Déjà-vu?
Obwohl es spät geworden war, stand Siggi am Sonntagmorgen früh auf, weil sie um neun mit Polina im Haus verabredet war, um das weitere Vorgehen zu besprechen. Die Kleider waren inzwischen fast vollständig verpackt, und sie wollten gemeinsam überlegen, was Siggi über die Woche eigenständig erledigen konnte. Vorher wollte sie noch eine ausführliche Gassirunde mit Candy drehen. Törtchen schlief so tief und friedlich, dass Siggi ihn nicht wecken wollte. Also machte sie sich leise fertig und verließ das Haus.
Polina begrüßte sie herzlich. »Ich bin so erleichtert. Sie haben schon ganze Arbeit geleistet. Ohne Sie wäre ich hoffnungslos überfordert, zumal ich die Beerdigung zu organisieren habe. Es wird nur eine kleine, private Angelegenheit, aber ich muss extrem vorsichtig sein, dass Presse und Fans keinen Wind davon bekommen. Unserer Mutter ist das alles nicht mehr zuzumuten. Sie ist gesundheitlich angeschlagen, und Magdas Tod hat sie natürlich sehr mitgenommen.«
»Lenka war Ihre einzige Schwester, nicht wahr?«, fragte Siggi.
»Ja, leider. Magda war die Nachzüglerin. Sie ist … war … neun Jahre jünger. Unsere Eltern hatten gar nicht mehr mit einem weiteren Kind gerechnet. Unser Vater verstarb bereits vor fünf Jahren.«
»Dann ist es für Sie nun wieder eine schwere Zeit und eine große Belastung.« Siggi sah Polina mitfühlend an.
»Ja, das ist es«, bestätigte die. »Aber jetzt habe ich ja Sie und Ihre tatkräftige Hilfe.«
Siggi winkte ab. »Ach was!«
»Es kann sein, dass ich bereits einen Kaufinteressenten für das Haus habe«, erklärte Polina. »Das wird sich alles im Laufe der kommenden Woche herauskristallisieren. Deswegen möchte ich so viel wie möglich von den persönlichen Sachen schon einmal aus dem Haus haben.«
»Das verstehe ich.« Im Stillen jedoch fragte Siggi sich, ob Polina den Hausverkauf nicht ein wenig überstürzt anging.
»Also, ich denke, Sie könnten Geschirr und Küchenutensilien verpacken. Letztere könnte ich für einen guten Zweck spenden, dachte ich. Sie sind schließlich so gut wie neu. Ich habe mich bereits mit einem Sozialkaufhaus in Flensburg in Verbindung gesetzt. Die würden am Mittwoch einen Fahrer schicken. Schaffen Sie es bis dahin, alles zu verpacken, und könnten Sie dann hier sein, um ihn hereinzulassen?«
»Aber sicher. So etwas geht ja schnell. Ich mache dann wieder eine Packliste.«
»Prima. Das hilft mir so weiter, Siggi! Und vielleicht könnten Sie danach die Bücher und übrigen Sachen aus den Schränken und Schubladen im Wohnzimmer einpacken. Das ist nicht viel. Magda hatte sich ja noch nicht vollständig eingerichtet. Na ja, und dann wäre eigentlich nur noch das Arbeitszimmer übrig. Da müssten die Aktenordner verpackt werden. Der Rest kann vorerst hierbleiben. Auch Handtücher und Bettwäsche aus dem Schrank im Flur. Möglicherweise sind die neuen Besitzer froh, wenn sie nicht alles neu kaufen müssen. Diese Dinge sind mir letztlich nicht so wichtig. Nur mit den persönlichen Erinnerungen möchte ich mich nicht belasten.«
»Verstanden, das kriege ich hin.« Siggi lächelte Polina aufmunternd zu. »Da machen Sie sich mal keine Gedanken. Wissen Sie was? Ich fange am besten gleich an, wenn ich schon mal hier bin. Ein halbes Stündchen kann ich jetzt noch räumen. Mein Lebensgefährte hat eben ohnehin noch geschlafen. Dann bringe ich ihm auf dem Rückweg Brötchen mit.«
»Das klingt hervorragend. Haben Sie vielen Dank, Siggi. Ich mache mich jetzt wieder auf den Weg. Sollte irgendetwas sein, rufen Sie mich ruhig an. Ich habe mir am Donnerstag einen halben Tag Urlaub genommen und Freitag frei, werde also am Donnerstag direkt nach der Frühschicht zurück nach Sylt fahren.«
»Machen Sie sich nur keinen Stress, Polina. Sie haben schon genug zu bewältigen. Ich komme hier zurecht.«
Nachdem sie Lenkas Schwester noch zur Tür begleitet hatte, begann Siggi, die Küchenutensilien einzuräumen. Für Geschirr und Gläser würde sie sich noch alte Zeitungen und Papier besorgen müssen, um alles bruchsicher einzuwickeln. Also machte sie sich zunächst an Töpfe, Pfannen und den Inhalt der Schubladen. Besteck und Kochutensilien wanderten in den Karton; dazwischen steckte sie Küchenpapier, das sie von der Rolle auf der Ablage abriss. Als Letztes zog sie die kleine Schublade in der Ecke auf. Sie schmunzelte, als sie hineinsah. So eine Schublade gab es offenbar in jedem Haushalt, auch in dem eines großen Stars wie Lenka. Leere Batterien, einzelne Münzen, zwei Brillenetuis mit bunten Sonnenbrillen, Lippenpflege, einzelne Hustenbonbons, ein Kassenzettel, Prospekte von Bringdiensten und Anleitungen für Elektrogeräte lagen ungeordnet nebeneinander. Es gab Siggi einen kleinen Stich, denn die Tatsache, dass auch sie eine solche Krimskramsschublade besessen hatte, machte Lenka noch einmal ein Stück menschlicher und sympathischer. Siggi begann, die Schublade auszuräumen. Sie warf einen Blick auf den Kassenzettel, um zu sehen, ob sie ihn wegwerfen konnte. Ungläubig drehte sie ihn in den Händen.
Nanu? Es handelte sich um den Bon für das Buch, das im Strandkorb gesteckt hatte. War sie jetzt schon vollkommen neben der Spur? Siggi dachte nach. Der Fund des Ultraschallbildes hatte sie abgelenkt, und sie wusste nicht mehr genau, ob sie den Kassenzettel danach tatsächlich in den Müll geworfen hatte. Aber sie war sich absolut sicher, dass sie ihn zerknüllt hatte. Doch dieser Kassenbon hier hatte nicht das kleinste Eselsohr.
Siggi schob die Hand in die Tasche ihrer Jeans. Zum Glück hatte sie die Hose noch nicht in die Wäsche gesteckt. Sofort ertastete sie das Knäuel Papier, zog es heraus und strich es glatt. Tatsächlich! Es handelte sich um zwei Bons für das gleiche Buch, beide aus der
Bücherkiste
in Keitum, allerdings mit einem unterschiedlichen Datum.
Aufgeregt tippte sie eine Nachricht an Törtchen in ihr Handy, um ihm mitzuteilen, dass sie auf dem Rückweg Brötchen besorgen würde. Dann lief sie eilig ins Wohnzimmer, zog das Buch aus dem Regal, legte die beiden Bons hinein und steckte es in ihre Tasche.
Am liebsten wäre sie gleich zur
Bücherkiste
geradelt, doch am Sonntag hatte es leider wenig Zweck; die Buchhandlung hatte geschlossen. Warum hatte Lenka zweimal das gleiche Buch gekauft? Wenn Siggi recht hatte, dann war die zweite Ausgabe möglicherweise ein Geschenk gewesen. Da Lenka es hier auf Sylt gekauft hatte, lag die Vermutung nahe, dass sie es auch jemandem auf der Insel geschenkt hatte. Konnte dies die heiße Spur sein, die Siggi zum Vater des ungeborenen Kindes führen würde? Mit etwas Glück würde sich die Buchhändlerin an Details erinnern können. Siggi dachte an das Buch auf Gabriel von Gnietschfleths Nachttisch, doch sie verwarf den Gedanken, dass es zwischen ihm und Lenka möglicherweise eine Verbindung gab.
Vorerst würde Siggi sich ohnehin gedulden müssen. Sie räumte noch den Rest des Schubladeninhalts auf und machte sich dann auf den Heimweg.
Als sie nach Hause kam, hatte Törtchen bereits Kaffee gekocht und den Frühstückstisch gedeckt. Siggi schnitt die Brötchen auf und legte sie in den Brotkorb, dann setzte sie sich zu Torsten an den Tisch.
»Na? Dann erzähl ma', wie’s gestern bei deiner Schickimickitussi in Kampen war.«
»Ziemlich seltsam«, resümierte Siggi und berichtete von »Titi«, Hendrik, dem Kinder»mädchen«, den frechen Sprösslingen mit den G-Namen, vom internationalen Barbie-Syndikat und ihrer Begegnung mit Gabriel von Gnietschfleth im Schlafzimmer.
»Da kannse mal sehen. Die am lautesten schreien von wegen Traditionen, Werte und Ordnung und so, sind doch die Schlimmsten. Verwöhnte Rotzblagen ranziehen, Schampus saufen und dann uns anderen erzählen, dat wir wieder bescheidener sein und uns an die Werte unserer Großeltern erinnern müssen und all so ‘n Krempel. Der von Gnietschfleth ist doch so ‘n ganz strammer Konservativer. Wenn keiner guckt, treiben die es am buntesten.«
»Zu dem kann ich wenig sagen, der ist ja gleich gegangen, wirkte aber ziemlich griesgrämig«, berichtete Siggi. Sie beschloss, Torsten vorerst nichts von dem Buch und dem doppelten Kassenzettel zu erzählen. Er würde doch nur wieder schimpfen, dass sie in den Sachen anderer Leute herumgewühlt hatte und dass sie die Angelegenheit doch eigentlich gar nichts anging.
»Haste denn wenigstens ordentlich Dildos verkauft?«, fragte Torsten und biss in sein Wurstbrötchen.
»Ich habe Cremes, Duschschaum, Massageöl, Duftkerzen und Dessous verkauft«, sagte Siggi spitz.
»Und Dildos.« Törtchen grinste.
»Ja, auch einige Vibratoren und andere Erotikspielzeuge.« Siggi verdrehte die Augen. »Du wirst mich damit jetzt bis ans Ende meines Lebens aufziehen, oder?«
»Hatte ich vor, ja.«
Siggi schüttelte den Kopf. »Sach ma', du kommst ausse Pubertät auch nicht mehr raus, oder?«
»Nee. Wozu auch?« Torsten lachte. »Außerdem macht et immer Spaß, dich auffe Palme zu bringen.«
»Mit so wat bringse mich nicht so schnell aus der Ruhe«, konterte Siggi. »Da musse dir schon mehr Mühe geben. Aber ich habe gestern ordentlich Umsatz gemacht.«
»Das ist super! Klasse, Siggi! Ich wusste doch, du rockst das.« Torsten langte über den Tisch und streichelte ihre Hand. »Du gehst übrigens heute an den Strand.«
»Ach was!«, rief Siggi. »Sagt wer?«
»Sag ich. Ich habe uns einen Strandkorb gemietet. Candy kann auch mitkommen. Dann kannse den neuen Fahrradkorb ausprobieren. Das ist direkt am Hundestrand.«
»Du bist immer für ‘ne Überraschung gut, Törtchen, ne? Das ist ja klasse. Ich pack gleich ma' die Sachen.«
»Schon erledigt«, sagte er. »Decke, Handtücher, wat zu trinken, zu knabbern, Sonnencreme, Napf und Wasser für Candy und alles.«
»Ha! Du hast ja an alles gedacht«, rief Siggi freudig überrascht.
»Na klar, muss doch meine Olle bei Laune halten«, flachste Törtchen. »Musst dich nur noch in deinen Bikini schmeißen und dann nix wie ab aufs Rad.«
»Wie schön, ich freu mich!« Siggi lief nach oben, um den Bikini unterzuziehen.
Für einen Strandtag war perfektes Wetter. Es war sonnig, aber nicht zu heiß, denn es wehte eine angenehme Brise, und hin und wieder verdeckten Wolken die Sonne. Candy wusste noch immer nicht so recht, was sie von dem großen, nassen, rauschenden »Dings« halten sollte. Neugierig näherte sie sich immer wieder dem Wellensaum, sprang dann aber jedes Mal zurück, wenn eine Welle heranrollte. Sie jagte umher, schnüffelte, buddelte und wedelte aufgeregt mit dem Schwanz.
Siggi wagte sich vorsichtig ins Wasser, hielt dabei aber argwöhnisch nach Quallen und anderem Getier Ausschau. So richtig geheuer war ihr das Baden im Meer auch nicht. Nun traute sich Candy ebenfalls ins Wasser und tollte mit wachsender Begeisterung darin herum.
Schließlich saßen sie alle drei einträchtig im Strandkorb, genossen den Ausblick und kuschelten sich aneinander. So verging der Tag wie im Flug, bis sie sich am frühen Abend wieder auf den Heimweg machten.