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Senschuäll Zittrus und Aquamän
Der kleine pinkfarbene Koffer hoppelte munter über den gepflasterten Zuweg, der zur Haustür des rot geklinkerten Mehrfamilienhauses in Westerland führte, in dem an diesem Abend Siggis erste Sylter Girlfriendz -Party stattfinden würde.
Leevke Cornelissen, die Gastgeberin, war die Frau des Gas- und Wasser-Installateurs, den Inge bei Badrenovierungsarbeiten in ihren Immobilien gern beauftragte, und gebürtige Sylterin.
Siggi hatte sich heute für eine schlichte Jeans mit einer peppigen Gürtelschnalle, ein enges weißes Top mit Aufdruck und einen pinkfarbenen Blazer entschieden. Dazu trug sie Pumps, farblich passend zum Blazer, und darauf abgestimmten Nagellack und Lippenstift. Die Haare, zu der für sie charakteristischen Außenwelle geföhnt, die entfernt an Farrah Fawcett erinnerte, fielen ihr offen auf die Schultern. So fühlte sie sich am wohlsten. Inge hatte gesagt, sie solle sie selbst sein, und das hatte Siggi beherzigt.
Die Haustür öffnete sich, noch bevor Siggi den Klingelknopf gedrückt hatte, und Leevke Cornelissen, eine rundliche Brünette mit einem freundlichen Gesicht und tollen blauen Augen, streckte ihr die Hand hin.
»Moin, Siggi! Ich bin Leevke, wir haben ja schon telefoniert. Komm rein. Sektchen hab ich auch schon kalt gestellt. Möchtest du einen zum Warmwerden?«
»Später zum Anstoßen gern«, entgegnete Siggi. »Einen kann ich mir ja erlauben, aber mehr nicht, ich muss ja noch fahren. Außerdem möchte ich euch ja nachher keinen Mist erzählen.« Siggi lachte. Bei dem herzlichen Empfang war augenblicklich die Nervosität von ihr abgefallen, die sie noch eben verspürt hatte, und sie war wieder voll in ihrem Element.
Während sie den Inhalt des pinkfarbenen Trolleys auspackte und auf dem Tisch ausbreitete, baute die Gastgeberin das Buffet auf, und nach und nach trudelten die Gäste ein. Kolleginnen und Freundinnen von Leevke, neugierig und bester Laune. Während sich die Sektflaschen leerten, begann Siggi zunächst mit der Präsentation der Kosmetiklinie. Die Kundinnen schnupperten und testeten munter drauflos und stellten sich Siggi bereitwillig als Demonstrationsobjekte für Masken, Peelings und Augencremes zur Verfügung. Siggi kommentierte alles launig und würzte die Produktinformationen mit Anekdoten und Beispielen. Die Stimmung wurde immer ausgelassener – der perfekte Zeitpunkt, um die größeren Geschütze aufzufahren: die Dessous, das Massageöl und die Erotikspielzeuge.
Neugierig, mit geröteten Wangen vom Sekt – und vielleicht auch ein bisschen von verbliebenen Hemmungen – folgten Leevke und ihre Freundinnen der Produktpräsentation.
»Ladys, es ist kein großes Geheimnis, dass eine langjährige Beziehung oder eine Ehe viel mit einem Luftballon gemeinsam hat. Kennen wir ja alle. Anfangs ist noch alles straff und prall.«
» … und steigt mühelos nach oben«, ergänzte Leevkes Freundin Anne kichernd.
»Richtig, das auch.« Siggi lachte. »Na ja, und dann fängt der Ballon irgendwann eben an zu schrumpeln. Mit der Zeit is' halt die Luft raus. Da machste nix. Dat is' der Lauf der Dinge. Aber da müssen Se jetzt nicht verzweifeln, denn man kann dem ollen schrumpeligen Ballon auch neue Luft einhauchen und wat frischen Wind reinbringen.«
Siggi präsentierte das Massageöl-Set.
»Wichtig ist, dass man sich mal wieder Zeit nimmt füreinander«, erklärte sie. Je lockerer die Runde wurde, desto mehr fiel Siggi in ihren Ruhrgebiets-Dialekt, was ebenfalls zur Heiterkeit der Kundinnen beitrug. »Gerade für uns Frauen sind Zärtlichkeit und Sinnlichkeit wichtig, damit wir auch wieder Lust auf mehr bekommen. Das Girlfriendz -Massageöl ist da genau das Richtige. Und wat meinen Se, wenn Se den Kerl damit ködern, dat Sie hinterher für mehr in Stimmung sind, mit wat für ‘ne Begeisterung er Sie da durchwalken wird? Aber Scherz beiseite, das ist hundert Prozent natürliches Mandelöl mit wertvollen ätherischen Ölen in drei sinnlichen Duftkompositionen. Red Velvet ist warm und pudrig vom Duft her, das ist richtig sinnlich, aber nicht aufdringlich. Dann gibt es Hot Spice, das ist ja mein persönlicher Lieblingsduft: Hölzer, ein Hauch Pfeffer und Vanille, großartig, warm, sexy, mit einem kleinen Kick. Sie dürfen ruhig schnuppern. Und dann Senschuäll Zittrus, dat is' ein frischer, anregender Zitrus-Duft, auch ganz toll. Hier, geben Se mir mal den Arm, Christine. Gucken Se mal, wie weich das die Haut macht. Angenehm, oder? Ohne jetzt übermäßig zu fetten.«
Siggi war voll in Fahrt, alles lief wie am Schnürchen, und die Damen wurden immer lockerer, erzählten kichernd Geschichten aus dem Nähkästchen und probierten mit kindlichem Vergnügen die diversen Vibratoren in poppig bunten Farben.
»Die könnte man glatt auffe Anrichte stehen lassen, oder, meine Damen? Ich mein, die sind ansprechend und ästhetisch. Wer will denn schon so einen Gummiprügel mit anatomisch korrekten Krampfadern? Da macht auch das Design was aus, finden Se nicht?«
»Da haben Sie recht. Das sieht nicht so nach Schmuddelecke aus, nicht wahr, Christine?«, kommentierte Leevke, die prüfend den türkisfarbenen wasserfesten Rabbit-Vibrator namens Aquaman in der Hand wog.
»Also, dieses Sensual-Citrus-Öl und die passende Duftkerze können Sie mir schon mal aufschreiben, Siggi«, verkündete Anne. »Das riecht sensationell. Vielleicht krieg ich den Kai dann mal wieder dazu, dass er mich massiert.«
»Und wenn nicht, suchst du dir einen schicken Toyboy, der das übernimmt«, rief Carla und schwenkte ihr leeres Sektglas, das Leevke gleich auffüllte. Die Bemerkung sorgte für einige Heiterkeit, und die Damen begutachteten mit wachsender Begeisterung die Dessous, versuchten lachend, aneinandergekettet mit pinkfarbenen Plüschhandschellen Häppchen vom Buffet zu essen, und stellten allerhand interessierte Fragen.
Siggi war erleichtert. Die Party lief besser, als sie gehofft hatte, und es sammelten sich auch rasch einige Bestellungen. Während sie langsam begann zusammenzupacken, kam das Gespräch auf den tragischen Tod von Lenka.
»Da kann man mal sehen, Erfolg macht offensichtlich auch nicht glücklich«, sagte Leevke und nippte an ihrem Sekt. »Das arme Mädchen. Die war doch noch keine dreißig. Und dann schon so verzweifelt, dass sie keinen Ausweg mehr gesehen hat.«
»Wenn es überhaupt ein Selbstmord war«, meinte Carla. »Das ist doch alles höchst verdächtig. Vielleicht wollte da jemand an das Geld.«
»Nee, die Polizei ist wohl ziemlich sicher«, widersprach Anne. »Habe ich gerade heute in der Zeitung gelesen. Lenka hatte wohl Schlaftabletten genommen und Alkohol getrunken. Was nicht ganz feststeht, ist, ob es Absicht war oder ein Unfall. Schrecklich. Sie hatte ja auch gerade erst diese Trennung hinter sich und ständig die Paparazzi und die Fans überall. Ich kann mir schon vorstellen, dass so was extrem belastend ist.«
»Also, was die Trennung von Fabian Guldsteen angeht, da munkelt man doch, dass die von ihr ausging«, warf Leevke ein. »Sie hatte offenbar schon einen Neuen.«
»Was du nicht sagst! Wen denn?«, fragte Carla neugierig.
»Keine Ahnung, aber sie soll in der letzten Zeit oft hier auf Sylt gewesen sein, und offenbar hat sie ja klammheimlich ein Haus hier gekauft. Das ist doch ziemlich verdächtig, oder nicht?«
»Meinst du, sie hat hier jemanden kennengelernt?« Anne pflückte eine Weintraube von der Käseplatte und steckte sie sich in den Mund. »Da wüsste ich ja zu gern, wen. Ist bestimmt auch ein Promi.«
»Die Bühl hat sich ja ebenfalls einen Zweitwohnsitz in Kampen zugelegt«, erklärte Carla. »Da herrschte doch seit einiger Zeit Zickenkrieg zwischen den beiden.«
»Willst du etwa behaupten, Alina Bühl hat sie umgebracht?« Anne schüttelte den Kopf. »Das glaubst du doch wohl selber nicht!«
»Nee, aber vielleicht in den Selbstmord getrieben. Wer weiß … Was da so hinter den Kulissen abgeht, möchte man doch manchmal gar nicht so genau wissen«, entgegnete Carla ein wenig trotzig.
»Was sagen Sie denn zu der Sache, Siggi?«, fragte Leevke. »Haben Sie davon gehört? Hier auf Sylt passiert ja für gewöhnlich nicht viel. So ein Promitod erregt natürlich viel Interesse.«
»Äh … ja, habe ich.« Siggi mochte nicht erzählen, dass sie mehr darüber wusste, als ihr lieb war. »Wenn ich ehrlich bin, kann ich mir auch nicht vorstellen, dass sie sich umgebracht hat.«
»Siehst du, Anne?«, triumphierte Carla. »Siggi glaubt auch, dass da was faul ist.«
»Na ja, das habe ich nicht gesagt, aber sie wirkte nicht, als wäre sie der Typ dafür«, druckste Siggi herum. Sie wollte sich nicht in die Diskussion hineinziehen lassen.
»Na ja, ist schon ein bisschen komisch, dass keiner was davon wusste, dass sie sich hier ein Haus gekauft hat«, meinte Carla.
»Ach was! Die war bestimmt bloß den Rummel leid und wollte es nicht an die große Glocke hängen«, wehrte Leevke ab.
»Aber wenn sie jetzt nun doch hier jemanden kennengelernt hat? Jemanden, von dem keiner wissen sollte? Vielleicht hatte sie eine Affäre. Denn wär es doch möglich, dass der Typ sie aus dem Weg geräumt hat.« Carlas Wangen glühten, und sie redete sich immer mehr in Fahrt. »Wenn das alles so geheim war. Wäre doch möglich.«
»Mensch, Carla!«, rief Leevke lachend. »Ich dreh dir gleich den Sekthahn ab. Du witterst sonst ja schon überall Verschwörungen.«
»Nichts da!« Carla griff nach der Sektflasche. »Ich hab morgen frei, und die Kinder sind übers Wochenende aus dem Haus, ich mach heute einen drauf! Komm, Siggi, zeig uns noch mal ein paar nette Dessous und Spielzeuge. Das rote Ensemble find ich ja scharf. Kann man BH und Slip in unterschiedlichen Größen bestellen?« Sie wandte sich an ihre Freundin Leevke. »Meinst du, so was würde Jens gefallen?«
»Aber hallo! Na klar, der müsste ja schon mall sein, wenn nicht.«
»Selbstverständlich können Sie unterschiedliche Größen bestellen.« Siggi war froh, dass das Thema wieder auf die Girlfriendz -Produkte gekommen war. Dennoch arbeitete es in ihrem Gehirn. Carlas Worte hatten etwas verändert, als hätten sie ein Programm gestartet, das schon länger im Hintergrund aktiv gewesen war. So verrückt ihre Theorien auch geklungen hatten und wie abwegig sie auch sein mochten, hatten sie doch in Siggi das Gefühl bestätigt, dass Lenkas Tod kein Selbstmord war. Egal, was die Polizei und die Presse sagten, sie war einfach noch nicht bereit, diese Realität zu akzeptieren. Sie hatte das Gefühl, es Lenka schuldig zu sein, sich nicht so schnell mit dieser Erklärung zufriedenzugeben.
Auf der Heimfahrt im Auto reifte der Gedanke zu einem Entschluss. Sie würde sich ihr eigenes Bild machen und Augen und Ohren offenhalten. Wäre doch gelacht, wenn sich dreißig Jahre Tatort -Gucken nicht irgendwann mal bezahlt machen würden.