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Für dich soll’s rote Rosen regnen
»Aha, verstehe. Vielen Dank, Frau Rybakova.« Kriminalhauptkommissar Christiansen rieb sich das Kinn mit Daumen und Zeigefinger, während er telefonierte.
Siggi trat an die Terrassentür und sah den beiden Beamten zu, die damit beschäftigt waren, das riesige Kreuz aus künstlichen roten Rosenblättern auf dem Rasen mit einer Digitalkamera aus allen möglichen Winkeln zu fotografieren.
Der Kommissar legte auf und wandte sich Siggi zu. »Frau Rybakova sagt, der hintere Garten sei nicht gesondert alarmgesichert. Es ist also gut möglich, dass jemand über die Mauer gestiegen ist. Wahrscheinlich irgendein durchgeknallter Fan. Es gibt einen Bewegungsmelder, der in einem solchen Fall die Beleuchtung einschaltet, aber wenn niemand im Haus war, als der Unbekannte sich Zutritt verschafft hat, wäre das nicht weiter aufgefallen.«
»Hätte dann nicht auch am Dienstag jemand auf diesem Weg einsteigen können und …«, begann Siggi, aber der Kommissar unterbrach sie kopfschüttelnd.
»Nein, nein. Die Türen und Fenster sind gesichert. Wenn sich daran jemand zu schaffen gemacht hätte, wäre der Alarm losgegangen. Es gab keinerlei Anzeichen für einen Einbruch oder dafür, dass Magdalena Rybakova am Dienstagabend nicht allein im Haus gewesen ist.«
»Hm, stimmt, ich erinnere mich, dass Polina – also Frau Rybakovas Schwester – den Alarm ausgeschaltet hat, als wir am Mittwochmorgen das Haus betreten haben«, gab Siggi zu.
»Also, wenn Sie mich fragen, ist es das Werk irgendeines durchgeknallten Fans, nichts Beunruhigendes. Es wurde nichts entwendet oder zerstört; insofern ist die Sache höchstwahrscheinlich als Hausfriedensbruch zu betrachten. Ich fürchte, es wird sich nicht klären lassen, wer das hier hinterlassen hat. Allerdings gehe ich auch nicht davon aus, dass eine Gefährdung besteht oder sich ein solcher Vorfall wiederholen wird.«
»Ein Fan also«, murmelte Siggi und runzelte die Stirn.
»Richtig«, bestätigte Christiansen. »Es wäre nicht weiter verwunderlich. Das kennt man doch, dass Fans sich Zutritt zum Grundstück eines verstorbenen Promis verschaffen, um Blumen oder Stofftiere und so etwas niederzulegen. Es laufen eine Menge verrückter Leute herum. Wir werden das natürlich im Auge behalten und weiterverfolgen, aber ich mache mir wie gesagt keine großen Hoffnungen, dass wir einen Täter ermitteln können.«
Siggi war nicht restlos überzeugt, doch sie sah ein, dass die Polizei letztlich nicht anders vorgehen konnte. Tatsächlich hatte niemand versucht, ins Haus einzudringen. Dass sich jemand Zutritt zum Garten verschafft und Blumen niedergelegt hatte, war zwar durchaus etwas gruselig, aber auch nicht direkt bedrohlich.
Nachdem die Polizisten gegangen waren, machte sich Siggi wieder an die Arbeit, um wenigstens noch den Rest der Kleider aus dem linken Schrankteil zu verstauen. Es war spät geworden, und sie musste sich beeilen, denn bald würde auch Torsten von der Arbeit nach Hause kommen.
Als sie schließlich alle Kleider verpackt und die Liste obenauf gelegt hatte, verschloss sie den Karton und stellte ihn neben dem Bett ab. Dabei fiel ihr Blick auf das untere Brett des Nachttischs. Ihr Herz schlug schneller. Aufgeregt zog sie den Ordner hervor, der dort lag. Ungeduldig öffnete sie ihn und begann zu blättern. Er enthielt monatliche tabellarische Aufstellungen von Einnahmen und Ausgaben und, jeweils dahintergeheftet, Rechnungskopien und Belege. Einige Seiten waren mit neonpinkfarbenen Heftnotizen markiert. Ob Lenka die angebracht hatte? Siggi überflog die markierten Stellen. Das war ja höchst interessant! Sie legte den aufgeklappten Ordner auf das Bett und machte mit dem Handy einige Fotos. Dann räumte sie die Akte zurück.
Sie überlegte, ob sie noch einmal die Polizei anrufen sollte. Allerdings waren dies ja nur vage Hinweise, und die Beamten waren sich ihrer Sache offensichtlich sehr sicher, dass Lenka nicht durch fremde Hand gestorben war. Siggi war nicht so naiv zu glauben, dass sie die Wahrheit für sich gepachtet und die Polizei keine Ahnung hatte. Dennoch konnte sie das Gefühl nicht abschütteln, dass da etwas war, das nicht ins Bild passte. Ein unnachgiebiges, penetrantes Bauchgefühl, das es ihr unmöglich machte, sich mit der Erklärung der Polizei zufriedenzugeben, auch wenn die zugegebenermaßen in Anbetracht der Fakten und Indizien plausibel war. Sie war sich auch durchaus im Klaren, dass die Kriminalpolizei nicht nach ihrem blöden Bauchgefühl gehen konnte. Die musste sich auf Spuren, Indizien, Zeugenaussagen und die wissenschaftlich fundierten Ergebnisse der rechtsmedizinischen Untersuchung stützen. Wahrscheinlich war es schlauer, die Sache zunächst mit Polina zu besprechen, wenn die am Wochenende zurück auf Sylt war.
Auf dem Heimweg kaufte Siggi noch in dem Supermarkt an der Munkmarscher Chaussee ein. Dabei überflog sie wie gewohnt die Titelblätter der Illustrierten, die sie so gern las. Mit schlechtem Gewissen musste sie feststellen, dass viele der in fetten, leuchtenden Lettern gedruckten Schlagzeilen Lenkas vermeintlichen Selbstmord zum Thema hatten und dabei natürlich die gesamte Tragik der Ereignisse ausschlachteten. Wäre sie nicht zufällig diejenige gewesen, die Lenka tot in der Wanne gefunden hatte, hätte Siggi sich mit Sicherheit von den dramatisch klingenden Anreißern und Schlagzeilen ködern lassen und hätte mit Neugier und Faszination jedes Detail lesen wollen. Ehedramen, Affären, Tragik und Skandale bei den Reichen, Schönen und Mächtigen waren einfach zu verlockend, jedoch fühlte es sich deutlich anders an, wenn man selbst beteiligt oder betroffen war.
Dann aber fiel Siggis Blick auf eine Schlagzeile, die ihre Aufmerksamkeit erregte:
»Totaler Kontrollverlust! So sehr leidet Fabi!«
Darüber prangte ein Bild von Lenkas Ex, Fabian Guldsteen, der den Kopf schwer in die Hände stützte. Siggi nahm die Zeitschrift aus dem Regal, blätterte zu dem Artikel und las.
»Die Trennung brach ihm das Herz. Die Nachricht vom tragischen Tod seiner Ex-Freundin, Schlagersängerin Lenka, 28, brachte ihn um den Verstand.
Fabian Guldsteen, 42, geriet völlig außer Kontrolle, als er vom Ableben seiner geliebten Lenka hörte. Das Schlagersternchen war in der vergangenen Woche tot in der Badewanne ihres Zweitwohnsitzes auf der Nordseeinsel Sylt aufgefunden worden. Die Polizei geht von einem tragischen Unfall oder einem Selbstmord aus. Fabian und Lenka hatten sich vor einigen Monaten überraschend getrennt. Wie Insider dem Promi-Blitz berichteten, litt Fabian sehr darunter und hoffte auf eine zweite Chance für ihre Liebe. Den plötzlichen Tod seiner Ex-Freundin kann er nicht verkraften. Anscheinend fühlt er sich sogar für ihren Selbstmord verantwortlich. Am Wochenende zeigte er sich in einem Kampener Promiclub, wirkte desorientiert und aufgewühlt. Flüchtete der 42-Jährige sich womöglich in Alkohol oder Drogen, weil er die schlimme Nachricht nicht ertragen konnte? Zeugen berichteten später, er habe exzessiv getrunken und sich auffällig und aggressiv verhalten.
»Der ist herumgelaufen wie ein aufgeschrecktes Huhn, hat sich vor den Kopf geschlagen und gerufen: ‘Es ist meine Schuld!'«, berichtete ein Gast des Clubs dem Promi-Blitz.
Was steckt hinter diesen Selbstbezichtigungen? Warum fühlt Fabian Guldsteen sich verantwortlich? Obwohl unerwartet, war die Trennung der beiden im Frühjahr offenbar einvernehmlich und weitgehend ohne öffentliche Schlammschlacht vonstattengegangen. Welche Abgründe verbergen sich möglicherweise unter der Oberfläche?«
Der Artikel umfasste noch einige weitere Abschnitte. Siggi schlug die Zeitschrift zu und legte sie in ihren Einkaufskorb. Seltsam. Offenbar hatte sich Fabian Guldsteen ebenfalls auf Sylt aufgehalten. Warum fühlte er sich für Lenkas Tod verantwortlich? Glaubte er, sein an Stalking grenzendes Dauerfeuer aus Telefonanrufen, Blumengrüßen und Textnachrichten habe Lenka in den Selbstmord getrieben, oder wollte er andeuten, eine aktive Rolle in ihrem Tod gespielt zu haben?
Zuhause angekommen, brühte sich Siggi einen Tee auf und las den Rest des Artikels, der aber außer Spekulationen über mögliche Beziehungsprobleme der beiden nichts Wichtiges mehr enthielt: Hatte Fabian Guldsteen ein heimliches Techtelmechtel mit Alina Bühl? War Lenka tablettensüchtig gewesen, wie eine Bekannte behauptete? Hatte Fabian ihrem Erfolg im Weg gestanden, weil er sich ein Baby wünschte? Und so weiter und so weiter. Nichts Konkretes also, nur Mutmaßungen und kleine Häppchen aus der Gerüchteküche.
Als Siggi draußen das Auto hörte und kurz darauf der Schlüssel im Türschloss klapperte, schoss ihr mit schlechtem Gewissen der Gedanke durch den Kopf, dass sie eigentlich schon für das Abendbrot hatte sorgen wollen. Sie schlug die Illustrierte zu und stand auf.
Törtchen erschien in der Küche. »Tach, Weib!«, rief er fröhlich. »Der Mann war auf der Jagd und hat was Feines mitgebracht. Ich hoffe, du hast jetzt nicht extra gekocht.«
Siggi trat an den Küchentresen und schnupperte. Dann entdeckte sie die weiße Tüte, die Torsten dort abgestellt hatte. »Als könntest du Gedanken lesen, Törtchen!«, rief sie, lief um den Tresen und drückte Torsten einen dicken Kuss auf. »Das ist genau, was ich jetzt brauche! Ich hol mal zwei Teller und Besteck, dann ist das wenigstens so halb zivilisiert.
»Ich dachte nicht, dat wir so schnell an den Punkt kommen, wo ich den Europa-Grill vermisse, aber ich hatte jetzt so derbe Bock auf Mantaschale.« Er riss die Tüte auf und entnahm ihr zwei in Papier eingepackte Plastikteller, die er auswickelte und auf den Tresen stellte. »Doch anscheinend ist es kein Problem, hier Pommes-Currywurst aufzutreiben. Ob die Fischköppe das auch anständig hinkriegen, steht auf einem anderen Blatt.«
»Werden wir ja jetzt sehen.« Siggi stellte die Kunststoffschalen auf die Teller und nahm sie mit zum Esstisch. »Holst du noch Gläser und bringst das Besteck mit?«
»Gar nicht mal so übel«, bemerkte Torsten, nachdem er ein Stück Wurst probiert hatte. »Da bin ich beruhigt. Bis an mein Lebensende nur noch Fischbrötchen und Krabbencocktail wär ein bisschen hart gewesen.«
Siggi lachte. »Hömma, das ist hier nicht Papua-Neuguinea. Wat hast du denn gedacht? Dat die hier jeden Tag nur Krabben essen und in Fischerhemd und Holzpantinen durch die Gegend stiefeln?«
»Nee, natürlich nicht. Aber ich weiß nicht, irgendwie dachte ich, hier krisse bestimmt keine anständige Currywurst.«
»Und wie war es auf der Arbeit?«
»Bisher kann ich nicht meckern«, sagte Torsten. »Die Kollegen sind nett, der Chef scheint auch soweit ganz in Ordnung zu sein, ist nicht jeden Tag dasselbe. Und wie lief es bei dir mit dem Hausausräumen?«
Siggi erzählte von ihrer Entdeckung im Garten, vom Besuch der Polizei und dem Ordner, den sie in Lenkas Schlafzimmer gefunden hatte.
Mit hochgezogener Augenbraue lauschte Torsten. »Hömma, das mit den Rosen ist ja eine Sache. Aber musst du da jetzt in Lenkas Unterlagen herumschnüffeln, als wärste Columbo? Das geht dich schließlich alles gar nichts an. Willste das nicht lieber der Polizei überlassen?«
»Kann doch nicht schaden, wenn ich mich ein bisschen umgucke«, verteidigte sich Siggi. »Du sagst ja selbst immer: ‘Die Titanic wurde von Experten gebaut, die Arche von Laien.'«
»Ja, wenn ich die Klospülung repariere oder Laminat verlege. Aber da geht es ja auch nicht um Leben und Tod. Meinste nicht, die vonne Polizei wissen besser, ob das ein Mord war? Da gab es doch ‘ne Obduktion, und dabei hätten die doch gesehen, ob jemand nachgeholfen hat.«
»Schon, aber die können ja auch mal falschliegen oder wat übersehen«, warf Siggi ein. »Is' ja keiner perfekt, oder? Jedenfalls wurmt mich das. Du hast Lenka ja nicht persönlich gegenübergesessen. Die wirkte einfach nicht wie eine, die sich kurze Zeit später umbringt, verstehste? Im Gegenteil, irgendwie wirkte se … optimistisch. So als freute se sich auf irgendwas. Und wie se die Karte aus den Blumen genommen hat und dann so enttäuscht geguckt hat, dass die nur von ihrem Ex waren … Törtchen, von so wat verstehste ja nix, aber ich sag dir, als Frau hab ich dafür ‘ne Antenne. Wenn du mich fragst, die war frisch verliebt.«
»Hm«, machte Torsten. »Ich geb zu, du hast normalerweise ‘ne gute Menschenkenntnis. Nehmen wir mal an, du hast recht und es war kein Selbstmord. Könnte aber doch trotzdem noch ein Unfall gewesen sein. Sie hat die Schlaftabletten genommen, ein bisschen Wein getrunken, und dann ist se in der Wanne eingepennt und ertrunken. Das kann schließlich passieren.«
»Ich weiß, es sah alles danach aus«, gab Siggi zu. »Der leere Tablettenstreifen, das Weinglas. Aber vielleicht sah es einfach zu sehr danach aus, weißte? So als hätte jemand alles so hingelegt.«
»Meinste wirklich?« Torsten runzelte skeptisch die Stirn.
»Ich weiß nicht, Törtchen.« Nachdenklich stocherte sie in ihren Pommes. »Sie hatte ja auch gesagt, dass sie keine Schlaftabletten mehr nimmt. Das hab ich auch der Polizei erzählt. Aber die haben schon recht, alte Gewohnheiten sind schwer abzulegen. Sie könnte trotzdem wieder welche genommen und dann die Dosierung falsch eingeschätzt haben, weil se die Entwöhnung nicht einkalkuliert hat. Das hast du ja auch schon vermutet. Ich weiß echt nicht. Vielleicht guck ich auch bloß zu viel Tatort. Außerdem will ich nicht wahrhaben, dass sich so ein Mensch, der gerade noch so fröhlich gewirkt hat, plötzlich mir nichts, dir nichts umbringt.«
»Kann wohl sein. Geht einem ja auch nahe, so wat«, stimmte Torsten zu und spießte das letzte Stück Wurst auf die Gabel. »Du mochtest die ja gut leiden.«
»Aber wegen dem Ordner sollte ich trotzdem mit Polina sprechen, oder?«
»Ich weiß nicht. Wie fändest du das, wenn deine Putzfrau in deinen Akten rumwühlt? Meinste nicht, dass die davon vielleicht nicht so begeistert ist? Dann biste den Job in null Komma nix wieder los.«
»Stimmt auch wieder.« Siggi tunkte eine Gabel Pommes frites in die Currysauce und steckte sie in den Mund. Während sie kaute, dachte sie darüber nach. Außer ihrem blöden Gefühl sprach in der Tat wenig dafür, dass Lenka ermordet worden war. Polina hatte gerade ihre Schwester verloren. Wenn es um eine ihrer eigenen Schwestern gegangen wäre, hätte Siggi es reichlich geschmacklos und unverschämt gefunden, wenn sich eine Fremde zur Detektivin aufgeschwungen und in persönlichen Dokumenten herumgekramt hätte. Da musste sie Torsten schon recht geben. »Ich werde die Sache wohl erst einmal für mich behalten, bis ich mehr herausgefunden habe.«
»Siggi!« Torsten sah sie streng an. »Du willst doch jetzt nicht allen Ernstes weiter herumschnüffeln? Gut, meinetwegen gibt es ein paar Unstimmigkeiten zwischen den Rechnungsbelegen und den Abrechnungen, die dieser Karstens Lenka vorgelegt hat. Dann hat der sich hier und da mal was in die eigene Tasche gesteckt. So was kommt leider vor. Wenn ich das richtig verstanden hab, waren das auch keine großen Beträge, oder?«
»Nee, aber es läppert sich ja mit der Zeit. Kleinvieh macht auch Mist«, entgegnete Siggi.
»Wenn die sich für den Finanzkram selber nicht interessiert und ihm da freie Hand gelassen hat, hat se ihm das auch etwas leicht gemacht, sich großzügig zu bedienen«, meinte Torsten. »Du hast doch gesagt, dat sie sich von dem Manager trennen wollte, oder?«
»Ja, genau. Wahrscheinlich, weil se dann doch spitzgekriegt hat, dat der se beklaut. Und weil er dann Schiss inne Buxe hatte …«
»… rennt der nicht gleich los und bringt se um«, führte Torsten den Satz zu Ende. »Nee, das glaub ich wirklich nicht. Der wär doch wahrscheinlich mit ‘ner Geldstrafe oder Bewährung davongekommen. Dafür bringt man keinen um.«
»Sind auch schon Leute wegen ein paar Euro ermordet worden«, konterte Siggi. »Vielleicht hatte er Angst, dass dann seine Karriere am Ende ist, wenn das rauskommt. Kann doch sein.«
»Glaub ich trotzdem nicht.« Torsten schüttelte den Kopf und pikte mit der Gabel ein Stück Wurst von Siggis Teller. »Dann kommt der doch nicht am nächsten Tag vorbeigeschneit und macht sich verdächtig. Außerdem wär damit noch lange nicht geklärt, wie er das angestellt hat. Ich meine, das so aussehen zu lassen, dass die Polizei nicht merkt, dass da was faul ist.«
»Na ja, man sagt doch, dass Verbrecher oft an den Tatort zurückkehren. Vielleicht war er ja auch nicht sicher, ob es funktioniert hat, und wollte nachsehen, ob sie wirklich tot ist.«
»Das hätte er früh genug aus der Zeitung erfahren. So hat er doch die Polizei nur auf sich aufmerksam gemacht, oder nicht?«
»Schon, aber vollkommen ausschließen würd' ich es trotzdem nicht. Wenn er sich seiner Sache ganz sicher war …« Siggi aß noch ein Stück Wurst, ließ das letzte übrig und schob es Torsten rüber. »Doch das erklärt auch noch nicht, was es mit diesen Rosen auf sich hatte. Das fand ich richtig gruselig. Ob das wirklich nur ein Fan war? Was, wenn nun Lenkas Ex dahintersteckt? Ich hab gerade im Promi-Blitz gelesen, dass der vollkommen durchgedreht ist. Der soll besoffen in irgendeinem Club hier auf Sylt randaliert und rumgegrölt haben, es wär seine Schuld.«
»Der Promi-Blitz «, sagte Torsten mit einem ironischen Grinsen. »Und wat in diesem Musterbeispiel für Qualitätsjournalismus drinsteht, muss man natürlich für bare Münze nehmen.«
»Na ja, ein wahrer Kern ist schließlich immer dran.«
»Ja klar. Und wenn sich irgend so ‘n C-Promi beim Ausparken die Stoßstange zerdengelt hat, steht dann im Promi-Blitz: Horror-Crash! Kevin Schniedelwutz nur knapp am Tod vorbeigeschrammt. «
»Kevin Schniedelwutz?« Siggi prustete.
»Ja, wat weiß denn ich? Kenn ich diese traurigen Gestalten, über die se sich in deinen Klatschblättern das Maul zerreißen?«
»Aber jeden Fußballer kennen, der je in der Bundesliga gespielt hat«, konterte Siggi und grinste. »Is auch nicht anders.«
»Wo du recht hast, haste recht«, gab Torsten zu. »Jedenfalls finde ich, du kannst dat getrost der Polizei überlassen zu entscheiden, ob da wat nicht ganz koscher war bei Lenkas Tod, und nicht selbst anfangen, da rumzuschnüffeln. Ob der Manager sie beschissen hat oder der Ex-Freund so durchgeknallt ist, dass der in den Garten einsteigt, um da tütenweise Dekorosenblätter zu verstreuen, dat geht dich letztlich gar nix an, und wir wollten uns doch ein ruhiges Leben machen, hier auffe Insel.«
»Ja, ja, stimmt schon, aber du kennst mich. Wenn ich irgendwo ‘ne Ungereimtheit wittere, muss ich immer nachhaken. Das wurmt mich dann. Ich kann gar nicht anders.«
Torsten schmunzelte. »Mir brauchste dat nicht zu sagen, ich kenn dat zur Genüge.«
»Werd' bloß nich' frech, du Eierpiepe!« Siggi lachte und stand auf.
»Lass ma', ich räum schon ab«, meinte Torsten versöhnlich und nahm die Teller mit.
Siggi ging ins Wohnzimmer. Bevor sie sich setzte, zog sie das Handy aus der Tasche. Ein Anruf in Abwesenheit. Bestimmt hatte Denise versucht, sie zu erreichen. Siggi öffnete die Anrufliste und sah, dass nicht ihre Tochter angerufen hatte, sondern Polina Rybakova. Da sie offenbar eine Nachricht hinterlassen hatte, wählte Siggi die Mailbox an.
Nach dem Piep ertönte Polinas Stimme.
»Guten Tag, Siggi. Hier ist Polina. Es tut mir leid, dass Sie es meinetwegen wieder mit der Polizei zu tun bekommen haben.« Ein Seufzer war zu hören. »Ich hoffe einfach, dass wir jetzt endlich zur Ruhe kommen und trauern dürfen. Nun, aber ich hätte eine Bitte an Sie. Falls Sie morgen Vormittag Zeit haben und im Haus sein könnten, würde es mir sehr helfen. Vielleicht könnten Sie mich kurz zurückrufen. Dann kann ich Ihnen erklären, worum es geht.«
Siggi wählte die Nummer. »Guten Abend, Polina. Ich habe gerade Ihre Nachricht abgehört.«
»Oh, Siggi! Das ist nett, dass Sie zurückrufen, vielen Dank. Wie geht es Ihnen nach dem Schreck heute?«
»Alles in Ordnung, machen Sie sich keine Sorgen. Es ist ja nichts passiert«, beschwichtigte Siggi sie. »Die Polizei meint, es waren irgendwelche Fans.«
»Ja, das denke ich auch. Vielleicht haben die es sogar gut gemeint«, entgegnete Polina.
»Da muss man aber schön bescheuert sein. Die können sich doch denken, dass das für die Angehörigen kein Trost ist, wenn sie da einfach über die Mauer steigen. Na ja, Bekloppte gibt es leider wie Sand am Meer. Doch Sie wollten, dass ich morgen noch einmal rüberfahre?«
»Richtig. Hoffen wir, dass Sie dann keine unliebsamen Überraschungen erleben. Es geht um Folgendes: Sie kennen ja den Strandkorb auf der Terrasse. Meine Mutter hat ihn Magda dieses Jahr zum Geburtstag geschenkt, als sie erzählt hat, dass sie sich ein Haus auf Sylt gekauft hat. Ich habe es nicht übers Herz gebracht, ihn zu inserieren, und meine Mutter gefragt, ob sie ihn für ihren Garten haben möchte. Sie fand die Idee gut, weil der Strandkorb eine schöne Erinnerung ist. Ich habe also eine Spedition beauftragt. Die könnten ihn morgen Vormittag zwischen acht und elf Uhr abholen. Wäre es möglich, dass Sie in der Zeit vor Ort sind und die Männer hereinlassen?«
»Ja, das geht. Ich wollte ohnehin morgen mit den Kartons weitermachen. Viel habe ich heute ja nicht geschafft wegen dieser Sache mit den Rosenblättern im Garten.«
»Prima, das trifft sich gut. Sie glauben nicht, was für eine große Hilfe Sie mir in dieser schweren Zeit sind. Vielen, vielen Dank, Siggi!«
»Nichts zu danken, Polina. Ich tu, was ich kann.«
»Nein, wirklich. Ich wüsste nicht, was ich ohne Sie anfangen sollte. Haben Sie vielen Dank. Und machen Sie sich noch einen schönen Abend.«
»Danke, Polina. Das werde ich. Ich bin dann morgen ab acht Uhr im Haus.«