Plötzlich Friesin?
»Und? Biste jetzt schlauer?«, wollte Torsten wissen, als sie kurz darauf ins Wohnzimmer kam.
»Ein bisschen. Die Details klären wir später nach der Testamentseröffnung, wenn der Schrieb vom Amtsgericht da ist. Aber Ingeborg hat so geredet, als wollte ich das Haus behalten. Sie meint, ich soll mir keinen Kopp machen wegen Erbschafts- und Grundsteuer und all dem Gedöns, weil Hilde seinerzeit den hinteren Teil des Grundstücks schon als Bauland habe eintragen lassen. Das könne man problemlos verkaufen und davon dann die auflaufenden Steuern bezahlen und so. So richtig hab ich es auch nicht kapiert, aber ist ja auch egal. Kommt gar nicht in die Tüte, dass ich das Haus übernehme. Ich hab es bloß noch nicht übers Herz gebracht, das Ingeborg zu sagen. Die klang so überzeugt. Doch es geht nun mal nicht. Ich kann ja nicht nach Sylt ziehen.«
Siggi kramte in einem Fach der Schrankwand und zog eine gestreifte Pappkiste heraus, die sie zum Couchtisch hinübertrug.
»Wieso denn eigentlich nicht?«, fragte Torsten unvermittelt.
»Bist du jetzt vollkommen bekloppt geworden? Du willst doch nun nicht allen Ernstes sagen, ich soll hier alles stehen und liegen lassen und in Tante Hildes Haus ziehen. Auf Sylt!«
Dem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, schien Torsten den Gedanken gar nicht abwegig zu finden. »Warum denn nicht?«
»Warum denn nicht!«, äffte Siggi ihn nach, während sie in der Kiste herumsuchte. »Wenn ich die Gründe aufzählen sollte, wüsste ich gar nicht, wo ich anfangen soll.« Schließlich zog sie ein Foto hervor und machte sich auf die Suche nach einem Rahmen.
»Jetzt mal ehrlich, was spricht denn dagegen? Noch mal neu anfangen, den Lebensabend am Meer verbringen, morgens von den Möwen geweckt werden …«
»Ich glaub eher, die haben dir in den Kopp gekackt, die Möwen!« Siggi lachte. »Wie stellst du dir das denn vor? Ich hab hier schließlich Freunde und Verwandte und so.« Siggi hatte einen kleinen weißen Bilderrahmen gefunden, in den sie das Foto steckte.
»Dann machste das wie Hilde, setzt dich in den Zug und besuchst die. Ist ja nicht, als würdest du nach Australien auswandern.«
Siggi stellte das Bild auf das Sideboard und rückte den Topf mit dem Usambaraveilchen daneben.
»Wa', Hildelein? Jetzt haste Ruhe. War ja nicht mehr schön im letzten Jahr. Hast ganz schön was mitgemacht.« Sie schenkte der älteren Dame auf dem Foto ein Lächeln. »Bloß mit dem Haus hast du mir jetzt ganz schön was eingebrockt. War lieb gemeint, aber … Bist mir nicht böse, wenn ich es verkaufe, oder? Ich meine, ich will nicht undankbar sein, aber behalten kann ich es schließlich nicht.«
»Kann se doch!«, rief Torsten aus dem Hintergrund. »Ich-kann-nicht wohnt in der Ich-will-nicht-Straße.«
Siggi fuhr herum und sah Torsten prüfend an, konnte jedoch keine Anzeichen dafür erkennen, dass er scherzte. »Du meinst das ehrlich ernst, ne?«
»Natürlich mein ich das ernst. Gerade jammerst du mir noch einen vor, dass das Kosmetikstudio nicht läuft und alle sparen müssen und so, und jetzt kriegst du so ‘ne Chance und willst nicht mal drüber nachdenken.«
»Und was ist mit Nisi? Die kann ich doch auch nicht einfach allein lassen.«
»Denise ist erwachsen. Die lässt sich hier ohnehin kaum mehr blicken. Ist ja auch richtig so. Die ist happy mit ihrem Andi und soll se auch sein. Und zur Not hat sie ja noch einen Vater. Du weißt doch selbst noch, wie das ist, das junge Glück. Erste gemeinsame Wohnung, da hast du keine Zeit und auch keinen Bock, ständig bei deiner Mutter vorbeizuturnen.«
»Aber sie könnte, wenn sie wollte«, gab Siggi trotzig zurück. »Wenn sie mich braucht, wäre ich für sie da.«
»Gibt auch Telefon«, meinte Torsten trocken.
»Das ist nicht dasselbe. Was, wenn sie zum Beispiel schwanger wird? Dann kann ich sie gar nicht unterstützen.«
»Und sie kann dir nicht dauernd die Enkel aufs Auge drücken. Hat alles seine Vor- und Nachteile«, gab Torsten zu bedenken.
»Ha, ha! Jedenfalls zieh ich jetzt nicht plötzlich nach Sylt!« Damit war für Siggi die Diskussion beendet.
»Nur mal so interessehalber: Über wie viel Geld reden wir überhaupt?«, meinte Torsten schließlich.
»Keine Ahnung. Was kostet so ‘n Haus? Das ist wie gesagt schon alt, nicht besonders groß. Vielleicht drei-, vierhunderttausend? Jedenfalls eine Menge Geld. Damit wäre eine ganze Batterie meiner Probleme gelöst.«
»Hast du die Adresse? Ich kann ja mal bei so ‘ner Immobilienseite gucken, was so ein Kasten wert ist«, schlug Torsten vor.
»Tu dir keinen Zwang an. Das ändert aber nichts daran, dass ich da nicht hinziehe«, sagte sie und reichte ihm Ingeborgs Brief.
Siggi nahm Torstens leeren Kaffeebecher mit in die Küche, wo sie ihn erneut füllte und sich selbst auch nachschenkte. Torsten hatte inzwischen den Laptop gestartet und eine Immobilienseite aufgerufen.
»Kei-tum«, murmelte er, während er tippte.
Siggi stellte den Kaffeebecher neben ihm auf dem Tisch ab. Kurze Zeit später öffnete sich die Seite mit den Ergebnissen der Suche.
»Leck mich fett!«, stieß Torsten hervor. Ungläubig starrte Siggi über seine Schulter auf den Monitor, während er hoch- und runterscrollte. Alle vergleichbaren Objekte waren mit einem Verkaufspreis von zwei bis vier Millionen Euro gelistet.
»Scheiß die Wand an!«, rief Siggi. »Das kann doch nicht sein! So viel kann der olle Kasten einfach nicht wert sein. Da sieht der auch gar nicht nach aus.«
»Na ja, ist halt nicht Hörde, ne? Da treiben sich nicht umsonst die ganzen Promis rum«, merkte Torsten an.
»Jetzt komm ich mir ja erst recht schäbig vor.« Siggis Blick wanderte entschuldigend zu Hildes Porträt. »Was haste dir dabei nur gedacht, Hilde? Ab und zu mal ein Anruf, ein paar Kärtchen … und du vermachst mir eine Hütte, die Millionen wert ist?« Siggi zog einen Stuhl heran und ließ sich darauf fallen. »Kann man so ein Erbe nicht auch ablehnen?«
»Ja, bist du bekloppt?!« Torsten starrte sie ungläubig an.
»Na, ich weiß nicht. Ist doch irgendwie unanständig. So viel Geld.« Wieder schaute Siggi zu Hildes Bild hinüber. Fast erwartete sie, einen vorwurfsvollen Ausdruck im Gesicht der Verstorbenen zu sehen, doch die lächelte unbeirrt ihr herzliches Tante-Hilde-Lächeln.
»Aber das ist es doch gerade«, schaltete sich Torsten wieder ein. »Ich sag ja, der Hilde ging es bestimmt eher um den ideellen Wert. So ‘ne Immobilie, die verkauft man nicht. Das hat schon mein Opa immer gesagt. ‘Immobilien – da haste nur Brassel mit, außer du wohnst selber drin.' Und anscheinend hat die Hilde das ja auch so vorgesehen, sonst hätte sie das mit dem Bauland und der Erbschaftssteuer und all dem Zinnober nicht extra geregelt.«
»Meinste wirklich, Törtchen? Aber ich kann doch nicht nach Sylt. Wie soll denn das gehen? Und wovon soll ich da leben?«
»Na, deine Dildos kannst du auch da verkaufen. Ich mein, die Promi-Tussis können so was schließlich auch gebrauchen. Die haben es bestimmt nötig, dass du ihnen mit ihrer Sinnlichkeit mal auf die Sprünge hilfst.«
Da hatte Torsten etwas Wahres gesagt. Zum ersten Mal erschien Siggi der Gedanke gar nicht mehr so unsinnig. Auf jeden Fall gäbe es eine Menge zahlungskräftiger Kundinnen. Wer bereits alles hatte, suchte womöglich gerade nach dem Besonderen. Wenn sie es geschickt aufzog, könnte sie es auf Sylt auch zur Platinberaterin bringen. Siggi nahm einen großen Schluck Kaffee. Sie musste sich eingestehen, dass sie es mit dem Pulver dieses Mal möglicherweise doch etwas übertrieben hatte, hätte es vor Torsten allerdings keinesfalls zugegeben. Den Kampf »Blümchenkaffee versus flüssiges Herzrasen« führten sie schließlich schon seit Beginn ihrer Beziehung, und Siggi gedachte nicht nachzugeben. Wenn du mit so was einmal anfängst, meint er, er kann dir überall reinquatschen, überlegte sie. Das wusste schon Oma. »Kerle sind wie Giersch im Garten. Wenn man nicht aufpasst, breiten se sich aus wie Hulle, und du wirst se so schnell auch nicht wieder los.«
Nicht, dass sie Törtchen hätte loswerden wollen. Im Gegenteil. Bloß musste man bei Männern immer aufpassen, dass sie sich keine Schwachheiten einbildeten. Ist nie gut, wenn sie sich ihrer Sache zu sicher sind. Also (noch so ein Oma-Spruch): »Vorbeugen ist besser, als auffe Füße kotzen.« Andererseits war Torsten nicht Adam. Auch wenn er manchmal eine große Klappe hatte, war er doch im Kern grundanständig und absolut kein Macho, ganz anders als ihr Ex. Siggi lächelte und sah noch einmal zu Hildes Porträt hinüber. Der Hanno war auch so einer, dachte sie. Für den wär ich auch nach Sylt gezogen. Den mochte ich gut leiden. Schade, dass er so früh gestorben ist. Aber jetzt haste ihn ja wieder, ne, Hilde?
Siggi betrachtete Torsten von der Seite. Gemeinsam alt werden, in einem Häuschen am Meer, Spaziergänge mit Candy am Strand, Fischbrötchen essen, den Seewind um die Nase wehen lassen, und in den Ferien kommen Nisi, Andi und die Enkel – wenn se denn welche ausbrüten – oder die zahlreichen Nichten und Neffen. Eigentlich war die Vorstellung gar nicht mehr so abwegig.
»Wat lächelst du denn so beseelt?« Torsten sah sie amüsiert an.
»Ach, ich hab nur gedacht, dass ich es ja eigentlich gar nicht so schlecht getroffen hab. So insgesamt. Also, jetzt auch ohne das Haus von Hilde.«
Torsten senkte verlegen den Blick und murmelte irgendetwas Unverständliches in seine Kaffeetasse. Er war nicht so für Romantik. Seine Liebe drückte sich eher handfest aus, indem er Regale zusammenschraubte, ihr morgens Kaffee ans Bett brachte oder bei Schietwetter die abendliche Runde mit Candy übernahm. Oder eben, wenn er ihr Violas von der Bude mitbrachte. So sagte Torsten:
Mach dir keine Sorgen, ich bin bei dir.
In solchen Momenten war Siggi klar, dass sie mit diesem Mann den Rest ihres Lebens verbringen wollte. Das Altwerden hatte schlagartig all seinen Schrecken für sie verloren, wenn sie daran dachte, dass sie es gemeinsam tun würden. Und warum nicht in einem Häuschen am Meer? Noch war sie jung genug. Der Gedanke, noch einmal etwas ganz Neues anzufangen, hatte was Verlockendes. Siggi erinnerte sich genau an das Gefühl, als sie vierzig geworden war, vor fünf Jahren. Es waren gar nicht so die Falten und die Auswirkungen der unerbittlichen Schwerkraft, die ihr zu schaffen gemacht hatten. Es war vielmehr dieses Gefühl, dass einem nicht mehr alles offenstand. Mit zwanzig, auch noch mit dreißig, da hatte sie das Gefühl gehabt, es wäre noch nichts entschieden, sie könnte jederzeit noch einmal alles anders machen. Doch je älter man wurde, desto fester hatte man sich eingefahren. Der Lebensweg wurde mehr und mehr zum Gleis, auf dem man nur noch in die festgelegte Richtung rollte. Veränderungen wurden zum Kraftakt, weil alle möglichen Verpflichtungen dranhingen.
Torsten hatte eigentlich recht. Es würde kaum mehr ein günstigerer Zeitpunkt kommen als dieser, wenn sie ihrem Leben eine neue Richtung geben wollte: Denise war selbstständig, hatte einen festen Job und war aus den Flegeljahren weitgehend raus. Und was die Eltern anging, warum sollte sie sich allein verantwortlich fühlen? Die beiden waren jetzt noch fit genug, um für sich allein zu sorgen. Und wenn sich das ändern sollte … wozu hatte sie Geschwister? Holger, den alten Hallodri, konnte man getrost außen vor lassen. Wer weiß, was dem als Nächstes Beklopptes in den Kopf kam! Und bei fünf Kindern aus insgesamt drei Ehen musste man nicht erwarten, dass er Geld übrig hätte, um eventuell noch für die Eltern aufzukommen. Aber auf Susanne war Verlass, und Christiane und ihr Zahnarzt hatten schließlich genug Kohle. Sylt. Warum eigentlich nicht?
Siggi fühlte sich mit einem Mal ganz kribbelig. Am Morgen war die Frage noch gewesen, ob sie den Laden lieber heute als morgen aufgeben sollte, und jetzt stand ihr plötzlich so eine Möglichkeit offen. Alles hinter sich lassen und noch einmal etwas ganz anderes anfangen. An einem Ort, an dem andere Urlaub machten. Sie würde eine Nacht darüber schlafen müssen – oder vielleicht auch zwei oder drei. Und sie musste mit Nisi sprechen. Der Rest der Mischpoke würde einfach vor vollendete Tatsachen gestellt werden.
Wer weiß? Vielleicht war Torstens Bemerkung gar nicht verkehrt gewesen. Plötzlich Friesin. Der Gedanke hatte was.