Der irre Vogelflieger von Lichterfelde

Von Hugo E. Aves

Berliner Lokal-Anzeiger, Central Organ für die Reichshauptstadt, Montag, 8. August 1894

Wer einen Verrückten sehen will, der sollte nach Groß-Lichterfelde gehen. Hier hat sich der Ingenieur Otto Lilienthal, der glaubt, er könne fliegen wie ein Vogel, aus Sand einen fünfzehn Meter hohen Berg aufschütten lassen. Man kann den modernen Ikarus sehen, wie er mit zwei mächtigen Flügeln auf der Schulter den Berg hinaufsteigt, um sich dann mit den Flügeln wieder hinabzubewegen. Halb schwebend, halb laufend gelangt er oft nur bis zur Mitte des Abhangs, dann klappen die Flügel zusammen.

Der Berichterstatter kann als Augenzeuge bestätigen, dass Lilienthal nur ein einziges Mal über den Fuß des Hügels hinausglitt, und zwar bis zu einer großen Pfütze, in die er hineinstürzte. Die Flügel brachen entzwei, der Fliegende verletzte sich empfindlich.

Die Zuschauer, die wie immer zahlreich an dem Berg erschienen waren, lachten und buhten und beklatschten den Vogelflieger, der, das muss man wohl so sagen, glücklicher als sein sagenhaftes Vorbild Ikarus nur in eine Pfütze und nicht ins Meer fiel. Lilienthal bekümmerte das Missgeschick nicht. Nass, wie er war, stieg er, ein bisschen humpelnd, den Berg wieder hinauf und holte aus einem in die Bergspitze eingebauten Lagerschuppen neue Flügel. Dann fuhr er fort mit seinen Jahrmarktkunststückchen, bis die Dunkelheit

Der Berichterstatter möchte dem Ikarus alles Gute wünschen, damit er eines Tages nicht doch zu hoch hinausfliegt und ihn das Schicksal des gefiederten Sagenhelden ereilt. Aber diese Gefahr scheint nicht zu bestehen, denn dafür müsste Lilienthal ja richtig fliegen können. Was jedoch niemals der Fall sein wird, denn die allermeisten Experten sind sich einig, dass die Eroberung des Luftozeans dereinst allenfalls mit einem anderen Gefährt gelingen kann: dem lenkbaren Luftschiff.