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Eine andere Welt
An diesem Samstag wollten Siggi und Törtchen eine Radtour unternehmen, um ihre neue Heimat zu erkunden. Torsten war extra früh aufgestanden, hatte Brötchen geholt und den Tisch gedeckt.
»Das ist doch mal ein richtig guter Kaffee«, sagte er selbstzufrieden. »Merkste? Kein stumpfes Gefühl auffe Zähne, kein Herzrasen …«
Siggi verdrehte die Augen, würdigte die spitze Bemerkung aber keines Kommentars. Stattdessen deutete sie auf die Zeitung, die er mitgebracht hatte. »Gibste mir auch einen Teil? Dich interessiert doch sowieso nur der Sport. «
»Du kannst dir meinetwegen Kultur , Unterhaltung und Buntes aus aller Welt und diesen Krempel nehmen. Den Rest wollte ich noch lesen.«
Siggi nahm die Seiten heraus und begann zwischen herzhaften Bissen vom Honigbrötchen darin zu lesen, während Törtchen seinen Teil studierte.
»Krass!«, murmelte er.
»Wat denn?«, wollte Siggi wissen.
»Ach, hier steht, dat vor allem im Süden immer mehr von der Insel weggespült wird. Und neulich beim Sturm ist durch so einen Dünenabbruch wieder ein Teil einer alten Bunkeranlage freigespült worden und auf den Strand gekracht. Da ist jetzt abgesperrt und so, bis die den Betonklotz abgetragen haben.«
»Ach was!« Siggi staunte. »Ein Bunker? Aus’m Zweiten Weltkrieg oder was?«
»Ja, die haben hier noch ganz viele ehemalige Bunkeranlagen. Ich les grad, dat die Kupferkanne – weißte, dieses Kultcafé, von dem du neulich geredet hast – auch früher mal ein Bunker war. Wusstest du das?«
»Nee. Ist ja ein Ding. Da müssen wir unbedingt mal hin, uns das angucken.«
»Klar, machen wir irgendwann einmal. Wie es aussieht, sind wir ja noch ‘ne Weile hier.« Torsten knickte die Ecke der Zeitung herunter und grinste Siggi an.
Sie lächelte zurück. »Krieg ich immer noch nicht ganz klar mit meinem Verstand, dat wir hier nicht nur mal nett Urlaub machen und morgen wieder Koffer packen. Geht dir dat auch so?«
Torsten nickte. »Ja, klar. Aber ist auch schön, das Gefühl. In unserm Alter noch mal was komplett Neues anfangen, wo se einen alle für verrückt erklären.«
»Da hasse recht. Und dat Schönste ist, dat wir das gemeinsam machen, Törtchen. Du und ich.«
»Hör auf, ich werd' ja noch sentimental.« Torsten knickte die Ecke der Zeitung wieder hoch und verschwand dahinter. Es war ihm unangenehm, wenn Siggi zu gefühlsduselig wurde, aber sie wusste, dass er so etwas im Grunde doch gern hörte. Auch Siggi kehrte zu ihrer Zeitungslektüre zurück.
»Das ist ja der Hammer!«, rief sie nach einer Weile. »Törtchen, das musst du dir anhören.«
»Muss ich wirklich?«, fragte er süffisant und knickte seinen Zeitungsteil am Rand herunter.
» Peinliche Mikrofonpanne bei Alina Bühl: So denkt sie wirklich über Konkurrentin Lenka. «
»Och nö! Ehrlich jetzt?« Torsten klappte die Zeitung wieder hoch. »Muss ich mich nun schon am frühen Morgen mit deinem Schlagerkram auseinandersetzen?«
Unbeirrt fuhr Siggi fort: »Unfassbar! Diese neidische Ziege! Die kann es ja nur nicht verknusen, dass Lenka sie von ihrem Sockel geholt hat. Hier, hömma: … hatte die Fünfunddreißigjährige wohl nicht bemerkt, dass das Mikrofon noch lief, und lästerte freimütig über Konkurrentin Lenka. In dem Ausschnitt, der sofort in den sozialen Medien viral ging, ist zu hören, wie sie die Kollegin als ‘talentfreie Hupfdohle' bezeichnet, die sich ‘kleidet wie auf dem Straßenstrich'. Das ist doch wohl die Höhe, oder nicht?«
»M-hm«, machte Torsten und nahm einen Schluck Kaffee.
Siggi war sich sicher, dass er nicht zugehört hatte, dennoch musste sie ihrem Ärger Luft machen und sprach weiter. »Dabei ist Lenka so eine tolle Künstlerin. So sympathisch, unglaublich hübsch und auch noch privat so wat von freundlich und bodenständig. Die Bühl, die olle Schabracke, kann es nur nicht vertragen, dass ihr Stern am Sinken ist. Die hat doch in den letzten Jahren nur noch Müll produziert und macht krampfhaft auf jugendlich. Dabei tät se besser dran, die Tatsachen zu akzeptieren und wat gesetzter aufzutreten.«
»M-hm«, murmelte Torsten wieder und tastete auf seinem Teller nach dem Brötchen. Wahrscheinlich war er in den Sportteil vertieft. Seltsamerweise gab es auch außerhalb der Bundesligasaison noch genug, was unbedingt gelesen oder gesehen werden musste. Das wiederum fand Siggi mindestens genauso befremdlich wie Törtchen ihr Interesse für Schlagerstars, Adlige und diverse europäische Königshäuser.
Schließlich waren die Brötchen verputzt, der Kaffee war getrunken und die Zeitung ausgelesen, und die beiden machten sich bei schönstem Sonnenschein auf den Weg.
Candy war bei Ingeborg geblieben, die sich auf Anhieb in die freche Yorkshire-Dame verliebt hatte. Siggi wollte noch einen Fahrradkorb besorgen, damit Candy in Zukunft mitfahren konnte. Torsten hatte inzwischen auch Hannos Rad wieder flottgemacht. Als Ziel hatte Siggi Kampen ausgesucht, denn sie war neugierig auf das Sylt der Schickeria. Törtchen hatte sie mit der Aussicht locken können, dass womöglich Kloppo gerade in seinem Sylter Domizil Urlaub machte. Deshalb hatte Torsten sich zum Schutz seiner nur noch recht dünn besiedelten Schädeldecke für die Radtour extra seine gelb-schwarze »Pöhler«-Baseballmütze aufgesetzt.
»Vielleicht bringt se mir ja Glück«, verkündete er optimistisch. »Jetzt im Juli könnt dat glatt noch sein. Die Saison fängt schließlich erst im August an. Und überhaupt, Susi Zorc soll ja auch ein Haus auf Sylt haben.«
Guter Dinge radelten sie also los über Munkmarsch und Braderup, vorbei am Langen Christian, dem schwarz-weißen Leuchtturm von Kampen, wo sie kurz Station machten und sich auf das Mäuerchen davor hockten, um etwas zu trinken.
»Klingt so ‘n bisschen pornös, ‘Langer Christian', findste nicht?«, witzelte Torsten, als er das Schild las. »Hömma, wär doch ‘ne Idee für deine Dildo-Partys: ‘Neu, jetzt in der Sylt-Edition. Hol dir den »Langen Christian« für extralanges Vergnügen'.«
»Ha, ha!« Siggi schüttelte den Kopf. »Da kann ich überhaupt nicht drüber lachen. Der Gag war so flach, den kannste unter der Tür durchschieben.« Trotzdem musste sie grinsen. Törtchen konnte man einfach nichts übel nehmen.
»Schön is' dat hier!«, stellte der zufrieden fest und ließ den Blick über die Felder zum Watt hinüber schweifen. »So friedlich, kein Lärm, keine Strallerbahn …«
»… kein Frittenmief vom Europa-Grill  …«, ergänzte Siggi schmunzelnd, legte den Arm um Torstens Rücken und schmiegte sich an seine Seite. »Ich denke, ich werde mich wohl dran gewöhnen.«
Sie radelten weiter, entlang der Hauptstraße mit ihren Boutiquen und Restaurants, über den Strönwai, die sogenannte »Whiskymeile«. Kampen überraschte Siggi ein wenig. Bei Schickimicki und High Society musste sie an Jachten denken, an Palmen und Bikinimädchen, an Saint-Tropez oder die vergoldeten Luxushochhäuser in Dubai. Dagegen wirkte Kampen beinahe bescheiden und bodenständig mit den romantisch anmutenden niedrigen Häusern, den gepflegten Gärtchen, in denen wenig Exotisches wuchs, und den aufgeräumt und schlicht erscheinenden Außenbereichen der Restaurants und Cafés. Und immer, wenn sie das Gefühl hatte, dass es gar nicht so überkandidelt und »Bussi-Bussi« war, wie man allgemein glaubte, entdeckte sie etwas, das jedes Klischee bestätigte. Auch jetzt stöckelte eine mit reichlich Silikon ausgekleidete Dame mit Handtaschenhündchen, Sprühbräune und Hermès-Tasche vorbei. Nicht, dass Siggi etwas gegen kleine Hunde gehabt hätte, sie liebte ihre Candy über alles. Doch die Yorkshire-Hündin war ein Familienmitglied, kein Modeaccessoire, und es wäre Siggi im Traum nicht eingefallen, sie in irgendwelche Tüllröckchen oder Kostümchen zu stecken. Manches hier wirkte jedenfalls fast wie eine Hitparade der Sylt-Klischees: wenn in einer kleinen Straße vier oder fünf Porsches parkten, man an den Geschäften große Markennamen entdeckte, Burberry-Karos hier, Tod’s Noppen-Loafers da, straff gespannte, mimikfreie Botox-Gesichter, Kaschmir, Gucci, Manne Pahl , Pony Club , Gogärtchen und tatsächlich das eine oder andere prominente Gesicht. Eine berühmte Persönlichkeit im Garten eines Restaurants oder Cafés zu sichten weckte eine seltsame Neugier darauf zu sehen, wie dieser Mensch, den man aus Zeitschriften und Fernsehen kannte, wohl aussah, wenn er so profane Dinge tat, wie einen Cappuccino zu trinken oder Salat zu essen. Diesem Sog konnte Siggi sich nicht entziehen, denn zu ihren heimlichen Vergnügen gehörte, in Klatschblättern alles über Skandale, Affären und das alltägliche Leben von Adel, Stars und Sternchen zu lesen.
Sie stellten die Räder ab und bummelten ein wenig durch die Straßen, um sich umzusehen. Nachdem Siggi einen bekannten Schauspieler aus einer Vorabendserie auf der Terrasse eines Eiscafés entdeckt hatte, ertappte sie sich dabei, wie sie die Restaurants, Cafés und Geschäfte förmlich nach Promis abscannte, in der Hoffnung, jemand Bekanntes zu entdecken und später darüber berichten zu können. Eigenartig, was für eine Faszination diese Personen ausübten, obwohl sie letztlich doch auch nur Menschen mit normalen Bedürfnissen waren, die hier und da Hilfe benötigten, zum Beispiel, um ihre Bude sauber zu halten. Siggi musste an Lenka denken und daran, wie erfrischend normal und zugänglich sie gewirkt hatte. Keine Spur von Arroganz oder Überheblichkeit und Stargehabe, da gab es bestimmt ganz andere.
Plötzlich entdeckte Siggi im Schaufenster einer Boutique, an der sie vorbeikamen, etwas, das ihr Interesse auf sich zog. »Du, Törtchen, warte mal. Ich möchte da mal gucken.« Sie blieb stehen und betrachtete hingerissen die Auslage. An einer viel zu schlanken Puppe aus weißer Keramik war ein Kleid in einem auffälligen Magentaton drapiert. Es hatte einen runden Halsausschnitt, Dreiviertelarm und reichte etwa bis zu den Waden. An den Seiten war es leicht geschlitzt, und die Taille wurde von einem interessanten Knotendetail betont, ein Hingucker an dem ansonsten schlichten Stück. Zwei seitlich angenähte schmale Stoffbahnen waren vorne zu einem eleganten Knoten verschlungen, der dem Kleid Form und Struktur gab. Zunächst hatte nur die knallige Farbe Siggi angezogen. Sie liebte kräftige Pink- und Rottöne. Jetzt, bei genauerer Betrachtung, war sie schockverliebt. Das Kleid war ein Teil, das sie für sich nie in Betracht gezogen hätte. Es war von einer schlichten, geradlinigen Eleganz. Sie hätte sich Herzogin Catherine darin vorstellen können.
Torsten war inzwischen neben sie getreten und sah sich ebenfalls das Schaufenster an. »Was gibt es denn so Interessantes?«
»Na, das Kleid. Ist das nicht ein Traum?«
Törtchen legte die Stirn in Falten und den Kopf schief und betrachtete es. »Weiß nicht, sieht irgendwie ein bisschen aus wie ein Bademantel mit dem Knoten vorne, meinste nicht?« Er entdeckte ein Preisschild. »Ein Bademantel für vierhundertfuffzig Euro. Aber hier ist das wahrscheinlich noch günstig.«
»Ich wüsste ja gern mal, ob mir so was steht«, überlegte Siggi laut. »Wenn ich jetzt demnächst zu den Jetset-Damen muss wegen meiner Girlfriendz -Partys, sollte ich mir vielleicht ein paar etwas seriösere Teile zulegen. So ein bisschen erwachsener halt. Nur natürlich nicht so teuer. Dafür reicht das Budget nicht.«
»Probier den Fummel doch einfach mal an«, schlug Torsten vor.
»Nee, ich kann nicht da reingehen und das Teil anprobieren. Die riechen doch auf eine Meile gegen den Wind, dass ich nicht die Kohle dafür habe.«
»Papperlapapp. Und selbst wenn. Anprobieren ist nicht verboten. Steht nirgendwo geschrieben, dass du die Plünnen kaufen musst, wenn du se einmal anprobierst.«
»Ja, stimmt schon. Meinste, ich soll wirklich?«
»Na klar, warum denn nicht?«
»Also gut, dann komm. Wir gehen rein.«
»Nee, geh du mal allein«, wehrte Torsten ab. »Mich kriegste in so ‘ne Chichi-Bude nicht rein. Ich setz mich da drüben auf die Bank, genieße die Sonne und guck mir die Leute an.«
Siggi musste grinsen. Er hatte zwar gerade noch so getan, als stünde er völlig über den Dingen und als gehörte kein Mut dazu, in diese teure Boutique zu spazieren und einfach etwas anzuprobieren, das man sich eigentlich nicht leisten konnte. Aber es war ihm offenbar doch unangenehm, in seiner ausgebeulten Cargo-Bollerbuxe, dem verwaschenen Star Wars -T-Shirt und dem »Pöhler«-Käppi in den Laden zu gehen.
Mit einem unsicheren Gefühl steuerte Siggi den Eingang an. So ähnlich fühlte sie sich, wenn sie an Weihnachten die Christmette in der katholischen Kirche besuchte. Sie mochte einfach das Feierliche, Prunkvolle und das Weihrauchgeschwenke. Dabei war sie sich aber unangenehm bewusst, dass sie nicht wirklich dazugehörte, und beobachtete krampfhaft die anderen Leute, um zu sehen, wann man sich bekreuzigen, hinknien oder aufstehen musste. So, als könnte jeden Moment jemand mit dem Finger auf sie zeigen und rufen: »Seht, diese unverschämte Person hat sich hier eingeschlichen und nimmt an unserer heiligen Messe teil, obwohl sie evangelisch ist und nur an Weihnachten in die Kirche geht!« Natürlich war das ausgemachter Blödsinn, doch das Gefühl, eine Hochstaplerin zu sein, blieb.
Möglichst unauffällig huschte Siggi durch die Tür, was aber von dem elektronischen Glockenspiel sabotiert wurde, das die Ankunft neuer Kundschaft begleitete. Prompt stürzte eine Verkäuferin auf sie zu.
»Guten Tag. Kann ich Ihnen helfen?«
Zu einer blitzweißen Off-Shoulder-Bluse trug sie einen lässigen braunen Wildlederrock und hatte die Haare zu einem ordentlichen Knoten aufgesteckt, aus dem nur an den Schläfen keck ein paar Strähnchen heraushingen. Die ungezwungene Eleganz der jungen Dame wirkte einschüchternd.
»Äh, nein danke. Ich schau nur mal«, murmelte Siggi und wandte sich den Kleiderständern zu, wo sie rasch fündig wurde. Während sie sich noch fragte, welche erwachsene Frau ernsthaft die Kleidergröße 32 tragen konnte, startete die Verkäuferin einen weiteren Versuch.
»Das ist ein traumhaftes Kleid, nicht wahr?«
»Ja, äh … das ist es. Absolut«, stimmte Siggi zu. Sie hatte das Modell inzwischen in Größe 38 gefunden und zog den Bügel heraus, um es zu betrachten. »Ich würde … also, wenn es geht, würde ich das gern mal anprobieren.«
»Natürlich. Kommen Sie, ich zeige Ihnen die Kabine.«
Siggi entspannte sich ein wenig. Die junge Frau schien nicht zu finden, dass Siggi für diese Boutique nicht exklusiv genug aussah.
Als sie aus der Kabine trat und sich in dem langen Spiegel davor betrachtete, musste sie zugeben, dass ihr das Kleid ausgenommen gut stand. Es wirkte seriös und elegant, ohne dass sie darin verkleidet ausgesehen hätte. Die kräftige Farbe passte zu ihrem eigenwilligen Stil. Sofort kam auch die Verkäuferin wieder herbeigeeilt.
»Das steht Ihnen wunderbar!«, rief sie begeistert aus, ob aus echter Überzeugung oder Profitinteresse. »Darf ich?« Sie stellte sich hinter Siggi und zupfte das Kleid an den Schultern zurecht. Unterdessen kündigte das elektronische Gebimmel der Türglocke weitere Kundschaft an. Die Verkäuferin wandte sich um. »Ach! Guten Tag, Gräfin! Wie schön, Sie einmal wieder zu sehen!«, grüßte sie die neue Kundin und wandte sich ihr zu. »Was kann ich für Sie tun?«
Die ältere Dame trug einen schlicht geschnittenen cremeweißen Hosenanzug und dazu ein leuchtend orangerotes Schaltuch. Ihr kinnlanges silbrig weißes Haar war kunstvoll zu einer Art Helm frisiert, und an ihrem Arm baumelte eine ebenfalls orangerote Henkeltasche. Siggi erkannte das Logo einer exklusiven Designermarke darauf. Die Dame klappte den dunklen Sonnenbrillenclip ihrer Brille hoch und hatte so ein wenig Ähnlichkeit mit einem Insekt. Sie musterte Siggi mit einem ungeniert aufmerksamen Blick, der gleich ihre Unsicherheit wieder aufwallen ließ.
»Nein, nein, bedienen Sie zuerst die Kundin. Ich sehe mich ein wenig um«, verkündete die Dame in einer Stimmlage, die Siggi an grobes Sandpapier denken ließ.
Bevor sie jedoch unauffällig in die Kabine huschen und das Kleid wieder ausziehen konnte, wandte sich ihr die Verkäuferin erneut zu.
»Kommt das Kleid für Sie infrage?«
»Äh … na ja.« Siggi kam sich blöd vor. Sie mochte nicht zugeben, dass sie es sich nicht unbedingt leisten konnte, und suchte nach einem anderen Grund, warum sie es nicht kaufen wollte. »Ich bin mir nicht so sicher wegen der Länge. Macht es mich nicht ein wenig klein?«
»Die Midi-Länge ist zurzeit sehr angesagt«, erklärte die Verkäuferin beflissen, »und wenn man dazu einen Schuh mit Absatz kombiniert, streckt das die Silhouette optisch wieder.«
Sie griff ins Regal und nahm eine violette Stiefelette heraus, die aussah wie eine gestrickte Socke mit Zopfmuster, an die jemand einen Stiletto-Absatz geklebt hatte.
»Ganz trendy dazu ist zum Beispiel unser neuer Sock Boot. Warum probieren Sie ihn nicht einmal an?« Ohne Siggis Antwort abzuwarten, fummelte sie bereits die Pappe und das Seidenpapier heraus, die dem Sockenschuh seine Form verliehen.
»Also, ich weiß nicht, ich …«, begann Siggi. »Ich glaube nicht, dass ich so etwas tragen kann.«
»Unsinn, Herzchen!« Die Gräfin war inzwischen ebenfalls in den hinteren Bereich des Ladens vorgedrungen und baute sich neben ihnen auf. »Das Kleid ist wie für Sie gemacht. Und Sie probieren jetzt die Schuhe dazu. Sie machen einer alten Frau damit eine Freude. Ich denke, Sie haben doch wohl noch Respekt vor dem Alter und werden mir diesen Wunsch nicht abschlagen.«
Ihre Miene war streng, so wie sich Siggi die der Leiterin eines Mädchenpensionats vorgestellt hätte. Diese Frau sah aus, als duldete sie keinen Widerspruch.
»Äh … na ja, also, wenn Sie meinen …« Siggi griff nach den Schuhen und den Probiersöckchen, die ihr die Verkäuferin reichte, und schob den Vorhang der Kabine beiseite, um sich auf den Schemel zu setzen und sie anzuziehen.
»Na also, brava! «, kommentierte die Gräfin, als Siggi schließlich unter ihrem kritischen Blick aus der Kabine stöckelte. Sie deutete Applaus an. »Wie für Sie gemacht, ma minette. Dieses Kleid hat hier auf Sie gewartet.«
»Ich finde auch, dass es Ihnen hervorragend steht«, pflichtete die Verkäuferin eifrig nickend bei.
»Also, ich weiß nicht …« Siggi suchte verzweifelt nach einem Einfall, wie sie sich aus der Situation herauswinden konnte, ohne zugeben zu müssen, dass sie überhaupt nicht genug Geld dabeihatte, um das Kleid zu bezahlen, und es auf ihrem Konto aktuell auch nicht so viel besser aussah als in ihrem Portemonnaie. »Ich würde mir das gern noch einmal überlegen und ein anderes Mal vorbeikommen.«
»Ich kann das Kleid gern bis Dienstag für Sie zurückhängen«, bot die Verkäuferin an.
Dankbar griff Siggi nach diesem Rettungsanker. »Ja, danke, das wäre sehr freundlich«, sagte sie und verschwand eilig wieder in der Kabine, um sich umzuziehen.
Als sie schließlich in Zivil wieder aus der Umkleide trat, war die seltsame Gräfin verschwunden.
Siggi trug Schuhe und Kleid zum Verkaufstresen und legte sie dort ab. »Ich komme dann später noch einmal«, beeilte sie sich zu sagen und wollte schnell den Laden verlassen, doch die Verkäuferin hielt sie zurück.
»Halt, warten Sie bitte. Sie können das Kleid und die Schuhe gleich mitnehmen. Sie sind bereits bezahlt. Ich packe sie Ihnen nur schnell ein.«
»Aber … ich kann doch nicht …«, stammelte Siggi.
Die Verkäuferin lachte nur. »Die Gräfin hat darauf bestanden. Machen Sie sich keine Gedanken. Sie hat mehr Geld, als man sich vorstellen kann. Die Dame ist ein wenig exzentrisch und immer für eine Überraschung gut.«
»Aber ich kann das doch überhaupt nicht annehmen«, protestierte Siggi, der die Tatsache, dass eine vollkommen Fremde ihr einfach so ein so teures Kleid und dazu noch die passenden Schuhe kaufte, reichlich unheimlich war. Sie lief zur Tür und schaute hinaus. Gerade noch sah sie das orangerote Schaltuch hinter dem Steuer eines altmodischen Sportwagens davonflattern, der sie an einen klassischen James Bond -Film erinnerte. Sie zuckte mit den Schultern. Wenigstens bedanken hätte sie sich wollen. Kurz darauf verließ sie, noch immer vollkommen verdattert, mit einer großen Papiertragetasche das Geschäft.
Törtchen schaute auf und kam ihr mit gerunzelter Stirn entgegen. »Du hast das jetzt nicht allen Ernstes gekauft?!«, rief er.
Siggi schüttelte den Kopf und erzählte ihm, was passiert war.
»Die Lady, die gerade in dem Vintage BMW Roadster abgebraust ist?«
»Keine Ahnung, was dat für ein Auto war. Für so was bist du zuständig.« Siggi grinste. »So ‘n Oldtimer-Cabriolet halt.«
Torsten schüttelte den Kopf. »Krass. Was es nicht alles gibt! Die hat echt einfach die Klamotten bezahlt und ist abgerauscht?«
»Ja, wenn ich es dir doch sage!«
»Du weißt, dass ich die Kontoauszüge sehe, ne? Wenn du mich veräppelst und da fehlen nachher ein paar Hundert Euro auf’m Konto …«
»Nee, ehrlich nicht!«, protestierte Siggi. »Du traust mir aber auch Sachen zu!«
»Meinste, wenn ich mich jetzt lange genug vor so ‘nen Autohändler stelle, kommt ein Graf vorbei und schenkt mir ‘ne Luxuslimousine?« Torsten lachte. »Ich mein, weil se mir so gut zu Gesicht steht und genau für mich gemacht zu sein scheint und so? Macht ja ‘nen schlanken Fuß, so was.«
Siggi prustete. »Träum weiter. Komm, wir holen die Räder. Ich möchte zum Strand und vielleicht noch ein bisschen über die Heide spazieren.«