Berliner Lokal-Anzeiger, Central Organ für die Reichshauptstadt, Samstag, 15. August 1896
Der im Dienste seiner großen Idee verunglückte Ingenieur und Flugtechniker Otto Lilienthal wurde gestern am Freitagvormittag auf dem stillen Friedhof der Gemeinde Groß-Lichterfelde unter der großen Anteilnahme seiner Berufsgenossen, Freunde und Familie zur letzten Ruhe bestattet.
In der Kapelle stand der mit Blumen reich geschmückte Sarg, davor lagen zahlreiche Kränze: von der Lilienthalschen Dampfmaschinenfabrik, vom Deutschen Freilandbund, von der Siedlungsgemeinschaft «Freiland» und von der Egidy-Vereinigung, um nur einige zu nennen. Auch Oberstleutnant von Egidy wohnte der Trauerfeier bei. Fast sämtliche Mitglieder des Nationaltheaters erschienen zusammen mit ihrem Direktor Samst; die berühmte, aber kürzlich aus ungeklärter Ursache verschwundene Schauspielerin van Hüngen fehlte zu diesem Anlass. Direktor Samst legte einen riesigen Lorbeerkranz mit roten Rosen am Sarge nieder, denn der Verstorbene war, wie nur wenigen bekannt sein dürfte, Mitbesitzer des Theaters gewesen. Samst kämpfte bei diesem Akt der Huldigung mit den Tränen – wie so viele Menschen, die gekommen waren, um Otto Lilienthal das letzte Geleit zu geben.
Nachdem die Kinder des Verewigten mit dessen Bruder Gustav und weiteren Verwandten Lilienthals die Kapelle betreten hatten – die Gattin musste sich die Teilnahme wegen Krankheit versagen –, nahm Prediger Steinemann das Wort zur Trauerrede. «Unser Wissen ist Stückwerk, und unsere Weissagung ist Stückwerk», so lauteten die Worte aus der Heiligen Schrift, die der Geistliche seiner gedankenreichen Rede zugrunde legte. Er beklagte das Geschick des seltenen, so überaus begabten Mannes, der nicht nur ein unermüdlicher Forscher, sondern auch ein ausgezeichneter Mensch und Freund gewesen sei, dessen Andenken für alle Zeit in Ehren bestehen bleiben werde.
Auch der Berichterstatter – der geneigte Leser gestatte ihm die persönliche Wortmeldung – möchte an dieser Stelle die Gelegenheit nutzen, um dem Verstorbenen seinen tiefen Respekt zu erweisen. Der Berichterstatter hat auch in dieser Zeitung mehrere Artikel veröffentlicht, in denen er kein gutes Haar an den Flugversuchen Lilienthals ließ. Letztlich ist er aber doch zu der Erkenntnis gelangt, dass der fliegende Mensch, wie er vielfach genannt wurde, von der Nachwelt gefeiert werden sollte. Die allermeisten Experten auf dem Gebiete der Aviatik sind sich in unserer dem Fortschritt geweihten Zeit zwar einig, dass der Vogelflug des Menschen künftig allenfalls ein lustiger Freizeitsport sein wird und dass die Zukunft dem lenkbaren Luftschiff gehört. Aber dennoch gebührt dem Flugtechniker Lilienthal ein Platz neben den großen Erfindern, die der Menschheit neue Wege gewiesen haben.
Es sei noch erwähnt, dass der Prediger, als er auf der Trauerfeier der wiederholten Flugversuche des Verstorbenen gedachte und ihn mit Ikarus, dem Sohne des Dädalus, verglich, plötzlich ein schwarzer Schmetterling, ein Trauermantel, über dem Sarge hin- und herflatterte, als wolle das Tier seine Flugfertigkeit im Angesicht dieses Toten noch besonders beweisen. Mit einem Trostgebet schloss der Geistliche seine Trauerrede. Dann wurde der Sarg zur nahen Gruft getragen und dort im Beisein von Hunderten Leidtragenden der Erde übergeben.