Gollenberg bei Stölln, Frühjahr 1894
Unterdessen flog Otto immer weitere Strecken. Er fand im Havelland ein neues Gelände, das sich für seine wachsenden Ansprüche eignete. Bei den Ortschaften Rhinow und Stölln, etwa achtzig Kilometer nordwestlich von Lichterfelde gelegen, gab es einige von flachen Wiesen und Äckern umgebene Hügel, die mit Heidekraut und niedrigen Birken und Kiefern nur spärlich bewachsen waren, was die Flüge nicht behinderte. Ottos bevorzugter Flugplatz war ein etwa neunzig Meter hoher Hügel, den man Gollenberg nannte. Die Hänge fielen nach allen Himmelsrichtungen ab, weswegen Otto immer einen Platz zum Abspringen fand, egal, woher der Wind wehte. So flog er hier zweihundert, ja sogar bis zu zweihundertfünfzig Meter weit und übertraf somit die Flugweiten, die er noch vor drei Jahren in Derwitz erreicht hatte, bereits um mehr als das Zehnfache.
Die lange Anfahrt zum Gollenberg nahm Otto daher gern in Kauf, und so traf er sich auch an diesem Morgen im zeitigen Frühjahr 1894 mit Gustav und einem Mann namens Paul Beylich am Lehrter Bahnhof. Beylich, gerade zwanzig Jahre alt, hatte in Finsterwalde eine Schmiedelehre absolviert, bevor er in Ottos Dampfmaschinenfabrik zu arbeiten begonnen hatte. Er war handwerklich geschickt und für die Fliegerei sehr wichtig. Otto hatte Beylich in der Fabrik eigens für die Fertigung der Fluggeräte abgestellt, etwa für jene Geräte, die Otto unter dem Namen Normalsegelapparat für ein paar Hundert Mark an Fluginteressenten verkaufen wollte. Mit der Eisenbahn fuhren sie über Spandau ins westliche Havelland. In Neustadt an der Dosse stiegen sie aus und ließen sich mit einer Kutsche nach Stölln zu einem Gasthof bringen, der von dem geschäftstüchtigen Gastwirt August Herms betrieben wurde. Herms hatte Otto erlaubt, die Fluggeräte in einem Schuppen hinter dem Gasthaus unterzustellen, aber nicht aus reiner Nächstenliebe oder weil er Ottos Flugkünste bewunderte – was Herms aber tatsächlich tat –, sondern weil sich die regelmäßigen Besuche des fliegenden Menschen in der ländlichen Gegend, in der sonst wenig oder gar nichts passierte, schnell herumgesprochen hatten. Otto bescherte dem Wirt volle Gaststuben und ausgebuchte Gästezimmer. Herms begrüßte Otto freudig. Dann führte er den Ehrengast und dessen Begleiter in den Speiseraum. Herms sprach den Namen Otto Lilienthal mehrmals laut aus, bis der letzte Gast in der zur Mittagszeit gut gefüllten Stube gehört hatte, dass der fliegende Mensch eingetroffen war. Und dass man, gestärkt durch eine Mahlzeit aus Meister Herms Küche, nach einem kurzen Fußmarsch zum Gollenberg etwas Spektakuläres zu sehen bekommen würde. Natürlich ließ es sich Herms nicht nehmen, die exklusiven Gäste persönlich zu bewirten. Er brachte ein leichtes Mittagsgericht, bestehend aus Pfannkuchen sowie Pellkartoffeln und mit Leinöl verfeinertem Quark. «Ja, ein voller Bauch, der fliegt nicht gern, Herr Lilienthal – ha-ha!», trompetete Herms. «Aber heute Abend, wenn Sie ein paar schöne Flüge gemacht haben, kann ich Ihnen die Spezialität meiner Küche empfehlen: einen deftigen Knieperkohl.»
Otto bestätigte, dass sie am Abend gewiss großen Hunger haben würden.
Was er nicht verriet, war, dass ihre kleine Runde am Abend um zwei weitere Gäste angewachsen sein würde. Davon hatte er auch Gustav und Beylich noch nichts erzählt. Vor allem Gustav, der Mathilde nicht leiden konnte, würde schon noch früh genug erfahren, dass sie sich mitsamt ihrem seltsamen Ehemann angekündigt hatte. Gustav hatte Mathilde nie verziehen, dass sie Otto so großen Kummer bereitet hatte; wobei Otto an den Irrungen seiner Gefühle ja selbst nicht ganz unschuldig gewesen war. Auch Agnes war nicht begeistert gewesen über Mathildes Rückkehr ans Theater, an dem Samst ihr – mit Ottos Einverständnis – sofort ein neues Engagement angeboten hatte. Agnes hatte sich aber damit abgefunden. Die Schauspielerin war jetzt eine verheiratete Frau, von der keine Gefahr mehr auszugehen schien.
Von Mathilde hatte Otto erfahren, dass sie die Entscheidung, diesen Heimo zu heiraten, nicht freiwillig getroffen hatte. Kaum war sie zurück in Wien gewesen, war ihr wieder ein Mann hoffnungslos verfallen – dieses Mal ausgerechnet der Direktor des Theaters, bei dem sie eine Anstellung gefunden hatte. Jede Nacht habe er vor dem Mietshaus gelauert, in dem Mathilde wohnte. Er habe ihr Schmuck und Edelsteine geschenkt und sei einmal, als sie ihn in die Wohnung gelassen habe, auf dem Boden gekrochen, habe ihre Füße abgeleckt und gedroht, sich vor ihren Augen mit einem Messer zu entmannen, wenn sie nicht seine Ehefrau würde. Als ihr eines Tages Heimo, der Überlebende der Duellanten, über den Weg gehumpelt sei, sei sie so verzweifelt gewesen und habe ihm von den Nachstellungen des Direktors berichtet. Heimo sei so dämlich gewesen, ihm daraufhin einen Besuch abzustatten. Als Ergebnis dessen trug der Direktor einen gebrochenen Arm, ein zerbeultes Gesicht sowie ein paar Lücken im Gebiss davon. Anschließend hätten Heimo und Mathilde, die man wegen Mittäterschaft hätte anklagen können, Wien fluchtartig verlassen müssen.
«Warum hast du den Schläger denn gleich geheiratet?», hatte Otto sie gefragt.
«Weil es zo niet weitergehen konnte», hatte sie erwidert. «Er beschützt mij, und daarom wagt es kein andere Mann mehr, mij zu nahe zu kommen. Eigentlich is er ganz zahm, man darf ihn nur nicht reizen. Mij hat er noch nie was getan.»
Bei den Proben im Nationaltheater hockte dieser Heimo brütend im Saal, während Mathilde mit Otto und anderen Schauspielern probte. Jede ihrer Bewegungen verfolgte Heimo mit grimmigen Blicken wie ein an die Kette gelegter Hund.
Otto hatte zunächst Bedenken gehabt, wieder mit Mathilde zusammenzuarbeiten. Er wusste ja selbst nicht, was er noch für sie empfand, und hatte befürchtet, die alte Wunde würde aufreißen und er sofort lichterloh in Flammen stehen. Das war jedoch nicht geschehen. Er schien wirklich über die alte Geschichte hinweg zu sein. Und er hoffte, dass das auch so blieb. Oh ja, wie sehr er das hoffte.
Nach dem Mittagessen brachten Otto, Gustav und Beylich zwei Fluggeräte mit einem Karren zum Gollenberg: einen der neuartigen Normalsegelapparate sowie eine ältere Konstruktion mit einer Spannweite von neun Metern, an der sie eine bedeutende Veränderung vorgenommen hatten. Nach kleineren Unfällen, die immer mal wieder passierten, hatten sie an der Vorderseite des Fliegers einen sogenannten Prellbügel installiert: ein aus Weidenholzstangen gebogener Kreis, der als Knautschzone bei einem Absturz den Aufprall abfangen und dämpfen sollte. Otto wählte für den ersten Flug vom Gollenberg den Prellbügel-Apparat. Er stieg hinein, spürte den Wind gegen die Flügel drücken und stellte fest, dass der Flieger sich etwas stärker als sonst nach vorn neigte. Durch den Prellbügel verlagerte sich der Schwerpunkt, was, wie jedes Mal, wenn sie eine Konstruktion veränderten, im Flug ein gewisses Risiko darstellte.
Am Himmel zeigten sich wenige Wolken, die Sonne schien, und vom Gollenberg hatte man eine weite Sicht ins Havelland, die schon historische Persönlichkeiten wie einst der Preußenkönig Friedrich der Große genossen hatten. Oder der preußische General Heinrich von Rosenberg, der die Rathenower Zietenhusaren auf Pferden die Hänge hatte hinaufsteigen lassen.
Die ersten Zuschauer versammelten sich am Berg. Zu den Leuten aus Herms’ Gasthaus gesellten sich einige Dorfbewohner. Mathilde war nicht dabei, wie Otto mit Bedauern feststellte.
Er wechselte Blicke mit Gustav und Beylich. Der Wind war gut, es konnte losgehen. Mit leicht gesenkten Flügeln lief Otto ein paar Schritte gegen den Wind an, richtete dann die Flügel auf und hob ab. Die Luft trug ihn, hielt ihn, umarmte ihn wie eine Geliebte. Er veränderte im Flug die Körperhaltung, um eine günstige Stellung zu finden, bei der sich der Apparat trotz des verlagerten Schwerpunkts durch den Prellbügel im Gleitflug möglichst wenig zu Boden senkte. Der Absprung, das Austarieren der Flügel, das Verhalten im Flug – diese Bewegungen waren ihm in Hunderten Flügen in Fleisch und Blut übergangen, sie waren ihm so selbstverständlich geworden wie anderen Menschen das Gehen oder Laufen. Dennoch verlor er bei diesem Flug plötzlich die Kontrolle über den Apparat, nachdem er etwa zweihundert Meter in einer Höhe von fünfzehn Metern den Hang hinabgeflogen war. Schnell veränderte er die Körperhaltung. Doch zu spät – der Apparat stieg zunächst fast senkrecht ein Stück in die Höhe, als wolle er zur Sonne fliegen, die am Himmel drohte wie eine gelbe Faust. Dann stand der Apparat mit einem Mal völlig still in der Luft.
Ottos Herz trommelte hart. Für den Moment konnte er keinen klaren Gedanken fassen. Der Augenblick, in dem der Flugapparat in der Luft stand – scheinbar unentschlossen, ob er nach vorn oder hinten kippen sollte –, schien sich eine Ewigkeit zu dehnen, bevor er schließlich nach vorn absank und in einer schwindelerregenden Fahrt hinabtaumelte wie ein Blatt Papier. Der Aufprall auf dem Boden war brutal. Otto bekam einen heftigen Schlag gegen die Stirn. Blitze zuckten durch seinen Kopf. Er nahm den Geruch von Erde und Gras wahr, spürte Sand zwischen seinen Zähnen knirschen. Hörte von irgendwoher laute Stimmen. Schreie. Panische Rufe. Schon waren Gustav und Beylich bei ihm. Gustav kniete nieder, die Augen aufgerissen: «Was ist mit dir? Sag doch was! Du blutest ja!»
Otto sah dem Bruder ins Gesicht, das vor Sorge verzerrt war, und fühlte das Blut feucht und klebrig von seiner Stirn rinnen. Plötzlich musste er lachen, warum, wusste er nicht, aber er konnte nichts dagegen tun. Es sprudelte aus ihm wie Wasser aus einer Quelle.
«Hör doch auf damit», flehte Gustav und blinzelte, als kribbelten ihm Tränen in den Augen.
«Aber schau doch – der Prellbügel ist zersplittert», rief Otto. «Die Einzelteile stecken ja in der Erde.»
Beylich zog ein handlanges Stück aus dem Boden, das er verzückt betrachtete wie ein Archäologe den Knochen einer unbekannten Dinosaurierart.
«Das bedeutet, dass es funktioniert», rief Otto. «Der Prellbügel hat mich gerettet. Und das mit der Gewichtsverteilung bekommen wir auch noch hin. Gustav, verstehst du nicht? Manchmal muss ein Opfer gebracht werden, um …»
«… um sich irgendwann den Hals zu brechen», sagte Gustav heiser, dann sagte er eine Weile nichts mehr.
Trotz des Unfalls flog Otto noch ein paarmal mit bandagiertem Kopf, wobei er sich mit Beylich am Normalsegelapparat abwechselte, ohne dass es zu einem weiteren Zwischenfall kam. Zum Glück war an diesem Tag kein Reporter am Gollenberg. Unter den Journalisten gab es nicht wenige, die nur auf solche Unfälle lauerten, um gepfefferte Artikel über Ottos Flugversuche zu schreiben. Neben wohlmeinenden Zeitungsberichten sah sich Otto in der Berliner Presse nicht wenigen kritischen Artikeln ausgesetzt, in denen die Autoren mit Hohn und Spott über seine Fliegerei ätzten und ihn einen «irren Vogelflieger» nannten. Otto hätte darüber lachen können, wenn solche Anfeindungen nicht Wasser auf den Mühlen seiner Gegner wären, für die der Heißluftballon noch immer die Krönung der luftfahrttechnischen Entwicklung darstellte oder die glaubten, die Zukunft gehöre riesigen lenkbaren Luftschiffen. Diese Herrschaften führten gerne das Bonmot des weltberühmten Berliner Physikers Hermann von Helmholtz im Munde, der schon vor zwanzig Jahren der Fliegerei nach dem Prinzip Schwerer als Luft eine Absage erteilt hatte; Helmholtz hatte behauptet, dass ein Luftschiff wohl denkbar sei – aber nicht der dynamische Flug: Die Natur habe im Modell der großen Geier schon ihre Grenze erreicht, weswegen es nach mathematischer Erkenntnis dem Menschen kaum möglich sein werde, auch nicht durch den allergeschicktesten flügelähnlichen, mit eigener Muskelkraft bewegten Mechanismus zu fliegen. Otto hatte sich durch solche Urteile nie abschrecken lassen, auch wenn sie von sogenannten Experten geäußert wurden – und Helmholtz war ohne Zweifel ein ausgewiesener Experte.
Als es dämmerte, beendeten Otto, Gustav und Beylich die Versuche und kehrten in den Gasthof zurück. Beim Eintreten grinsten einige Gäste mit Blick auf Ottos Kopfverband. Männer und Frauen kicherten. Aus einer hinteren Ecke rief ein Herr: «Hat’s dem Ikarus die Flügel verbrannt?»
Gustav, der es hasste, im Mittelpunkt zu stehen, zog den Kopf ein, während Otto mitten in der Gaststube stehen blieb, den Kopf hob, die Schultern straffte und dem Herrn mit unverwüstlichem Lächeln antwortete: «So ist es, mein Herr. Aber immerhin bin ich bis zur Sonne hinaufgeflogen, während Sie Ihren Tag offensichtlich in der dunklen Stube mit zu viel Bier und Schnaps verschwendet haben.»
Der Herr senkte den Blick in sein Bierglas, auch alle anderen verstummten, und Ottos Blick fiel auf einen Tisch, von dem ihn eine bezaubernde Frau anschaute: Mathilde saß dort mit einem Glas Weißwein. Allein. Sie trug ein blaues Kleid, ein Hütchen auf dem Kopf und die lange Federboa um den Hals. Ihre Wangen waren gerötet, vielleicht vom Wein. Zwischen ihren Augenbrauen wuchs eine tiefe Falte. «Oh god, oh god, – was is mit dir passiert?»
Bevor er etwas sagen konnte, fuhr Gustav dazwischen: «Und was – oh Gott! – machen Sie hier?» Er starrte Otto an. «Wusstest du davon?»
«Gustav – bitte», sagte Otto. «Sie möchte nur beim Fliegen zuschauen, außerdem wird sie von ihrem Ehemann begleitet. Jetzt setzen wir uns erst einmal. Ich freue mich, dich zu sehen, Mathilde.»
Die Männer nahmen am Tisch Platz, Gustav mit unverhohlenem Widerwillen, während Beylich Mathilde anstarrte wie ein weit gereister Pilger die heilige Madonna. Gastwirt Herms kam aus der Küche gepoltert: «Ah, der Herr Lilienthal ist wieder da, ja – der Herr Lilienthal, mein fliegender Freund. Hoffe, Sie hatten gute Flüge, Herr Lilienthal. Oh, eine Bandage – na, doch wohl nichts Ernstes! Die beste Medizin ist: eine ordentliche Portion Knieperkohl, ha-ha!» Er stellte Becher mit Schwarzbier sowie vier Teller und Besteck auf den Tisch. Als Otto um einen fünften Teller bat, schüttelte Mathilde den Kopf und sagte: «Heimo kommt leider niet, er musste kurzfristig in Österreich was erledigen.»
«Na so was», rief Gustav mit Sarkasmus in der Stimme. «Und da hat Ihr Gatte Sie nicht mitgenommen? Sonst lässt er Sie doch nie allein.»
Mathilde blickte ihn scharf an, ihre Augen blitzten wie Mündungsfeuer. «Ik glaube niet, dass mein Eheleben Sie was aangaat, Herr Lilienthal.»
«Gustav – bitte», sagte Otto, der neben Mathilde Platz genommen hatte, und wechselte schnell das Thema. Er berührte den Kopfverband und sagte: «Das ist nichts, worüber man sich Sorgen machen muss, nur ein kleiner Unfall. So etwas passiert. Und nun – hmmm, da kommt ja schon unser lieber Herr Herms zurück, ah, wie das duftet. Mathilde, du bist natürlich mein Gast.»
Herms servierte aus einer dampfenden Schüssel den Knieperkohl, ein Sauergemüse aus der Prignitz, das in einer Schmorpfanne mit fettem Speck und Lungenwurst gebraten wurde. Alle langten kräftig zu. Der Duft und Geschmack des deftigen Mahls schienen sogar Gustav zu besänftigen. Sie orderten mehr Bier und für Mathilde Weißwein und aßen und tranken, und als sie nach dem Essen pappsatt waren, lenkte Mathilde das Gespräch auf die Fliegerei und fragte nach Ottos Plänen. Er erzählte, er wolle den Normalsegelapparat bald zum Patent anzumelden. Außerdem habe er die Absicht, in der Nähe seines Hauses in Lichterfelde einen eigenen Berg aufschütten zu lassen. Er wolle zwar weiterhin hier vom Gollenberg fliegen, der für weite Flüge gut geeignet sei, aber er brauche auch ein schnell erreichbares Fluggelände, etwa um Kaufinteressenten die Geräte kurzfristig vorführen zu können.
«Een Berg voor dich?», fragte Mathilde. «Das is ja was. Ik hab noch nie jemanden gekannt, der sich een eigenen Berg baut. So etwas is doch teuer, oder?»
«Fürs Fliegen ist meinem Bruder nichts zu teuer», sagte Gustav. Offensichtlich hatte er sich mit Mathildes Anwesenheit abgefunden, begünstigt durch Bier und Knieperkohl. Auch hatte Mathilde beim Essen eine Lobrede auf seine architektonische Kunst gehalten, die sie gerade erst bei einer Villa in Berlin bewundert habe: «Ik bin zwar Laie, lieber Gustav, aber die Türmchen und Verzierungen sind … heel mooi … ik meine: zeer schön. Wenn ik viel Geld hätte, würd ik in zo einem huis von Ihnen wohnen wollen.» Gustav schwoll der Kamm, und Beylich, auch sonst ein sehr schweigsamer Charakter, hing stumm an ihren Lippen wie eine Biene am süßen Nektar einer Blüte. Otto bewunderte Mathilde für ihr Talent, die Leute um ihren Finger zu wickeln. Auch ihm selbst tat ihre Anwesenheit gut, und er war dankbar, dass ihr Kettenhund Heimo durch Abwesenheit glänzte.
Otto fuhr fort, er habe ein geeignetes Gelände für den Berg bereits gefunden, in Lichterfelde bei der alten Heinersdorfer Ziegelei, wo Beylichs Eltern wohnten. Dort könnten sie künftig regelmäßig üben, was eine Grundvoraussetzung für die Lösung der Flugfrage sei. Mit dem Fliegeberg werde er auf dem Gebiet der Flugtechnik noch schneller vorankommen, dozierte er, als halte er einen Vortrag vor dem Verein zur Förderung der Luftschifffahrt.
«Ik würd gerne zelf einmal vliegen in deinem vliegapparat», sagte Mathilde und legte ihre Hand auf seinen Arm. Er spürte die Wärme ihrer Hand durch den Hemdsärmel auf seiner prickelnden Haut.
Gustav verschluckte sich an einem Schluck Schwarzbier, und Beylich musste ihm kräftig auf den Rücken klopfen, bis Gustav wieder Luft bekam. «Eine Frau … will fliegen?», japste er.
«Waarom niet?», entgegnete sie.
«Na … weil es Kraft und Mut erfordert, außerdem ist es nicht ungefährlich. Schauen Sie sich den Kopf meines Bruders an.»
Mathilde wandte sich an Otto: «Du hast gesagt, das vliegen kann sich nur durchsetzen, wenn veel mensen das machen.»
«Aber damit meinte er doch keine Frauen», beharrte Gustav.
«Warum denn eigentlich nicht, Gustav?», entgegnete Otto. «Je einfacher und sicherer das Fliegen wird, desto schneller wird jeder Mann es erlernen können – und ja: auch jede Frau. Es ist doch so, dass jeder, der nur ein einziges Mal das sanfte Dahingleiten am eigenen Leib erlebt hat, sofort den nächsten Sprung wagen will. Bald wird es nichts Einfacheres geben, als einen Flugapparat zu lenken, und viele Menschen werden sich dafür begeistern. Meine Flugapparate sind längst ausgereift, um den Menschen die Ausübung des Fliegesports zu ermöglichen. Du hast recht, Mathilde, je mehr Leute daran teilhaben, desto schneller wird die Entwicklung voranschreiten. Ich möchte sogar behaupten, dass der Mensch in nicht ferner Zukunft das Luftreich beherrschen wird wie heute die Vögel. Dann wird der freie und unbeschränkte Flug des Menschen einen tiefgreifenden Wandel der Zustände in der gesamten Welt mit sich bringen. Die Landesgrenzen werden ihre Bedeutung verlieren, weil Staaten sich nicht mehr absperren lassen. Die Unterschiede der Sprachen werden mit der zunehmenden Beweglichkeit der Menschen verwischen. Man wird keine Unsummen für die Landesverteidigung mehr verschwenden müssen. Das Militär wird überflüssig, weil man keine blutigen Konflikte mehr ausfechten muss. Der Menschenflug wird …»
Er breitete die Hände über dem Tisch aus wie ein Dirigent, der sein Orchester ins Finale führt, und sagte laut: «Der Menschenflug wird der Menschheit ewigen Frieden verschaffen!»
Für einen kurzen Moment waren die anderen stumm vor Verblüffung. Nicht nur am Tisch, sondern in der ganzen Schankstube schauten die Leute zu Otto, als wäre er soeben mit dem elften Gebot vom Berg Sinai hinabgestiegen.
Mathilde fand als Erste ihre Sprache wieder: «Sehen Sie, Gustav, dann spricht es niet dagegen, dass ik morgen schon mijn ersten Flug mache.»
Am nächsten Morgen brachen Otto und Mathilde im ersten Licht mit einem Flugapparat zum Gollenberg auf. Nachdem am Vorabend Gustav und Paul Beylich, beide vom Bier erheblich angeschlagen, auf ihre Zimmer gewankt waren, hatten Otto und Mathilde schließlich allein in der Schankstube gesessen. Ein sichtlich müder Gastwirt Herms hatte hinterm Tresen geduldig die letzten Gläser abgetrocknet, bis auch er ins Bett gegangen war.
Ihre Köpfe summten vom Alkohol, als Otto die Gelegenheit nutzte und nach dem Grund für Heimos Reise nach Österreich fragte. Seine Mutter sei gestorben, hatte Mathilde erklärt. Natürlich habe er auf ihre Begleitung bestanden. Sie habe ihm jedoch einen Anfall heftiger Kopfschmerzen vorgespielt, was ihr als ausgebildeter Mimin nicht schwergefallen sei. Otto wollte sie eigentlich noch fragen, ob sie vielleicht von vornherein allein nach Stölln habe kommen wollen. Er kam jedoch nicht dazu, die Frage zu stellen, weil es Mathilde plötzlich eilig hatte, ins Bett zu kommen. Womit diese Frage unbeantwortet blieb. Und auch all die anderen Fragen, die Otto ihr noch stellen wollte, zum Beispiel, warum sie ihn damals hatte sitzen lassen.
Die Morgendämmerung stieg dünn und silberfarben über den Horizont, als sie beim Gollenberg ankamen. Bei den ersten Trockenübungen erklärte Otto Mathilde, wie sie anlaufen und die Flügel halten müsse, wie im Flug Beine und Oberkörper zu halten seien und dass sie nicht nach unten schauen dürfe, um den Apparat nicht zu weit nach vorn kippen zu lassen.
Mathilde gab sich große Mühe. Sie lernte schnell, und die beiden lachten und scherzten. Dennoch standen die offenen Fragen zwischen ihnen wie eine unsichtbare Mauer. Otto musste plötzlich an Gustav denken, der vielleicht gerade jetzt zum Frühstück in die Schankstube ging und sich wunderte, wo Otto und Mathilde blieben. Musste Gustav nicht befürchten, dass sein Bruder wieder etwas mit der Schauspielerin angefangen hatte? Er konnte ja nicht wissen, dass sie schon auf dem Gollenberg waren. Und obwohl er nichts Verbotenes tat, stieg in Otto das schlechte Gewissen auf wie eine Nebelbank.
Inzwischen hatte der Wind zugenommen. «Ob ik nu vliegen soll?», fragte Mathilde aufgeregt. Sie stand so dicht neben Otto, dass er ihren Geruch wahrnahm, den honigsüßen Duft ihrer Haut, ihrer Haare.
Otto verdrängte die trüben Gedanken und fragte: «Bist du dir sicher, dass du es tun willst?»
«Ik war nie sicherer, dass ik was tun will.»
Er half ihr, in den Apparat zu steigen, erklärte ihr noch einmal alles ganz genau, und dann lief sie los, richtete die Flügel auf, so wie er es ihr gezeigt hatte, und hob ab. Und flog.
Otto hielt vor Aufregung den Atem an. Er war unglaublich stolz auf Mathilde, seine gelehrige Flugschülerin, die in einer geringen Flughöhe den Hang hinabsegelte. Zugleich wurde Otto bewusst, dass es nicht nur Stolz war, den er empfand, sondern dass die alten Gefühle wieder hochkamen, von denen er geglaubt hatte, sie erfolgreich verdrängt zu haben. Nein, dachte er, nein, hör auf, denk an Agnes, an die Kinder, an alles, was du aufs Spiel setzen würdest.
Mathilde war etwa vierzig Meter weit geflogen, als sie zur Landung ansetzte. Ihre Füße berührten den Boden, liefen weiter, wie er es ihr erklärt hatte, doch dann stolperte sie und stürzte mit den Flügeln zu Boden.
Otto rannte los, den Hang hinunter. Sein Herz schlug schnell und heftig, schon ein kleiner Sturz konnte schlimme Folgen haben. Als er Mathilde jedoch zwischen den Flügeln sitzend antraf, seufzte er vor Erleichterung. Sie schien unverletzt zu sein. Ihre Augen glänzten, und dann lachte sie und rief: «Oh god – Otto, das war das … meest geweldige … ik meine: das Wundervollste, das ik je erlebt hab!»
Er reichte ihr eine Hand, half ihr aufzustehen, und dann lag sie plötzlich in seinen Armen. Er konnte nichts dagegen tun, es war stärker als er. Sie schmiegte sich an ihn. Und öffnete sich ihm. Nahm ihn mit und flog mit ihm dem Licht entgegen.