen haben, meinen Sie, den Othello spielen zu können?»
«Den Othello vielleicht nicht gleich, aber …» Otto blickte Mathilde fest in die Augen und sagte dann: «Aber den Ferdinand in ‹Kabale und Liebe› kann ich mir gut vorstellen.»
«Das Stück haben wir nicht mehr im Programm, seit uns die van Hüngen hat hängen lassen, weiß der Teufel, warum.» Samst drehte sich zur Wand um. «Ihr Bild wollte ich längst abhängen.»
Bitte tun Sie das, dachte Otto. Zugleich kam ihm der Gedanke, dass es ihm eigentlich egal war, ob Mathilde dort hing und ihn anlächelte. Seltsam. Gerade eben noch hatte er befürchtet, es an dem Ort, an dem ihn alles an sie erinnerte, nicht aushalten zu können. Nun schien diese Last leichter geworden zu sein.
«Für die Louise werden wir Ersatz finden, Herr Samst», sagte er dann. «Ich möchte meine Familie nämlich bald mit meiner Darstellung überraschen.»
So kam es, dass der viel beschäftigte Dampfmaschinenproduzent und fliegende Mensch Otto Lilienthal seiner knapp bemessenen Zeit eine weitere anspruchsvolle Aufgabe auflud: Er wurde der Mäzen des Ostend-Theaters in der Großen Frankfurter Straße, das sie auf Ottos Anregung hin in Nationaltheater umbenannten. So sollte schon am Namen erkennbar sein, dass es ein Theater für alle Leute war, unabhängig vom Geldbeutel.
Sie engagierten den bekannten Schauspieler Richard Oeser, dessen Gage Otto aus eigener Tasche bezahlte. In Zeitungsannoncen priesen sie ihr Zehnpfennigtheater. Otto Lilienthal, Max Samst und Richard Oeser posierten einem Photographen für ein Bild, um mit zum feierlichen Schwur erhobenen Händen ihren Bund zu besiegeln, das Nationaltheater zu einer bedeutenden Spielstätte im Berliner Kulturleben zu etablieren. Die Sache sprach sich schnell herum, Tageszeitungen, Wochenzeitungen und Illustrierte berichteten. Bald war das Theater in aller Munde, und tatsächlich rissen sich die Leute um die billigen Karten.
Otto, dem nicht wenige Leute das Prädikat verrückt anhefteten, hatte es geschafft. Er verhalf dem Theater zur größtmöglichen Aufmerksamkeit. Sie spielten vor vollem Haus Volksstücke wie «Preciosa» oder Dramen wie Schillers «Wilhelm Tell», «Maria Stuart», «Die Jungfrau von Orleans», und, um weitere Einnahmen zu generieren, veranstalteten sie im Theaterhof Volksbelustigungen wie Kinderfeste oder Ringkämpfe. Samsts Hoffnung, Otto könnte seine zweite Bedingung vergessen haben, erfüllte sich nicht. Nachdem der Spielbetrieb angelaufen war, bekräftigte Otto, er wolle nun die Rolle des Ferdinand in «Kabale und Liebe» übernehmen; mit den Texten sei er bereits vertraut. Samst seufzte. Er befürchtete, dass ein untalentierter Schauspiellaie wie Lilienthal den gerade erst aufpolierten Ruf des Theaters beschädigen könne. Da würde auch die Strahlkraft eines großartigen Mimen wie Oeser verblassen. Den von Samst vorgeschobenen Vorwand, alle potenziellen Schauspielerinnen für die Rolle der Louise stünden leider nicht zur Verfügung, ließ Otto nicht gelten. Stattdessen schlug er vor, Samst solle die Rolle mit seiner Ehefrau besetzen, die, wie er selbst erzählt hatte, ja schon einmal ausgeholfen habe.
«Verstehen Sie mich nicht falsch, Herr Lilienthal», warf Samst ein, «aber meine liebe Gattin entspricht leider so gar nicht der Frau, die die Zuschauer bei einer Louise Miller erwarten.»
«Na und? Für einen Ferdinand bin ich auch viel zu alt», entgegnete Otto.
Damit waren Samst die Argumente ausgegangen. Er sank hinter dem Schreibtisch zusammen wie eine geplatzte Papiertüte. Er war Lilienthal einfach nicht gewachsen, und der war nun mal der Mann mit dem Geld. Auch Samsts verzweifelte Bemühungen, seiner Gattin die Sache auszureden, waren nicht erfolgreich, denn sie war sofort Feuer und Flamme. Allerdings war Gudrun, so hieß seine liebe Gattin, schon Mitte dreißig und außerdem ein stattliches Weib mit enormem Busen und pausbäckigem Gesicht, so ziemlich das genaue Gegenteil einer blutjungen, feingliedrigen Louise Miller, die zart wie ein Reh und mit engelsgleicher Anmut über die Bühnenbretter schwebte.
Nun ja, dachte Samst schicksalergeben, als die Proben begannen, so schlimm wird es schon nicht werden. Doch es kam noch schlimmer. Nach der ersten Probe konnte er Richard Oeser, der den Musikus Miller spielen sollte, nur mit Mühe und Not davon abhalten, sofort sein Engagement zu kündigen. Als die Proben abgeschlossen waren, wurde «Kabale und Liebe» wieder ins Programm aufgenommen. Oeser war zwar völlig entnervt, aber durch ein üppiges Zusatzhonorar besänftigt. Er habe, sagte er, dem Herrn Lilienthal und der Frau Gudrun alle mimischen Tricks und Kniffe beigebracht, die ihnen möglich seien, mehr gehe beim besten Willen nicht.
Otto achtete, dass sein Name nicht auf die Theaterzettel für die Premiere gedruckt wurde. Sonst wäre ja die Überraschung hinüber. Er hatte seiner Familie nichts von seinen schauspielerischen Ambitionen erzählt, nicht einmal Gustav war eingeweiht. Mit diebischer Freude überreichte er Agnes, Gustav und Anna Karten für die Ehrenplätze. Er selbst müsse sich leider für den Premierenabend entschuldigen. Die Fabrik habe einen Großauftrag für Schlangenrohrkessel bekommen. Er sei unabkömmlich, wünsche ihnen aber viel Spaß, das Stück sei großartig besetzt, die Darsteller hervorragend. Dann entschwand er mit der rätselhaften Ankündigung, vielleicht komme er später nach.
Als Otto angefangen hatte, sich für das Theater zu engagieren, war Agnes zunächst gar nicht glücklich gewesen. Dadurch würde er ja noch weniger Zeit für die Familie haben. Dann aber stellte sie fest, wie viel Spaß ihm das Theater machte, und vor allem vernachlässigte er sogar seine Flugübungen, weswegen sie das Gute in der Sache sah: Jeder Tag, an dem er sich nicht von Steilhängen hinunterstürzte, war ein Tag, an dem sie keine Angst vor der Nachricht haben musste, ihr Ehemann liege mit gebrochenen Beinen im Krankenhaus oder Schlimmeres.
Otto war wie verwandelt, der Trübsinn, der ihn seit dem vergangenen Sommer bisweilen niedergedrückt hatte, schien wie fortgezaubert. Über die Gründe für seinen Kummer konnte Agnes nur spekulieren. Ihre Fragen hatte er nur ausweichend beantwortet: Es gebe so viel Arbeit in der Fabrik, neue Aufträge für dies und jenes. Vielleicht stimmte das, vielleicht gab es auch andere Gründe, über die sie jedoch nicht tiefergehend nachzudenken wagte, nein, denn mit dieser Schauspielerin konnte es nichts zu tun haben. Nicht ihr Otto.
Jetzt war er wieder fröhlich und zu Späßen aufgelegt, beinahe so wie früher. Stolz zeigte er ihr Zeitungsartikel über das wiederbelebte Nationaltheater, in denen die Kritiker von der hohen Qualität der gespielten Dramen und den niedrigen Eintrittspreisen schwärmten. Schon lange hatte er Agnes versprochen, sie wieder ins Theater auszuführen. Es würden gerade Proben für ihr Lieblingsstück stattfinden. Nun war es also so weit, die Premiere von «Kabale und Liebe» stand an, und was machte ihr Otto? Er glänzte durch Abwesenheit. Aber dadurch wollte sie sich das Vergnügen nicht verderben lassen.
Sie badete, trug Parfüm auf und zog ein schönes Kleid an. Nachdem sie die Kleinen ins Bett gebracht hatte, bat sie Otto II., inzwischen vierzehn Jahre alt, auf die Geschwister achtzugeben. Dann fuhr sie mit Gustav und Anna von Lichterfelde nach Berlin.
Die Vorstellung war seit Langem ausverkauft, der Saal bis auf den letzten Platz gefüllt. Agnes, Gustav und Anna setzten sich auf die für sie reservierten Plätze in der ersten Reihe.
Fast zwei Jahre war es her, dass Agnes und Otto «Kabale und Liebe» gesehen hatten, damals noch mit der niederländischen Diva, die, so hatte Agnes gehört, plötzlich geräuschlos aus Berlin verschwunden sei. Was Agnes in keiner Weise bedauerte. Selten hatte sie einen Menschen so sehr verabscheut. Sie mochte eine zauberhafte Schauspielerin sein, aber Agnes würde ihr nie verzeihen, wie sie in Derwitz um Otto herumscharwenzelt war. Wie sie sich aufgespielt hatte, dieses affektierte Gehabe und diese pompöse Federboa, von der Helenchen heute noch sprach. Und wie sie sich dann auch noch beim Photographieren neben Otto gedrängt hatte.
Wer heute Abend wohl die Louise spielte?, fragte sich Agnes und bat Anna um den Theaterzettel, den sie aus dem Foyer mitgenommen hatte. Neben der Louise stand der Name Gudrun Samst, den Agnes noch nie gehört hatte, auch Anna zuckte ratlos mit den Schultern. Zumindest war es nicht die Holländerin, die konnte bleiben, wo der Pfeffer wächst. Der einzige Name, den Agnes kannte, war der des berühmten Richard Oeser; er spielte den Musikus Miller. Wer der Darsteller des Ferdinand war, hatten sie vergessen hinzuschreiben.
Im Saal verebbte das Gemurmel, der Vorhang öffnete sich, und gleich war Oeser in der Rolle des alten Miller zu sehen, wie er sich über die Liebschaft seiner Tochter beklagte. Dann trat Louise auf die Bühne. Agnes glaubte nicht richtig zu sehen. Im Saal erhob sich irritiertes Gemurmel und peinliches Hüsteln, vereinzelt war Gelächter zu hören. Gustav bekam davon nichts mit, ihm war im Schlaf der Kopf auf die Brust gesunken. Aber Anna schüttelte heftig den Kopf: «Was haben die sich dabei gedacht, die Louise mit einer solchen Hummel zu besetzen?»
Louise drückte ihrem Vater zur Begrüßung so kräftig die Hand, dass Musikus Miller alias Oeser schmerzerfüllt das Gesicht verzog, und dann – einige holprige Dialoge später – sollte Ferdinand seinen ersten Auftritt haben. Louise stand für den Moment allein wartend auf der Bühne und wirkte irritiert wie ein riesenhaftes Mädchen, dem in einem Nachtjackenviertel die letzte Bahn vor der Nase davongefahren war. Sekunden vergingen wie Stunden. Im Saal räusperten sich einige Zuschauer. Langsam wie eine Blume, deren Blüte dem Lauf der Sonne folgt, bewegte Louise den Kopf zu der Seite, auf der Ferdinand auftauchen sollte. Weitere Sekunden verstrichen, und dann war er plötzlich da: Ferdinand! Ein großer stattlicher Mann, Perücke auf dem Kopf, die Wangen übertrieben stark geschminkt, gezwängt in eine enge Majorsuniform. Wie ein Strauchdieb sprang er auf die Bühne, lief mit polternden Schritten zu seiner Geliebten und rief: «Du bist blass, Louise?»
Gustav, von dem Lärm aufgeschreckt, stieß einen keuchenden Laut aus, als würge er an einer Fischgräte. Anna hielt sich die Hände vors Gesicht. Bei Agnes dauerte es ein paar harte Herzschläge, bis sie begriff, dass der Ferdinand auf der Bühne der Vater ihrer Kinder war, der doch eigentlich in seiner Fabrik Dampfmaschinen zusammenschraubte. Fassungslos sah sie Ferdinand Louises Hand ergreifen und sie schütteln wie einen Pumpenschwengel. «Und liebt mich meine Louise noch?», fragte er. «Ich fliege nur her, will sehen, ob du heiter bist.»
Agnes hatte das Gefühl, die Saaldecke würde auf sie herabstürzen. «Ist er … das wirklich?»
«Ich fürchte – ja», sagte Gustav heiser.
«Ich fürchte auch», bestätigte Anna.
Auf der Bühne stritten sich Ferdinand und Louise mit großer Leidenschaft. «Mädchen! Höre! Du bist meine Louise!» – «Ferdinand, ein Dolch über dir und mir!» – «Wer kann den Bund zweier Herzen lösen? Ich fürchte nichts – nichts – als die Grenzen deiner Liebe!» – «Lass mich, du weißt nicht, dass deine Hoffnungen mein Herz wie Furien anfallen.»
So ging es mehr als zwei quälend lange Stunden weiter, bis der erlösende letzte Vorhang fiel (Agnes war vor Scham auf ihrem Stuhl längst auf die Größe einer Erbse geschrumpft). Louise hatte die Limonade getrunken – «Sterbend vergab mein Erlöser. Heil über dich und ihn» – war mit dumpfem Krachen auf die Bühnenbretter hingestürzt, und Ferdinand – «Louise, Louise, ich komme! Lebt wohl! Lasst mich an diesem Altar verscheiden!» – war über die eigenen Füße gestolpert und nicht, wie von der Regie vorgesehen, neben Louise gelandet, sondern auf ihr. Das war dann aber auch schon egal.
Beim Abgang zeigte sich das Publikum zunächst überraschend gnädig. Oeser bekam für seine Darbietung des Miller einen ordentlichen Applaus, auch die meisten anderen Darsteller wurden mit Klatschen bedacht. Als jedoch Ferdinand und Louise vors Publikum traten, wurde es kurz sehr still, und dann brach ein Getöse aus: Gelächter, Pfiffe, Buhrufe. Louise, offenbar von dem Hohn überrascht, hatte Tränen in den Augen, sodass Agnes Mitleid mit ihr hatte. Und was machte Ferdinand, oder besser ihr Otto? Er stand auf der Bühne, Brust raus, Bauch rein, Blick geradeaus, und grinste unter der verrutschten Perücke wie ein Ladendieb, der ein Feinkostgeschäft geplündert und die besten Pralinen an Ort und Stelle verspeist hat.
Und er grinste noch immer, als er ohne Perücke und Uniform, aber mit rot geschminkten Wangen in dem sich leerenden Saal Agnes, Gustav und Anna bestürmte: «Das war eine Überraschung, nicht wahr? Hat euch mein Schauspiel gefallen?»
«Och jaaa», meinte Gustav und schaute schnell woandershin.
«Du warst … einzigartig», ergänzte Anna mit aller gebotenen Diplomatie.
«Ja ja, einzigartig», bestätigte Agnes. Was sollte sie sonst sagen? Dass er sich lächerlich gemacht hatte? Dass er ein herausragender Erfinder, erfolgreicher Firmenchef und liebevoller Vater war, aber ganz bestimmt kein Schauspieler?
«Ich denke, ich muss noch viel lernen», sagte Otto, «daher werde ich jetzt häufiger spielen, um mehr Übung zu bekommen und …»
Mitten im Satz verstummte er plötzlich. Seine Augen wurden groß. Er blickte zu etwas hinter Agnes. Als sie sich umdrehte, sah sie, dass im Strom der zum Ausgang drängenden Menschen zwei Leute stehen geblieben waren: eine Person mit dem vornehm-blassen, hübschen Gesicht jener Frau, von der Agnes gehofft hatte, sie müsse sie niemals wiedersehen. Neben Mathilde van Hüngen stand ein Mann, etwas kleiner als sie und von bulliger Statur. Sein Kopf war leicht gesenkt wie der eines lauernden Raubtiers; die Wangenknochen traten hervor, so fest biss er die Zähne zusammen, die Augen waren kalt wie Bachkiesel.
Die van Hüngen lächelte Otto an und sagte: «Darf ik dir een beetje Schauspielunterricht geben, mijnheer Ikarus?»
Ottos Antwort war ein kehliges Krächzen.
Mit Blick auf den kompakten Mann an ihrer Seite sagte die van Hüngen: «Der Herr is übrigens mijn Ehemann. Ihn müsste ik zu den Proben mitbringen. Er is nämlich een beetje eifersüchtig, niet wahr, Heimo?»
Jener Heimo zog die Lippen von den Zähnen, was vielleicht ein Lächeln darstellte. Dann verabschiedete sich die van Hüngen und ging Richtung Ausgang. Der Mann hinkte ihr hinterher wie ein Kriegsversehrter, dem eine Kugel den Oberschenkel durchschossen hatte.