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Viele Fragen, keine Antworten
Siggi griff nach der Brötchentüte, die ihr die Verkäuferin über den Tresen reichte, und wollte sich zum Gehen wenden.
» Tragischer Unfall oder Selbstmord? LENKA: Einsamer Tod in der Badewanne «, schrie ihr die Schlagzeile des Boulevardmagazins im Zeitungsständer entgegen.
Am liebsten hätte Siggi ihn umgestoßen. Eilig verließ sie das Geschäft und lief die Munkmarscher Chaussee entlang heimwärts. So schön der frische Julimorgen, die malerischen Kapitänshäuschen mit ihren hübschen Gärten und schattigen alten Bäumen auch waren – Siggi nahm ihre Umgebung kaum wahr. Jetzt war schon Samstag, und noch immer fühlte sie sich, als hätte jemand sie in ein Fischglas gesetzt. Es war, als drängen alle Sinneseindrücke aus der Außenwelt – der Geruch von frisch Gebackenem und Kaffee, das Zwitschern der Vögel, die Stimmen der Passanten – nur gedämpft zu ihr durch. Was in den letzten Tagen geschehen war, kam ihr so unwirklich vor: der schreckliche Moment, in dem ihre Hand durch das kalte Wasser getaucht war und die ebenfalls kalte Schulter der jungen Frau berührt hatte. Ihre Hilflosigkeit, Polinas hysterisches Weinen, die Befragung durch die Polizei. Es war, als befände sie sich plötzlich mitten in einem Fernsehkrimi, ohne ihre Rolle darin, Text oder Regieanweisungen zu kennen.
Nachdem die Polizei sie befragt und ihre Aussage zu Protokoll genommen hatte, war Siggi nach Hause gegangen. Ganz lapidar. So, wie man nach Erledigung seiner Arbeit eben nach Hause ging. Sie hatte überlegt, Torsten anzurufen, aber sie wollte ihm keine Probleme bei seinem neuen Job machen. Auch Ingeborg war nicht zu Hause gewesen. Also hatte sie sich nach einer kurzen Gassirunde mit Candy auf die Couch gekuschelt und ihren Gedanken an Lenka nachgehangen, bis Torsten am Abend heimgekommen war.
In solchen Momenten war es hilfreich, dass Torsten nicht gern über Gefühle oder Unangenehmes sprach. Er machte nicht viele Worte, sondern hörte einfach zu und nahm sie in den Arm. Auch Candy hatte feine Antennen dafür, wann es ihrem Frauchen nicht gut ging. Dann war sie besonders schmusig und anhänglich und wich Siggi kaum von der Seite. Und so hatte sie die letzten Tage in einem beinahe traumwandlerischen Zustand verbracht und sich noch nicht einmal gebührend darüber freuen können, dass allmählich immer mehr Anfragen für Girlfriendz -Partys und Kosmetikbehandlungen eingingen.
Beim Frühstück stellte Siggi gerührt fest, dass Torsten den Kaffee ihr zuliebe deutlich stärker gekocht hatte, als er ihn bevorzugte. Sie fühlte sich gleich ein klitzekleines bisschen besser. »Du bist lieb, weißte das?«, sagte sie und lächelte schwach. »So was muss man echt ers' ma' verpacken. Ich bin noch immer völlig vonne Rolle.«
»Na, logisch«, bestätigte Torsten. »Klar, dass dich das mitgenommen hat. Ist ja nicht schön, jemanden so zu finden.«
»Ich kann mich gar nicht erinnern, ob ich schon mal einen Toten gesehen habe, außer Oma Käthchen damals«, überlegte Siggi leise. »Die wurde noch richtig aufgebahrt und so. Aber dat is' ja wat anderes. Die Oma war alt und schon sehr krank. Da hatteste das Gefühl, is' ne Erlösung, weißte? Aber so ‘ne junge Frau? Und gerade noch am Anfang ihrer Karriere. Die hatte doch noch so viel vor sich. Die war ja gerade mal acht Jahre älter als Nisi. Stell dir mal vor … nee, da darf ich gar nicht erst dran denken. Die armen Eltern und die arme Schwester!«
»Und du meinst, sie hat sich umgebracht?«, fragte Torsten. »Gab es denn dafür vorher irgendwelche Anzeichen?«
»Das ist es ja, was mir die ganze Zeit durch ‘n Kopp geht«, entgegnete Siggi. »Eigentlich wirkte se nicht depressiv oder so. Vielleicht schon wat einsam irgendwie. Kam mir vor, als brauchte se jemanden zum Reden. Zumindest den Montag, als ich da angefangen hab. Aber auf den ersten Blick sah es so aus. Jedenfalls war die Tür abgeschlossen, Lenka muss also von innen den Knauf gedreht haben, und es lagen Schlaftabletten rum.«
»Na ja, man sagt ja immer, dass selbst nahe Verwandte und Freunde dat oft vorher nicht merken«, meinte Torsten. »Da steckste halt nich' drin. Kannst den Leuten ja nur vor den Kopp gucken.«
»Schon, aber es ist irgendwie so merkwürdig«, wandte Siggi ein. »Sie hat mir sogar erzählt, dass sie keine Schlaftabletten mehr nimmt, weil sie ein besseres Mittel gegen ihre Schlafstörungen gefunden hatte. Und warum sollte se vorher noch ein Haus kaufen, wenn se vorhat, sich das Leben zu nehmen?«
»Vielleicht wollte se Ruhe haben dafür?«, mutmaßte Torsten.
»Möglich«, entgegnete Siggi. »Oder es war ein Unfall. Vielleicht ist sie einfach eingeschlafen.«
»Wenn se die Schlaftabletten vorher abgesetzt hatte, vielleicht hat se die gewohnte Dosis nicht mehr verpackt. Kann schon sein, oder?«, überlegte Törtchen.
»Schon«, gab Siggi zu. »Aber ich kann das trotzdem nicht glauben. Dafür war die irgendwie nicht der Typ. Außerdem …« Siggis Blick fiel auf die mittlerweile reichlich gerupft aussehenden Blumen von Fabian Guldsteen, die Lenka ihr überlassen hatte. »… na ja, ich weiß nicht, da war so was in ihrem Blick … Als der Strauß ankam und sie das Kärtchen rausgenommen hat. So, als hätte se damit gerechnet, dass sie von wem anders sind. Sie sah erst ganz happy aus. Nur, als sie gesehen hat, von wem sie waren, wurde se sauer. Ich hab hinterher gedacht, vielleicht isse verliebt. Könnte schon sein, weil se sich doch ziemlich überraschend von Fabian Guldsteen getrennt hat.«
»Du meinst, sie hatte einen Neuen?«, wunderte sich Torsten.
»Keine Ahnung, aber ich hatte das Gefühl. Macht ja auch irgendwie Sinn. Wenn se einen kennengelernt hätte, dass se sich dann trennt und so.«
»Hätten das nicht deine Klatschblätter längst mitgekriegt?«, warf Törtchen ein.
»Das sind nicht meine Klatschblätter, und nein. Wenn es noch ganz frisch war, vielleicht nicht.« Siggi fühlte, wie die Taubheit, die sie empfunden hatte, langsam einer wachsenden trotzigen Gewissheit wich. »Jedenfalls glaub ich nicht, dass se sich umgebracht hat. Die Lenka nicht.«
»Also war’s ein Unfall«, folgerte Torsten.
»Oder es war … Mord.« Siggi erschrak selbst, als ihr die Vermutung über die Lippen geschlüpft war. »Vielleicht hat jemand sie ertränkt und es wie einen Selbstmord aussehen lassen.«
»Wie soll denn das vonstattengehen, und wer sollte daran ein Interesse haben?« Torsten schüttelte ungläubig den Kopf.
»Keine Ahnung.« Siggi dachte darüber nach. »Vielleicht ihr Ex, Fabian Guldsteen. Der ist ziemlich abgedreht nach der Trennung und hat ihr wohl auch gedroht. Oder diese Bühl. Die sah ihre Felle davonschwimmen und hat die Konkurrenz aus dem Weg geräumt. Oder ihr Manager, Udo Karstens. Von dem wollte se sich offenbar auch trennen, und am Mittwoch, als wir sie gefunden haben, wollte er angeblich irgendwelche Unterlagen holen.«
»Und was ist mit der Schwester? Die könnte es doch auf das Erbe abgesehen haben, oder nicht?«
»Stimmt, daran habe ich noch gar nicht gedacht«, entgegnete Siggi. »Allerdings war die am Dienstagabend irgendwo feiern. Jedenfalls hat se das behauptet. Aber die kommt mir jetzt auch nicht gerade wie eine Mörderin vor. Sie war total am Boden zerstört. Das kann ich mir wirklich nicht vorstellen. Und außerdem weiß ich gar nicht, ob die Geschwister überhaupt was erben. Werden nicht erst die Eltern berücksichtigt, wenn es keinen Ehemann und keine Kinder gibt? Damit kenne ich mich nicht aus. Tja, jede Menge Fragen und keine Antworten. Ich schätze, bleibt nur abzuwarten, was die Polizei sagt.«
»Richtig, die werden schon wissen, was sie tun«, bestätigte Torsten. »Kannst ja eh nix anderes machen. Am besten, du lenkst dich mit deiner Arbeit ab. Du hast doch ‘ne Menge Aufträge reinbekommen.«
»Stimmt. Da werd' ich mich jetzt reinhängen müssen.« Siggi nickte und schnitt ein Stück Fleischwurst für Candy ab. »Hier, meine Süße, sollst ja auch nicht leben wie ‘n Hund.«
Dieses Mal meckerte Torsten nicht. Er sah es normalerweise nicht gern, wenn sie Candy bei den Mahlzeiten vom Tisch fütterte und sie damit fürs Betteln belohnte. Siggi fand sogar, dass er damit absolut recht hatte, aber sie konnte einfach nicht streng sein, wenn Candy sie so flehentlich ansah. Heute ließ Torsten sie gewähren und gab vor, es nicht zu bemerken. Siggi wusste, dass er es aus Rücksicht tat, und ihr wurde warm ums Herz.
»Nächsten Samstag ist die Party bei dieser von Gnietschfleth«, sagte sie, um das Thema zu wechseln und wieder auf andere Gedanken zu kommen. »Davor hab ich jetzt schon ein bisschen Muffensausen, nach dem, was Inge mir über die Familie erzählt hat. Scheint ein schwer versnobter Haufen zu sein. Da fall ich doch vollkommen aus dem Rahmen.«
»Du packst das schon.« Torsten legte die Hand auf ihre. »Sei einfach du selbst. Das hat Inge doch auch gesagt. Haste mir neulich erst erzählt.«
»Ich weiß. Trotzdem muss ich bis dahin noch ‘n bisschen Routine kriegen, damit ich mich zumindest sicher fühle, was die Warenkunde angeht und alles. Der Rest kommt dann bestimmt von allein. Heute Abend habe ich eine Party bei einer entfernten Bekannten von Inge. Da kann ich schon mal üben.«
Das Handy auf der Tischplatte vibrierte und dudelte Un poco de mi von Jerry González. Den Klingelton hatte sie noch am Mittwochabend geändert, um nicht ständig an Lenka erinnert zu werden. Siggi nahm das Gespräch an.
»Siggi? Hallo, Polina Rybakova hier.«
»Polina! Guten Morgen. Wie geht es Ihnen? Das mit Ihrer Schwester tut mir so schrecklich leid.«
»Danke, Siggi. Na ja, nicht gut. Ich stehe noch immer ziemlich neben mir. Aber ich habe eine Bitte an Sie.«
»Eine Bitte? Ja, natürlich, wenn ich Ihnen irgendwie helfen kann …«
»In der Tat. Es geht um das Haus meiner Schwester. Meine Mutter und ich sind uns einig. Wir möchten es so schnell wie möglich verkaufen, um die schlimmen Erinnerungen loszuwerden. Ich könnte es ohnehin nicht ertragen, mich dort länger aufzuhalten. Jetzt muss ich mich erst einmal um die Beerdigung kümmern und alles regeln, aber danach möchte ich das Haus sofort inserieren. Dafür wäre es gut, wenn wir die Sachen meiner Schwester schon einmal verpacken. Wir werden sie wohl spenden. Aber ich selbst bringe das im Augenblick einfach nicht fertig.«
»Das kann ich gut verstehen«, bestätigte Siggi.
»Außerdem kann ich natürlich nicht unbegrenzt Urlaub nehmen. Ich muss am Montag zurück nach Hamburg in die Klinik und kann nur am Wochenende herkommen«, erklärte Polina. »Abgesehen davon muss ich mich um die Beerdigung kümmern. Jedenfalls brauche ich jemanden, der eventuell schon mal die Kleidung, Bücher und das Geschirr in Umzugskartons verpacken und beschriften könnte.«
»Und Sie möchten, dass ich das übernehme?«, folgerte Siggi.
»Ja, das wäre eine große Hilfe«, entgegnete Polina. »Ich würde Ihnen natürlich einen Schlüssel geben, damit Sie jederzeit ins Haus können. Würden Sie das wohl für mich tun, Siggi? Selbstverständlich würde ich Sie dafür nach dem vereinbarten Stundenlohn bezahlen. Allerdings hätte ich auch vollstes Verständnis, wenn Sie ablehnen. Es muss ja auch für Sie ein ziemlicher Schock gewesen sein, Magda zu finden.«
»Das war es. Ich hab Ihre Schwester sehr gemocht, auch wenn ich sie nicht lange gekannt habe. Aber wenn ich Ihnen helfen kann, mache ich das natürlich gern«, sagte Siggi.
»Sie sind ein Schatz. Könnten wir uns in einer Stunde beim Haus treffen? Dann erkläre ich Ihnen alles Weitere.«