Spatz im Liebesnest
Magdalena streckte den Arm aus und stellte bedauernd fest, dass sich das Laken kühl anfühlte. Die andere Seite des Bettes war leer. Sie gähnte und blinzelte in das Sonnenlicht, das die weißen Vorhänge kaum abzuhalten vermochten. Durch einen Spalt fiel ein schmaler Lichtstreifen direkt auf ihr Kopfkissen. Ein Blick auf das Handy verriet ihr, dass es bereits neun Uhr war. Sollte sie wütend sein, dass er gegangen war, ohne sie zu wecken, oder wollte sie es als Rücksichtnahme deuten, dass er sie hatte schlafen lassen? Sie rollte sich auf die andere Bettseite und vergrub die Nase im Kissen, dem noch ein Hauch seines Aftershaves anhaftete. Widerwillig kletterte sie aus dem Bett, um sich anzuziehen. Die Vorhänge ließ sie zugezogen. Sicher ist sicher, dachte sie und ging in die Küche, wo sie eine Kaffeekapsel in die Maschine steckte und einen Becher aus dem Schrank nahm. Die Kaffeemaschine, dieser einzige schwarze Fleck in einer Welt aus Weiß und zarten Blautönen, wirkte beinahe wie ein Fremdkörper. Im milchigen Licht, das durch die Vorhänge drang, hatte der Raum etwas Überweltliches, Jenseitiges, wie eine Traumszene.
Magdalena brühte den Kaffee auf und rührte Zucker hinein. Sie verspürte große Lust, ihn in der Sonne auf der Terrasse zu trinken. Nach kurzem Zögern holte sie das bunte Schaltuch aus dem Garderobenschrank, schlang es sich zu einem kunstvollen Turban um den Kopf und setzte die übergroße dunkle Sonnenbrille auf, die sie wie eine Libelle wirken ließ. Nach einem prüfenden Blick in den Flurspiegel, bei dem sie hastig noch einige blonde Haarsträhnen unter das Tuch steckte, zog sie die Vorhänge auf und nahm den Kaffee mit hinaus.
Der kleine Garten mit seinem sattgrünen, ordentlich gestutzten Rasenrechteck war durch einen Friesenwall vor Blicken geschützt, der mit den auf der Insel allgegenwärtigen Apfelrosen bepflanzt war. Wie ein buntes Webband zog sich ihr zarter Duft durch die würzige, von Salz, Tang und Jod getränkte Luft. In einem Reiseführer hatte Magdalena einmal gelesen, dass auch die Apfelrosen hier eigentlich nicht heimisch waren. Sie hatten ihren Weg als Zierpflanze auf die Insel gefunden und sich so ausgebreitet, dass sie zum Wahrzeichen geworden waren. Selbst fremd hier, wollte sie daran glauben, dass auch sie hier ein Zuhause finden würde. Das Unruhegefühl in Magdalenas Magen legte sich ein wenig. Kräftig strahlte die Maisonne vom blauen Himmel.
Im Strandkorb sah sie eine Weile den Wolken zu, kleine Zuckerwattetupfer, die zusammenfanden, um kurze Zeit später vom leichten Seewind verweht zu werden. Tatsächlich fühlte sie sich angekommen. Noch zu keinem anderen Ort hatte sie so eine tiefe und innige Verbindung gefühlt. Sylt war ihr ans Herz gewachsen, auch – aber nicht ausschließlich – seinetwegen. Womöglich, weil sie hier eine unter vielen war, die im Blickfeld der Öffentlichkeit standen. Bald, wenn auch die Heimlichkeiten ein Ende fanden, würde sie ihr Glück erst richtig genießen können.
Als sie den Kaffee getrunken hatte, spülte sie ab, machte das Bett und schloss die Tür zu ihrem geheimen Liebesnest von innen ab. Danach verließ sie die Ferienwohnung durch die Terrassentür, die sie ebenfalls sorgsam von außen zusperrte.
Den bunten Schal hatte Magdalena mittlerweile um den Hals geschlungen, sodass er die untere Hälfte ihres Gesichtes verdeckte. Das blonde Haar verbarg sie unter einer gehäkelten Beanie-Mütze. Obwohl bei den milden Temperaturen eine Strickjacke gereicht hätte, trug sie einen wadenlangen Trenchcoat, der sie etwas fülliger erscheinen ließ, als sie war. Sie überquerte den Rasen, hielt auf die schmale Lücke in der Einfriedung zu und öffnete das weiße Holztörchen.
Sie folgte dem Fußweg hinter dem Haus. Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass niemand ihr folgte, bog sie auf die Straße ein, die zwischen roten Backsteinhäusern mit tief gezogenen, teils reetgedeckten Dächern und hübschen Vorgärten Richtung Meer führte. Dort nahm sie den schmalen Sandweg zum Strand hinunter. Das Wasser hatte sich schon weit zurückgezogen, ein glitzerndes Band, das sich zwischen der weitläufigen Wattfläche und dem Horizont erstreckte. Den Yachthafen mit seinen bunten Segelbooten ließ sie hinter sich und folgte der Küstenlinie nach Süden, vorbei an kleinen Sandbuchten und niedrigen, von Strandhafer und Heckenrosen bewachsenen Dünen. Sandiger Kiesweg wechselte sich mit Holztreppen und Stegen ab. Immer wieder wandte sie sich um. Sie stutzte. Der Mann mit der wattierten blauen Weste und der Schiebermütze war ihr vorhin schon aufgefallen. Als sie stehen blieb und zu ihm hinübersah, bückte er sich und schien auf dem Boden etwas zu suchen. An einem Riemen über seiner Schulter baumelte eine schwarze Tasche. Eine Kameraausrüstung? Magdalena beschleunigte ihre Schritte, bis sie die Jückersmarschbrücke erreichte. Wieder drehte sie sich um und entdeckte den Mann mit der Schiebermütze, der ihr noch immer in einigem Abstand zu folgen schien.
Mist!, dachte sie und wollte schneller laufen. Dabei stieß sie an eine Unebenheit in den Holzbohlen, was sie für einen Augenblick ins Straucheln brachte. Rasch überquerte sie die Brücke und wandte sich erneut um. Der Mann war aus ihrem Blickfeld verschwunden. Magdalena atmete auf. Wahrscheinlich nur ein harmloser Tourist, der Wasservögel fotografierte.
Sie setzte ihren Weg fort, sah sich dabei jedoch immer wieder um und hatte bald den schmalen Sandweg erreicht, der zwischen den Dünen hindurch zum hinteren Eingang ihres Grundstücks führte. Wieder warf sie einen Blick über die Schulter. Eine Frau in einem roten Mantel fiel ihr auf, die vom Strand aus in ihre Richtung blickte. Sie trug einen Hut, den sie tief in die Stirn gezogen hatte. Der hochgeschlagene Kragen und ein maritimes Halstuch verdeckten die untere Hälfte des Gesichts. Der Rest verbarg sich hinter einer Sonnenbrille. Irgendetwas an der Fremden kam ihr seltsam bekannt vor. Magdalena beschattete die Augen mit der Hand, um besser sehen zu können, doch in dem Augenblick wandte die Frau sich ab und blickte hinaus auf das Wasser.
Ein ungutes Gefühl der Beklemmung und Vorahnung legte sich auf Magdalenas Schultern und ließ sie für einen Augenblick schwindeln. Sie musste aufhören, sich verrückt zu machen. Als könnte sie die düsteren Gedanken so abstreifen, hob und senkte sie die Schultern ein paar Mal und atmete tief durch. Ohne sich noch einmal nach der Fremden umzudrehen, lief Magdalena weiter und erreichte bald die hintere Gartenpforte. Wie eine vage Drohung schob sich in diesem Augenblick eine Wolke vor die Sonne und ließ kurz einen Schatten über sie huschen, der ebenso schnell wieder verschwand, wie er gekommen war. Eilig tippte Magdalena den Sicherheitscode ein und schlüpfte durch das Tor.