Eine heiße Spur?
Am Montagmorgen sprang Siggi förmlich aus dem Bett, denn sie konnte kaum erwarten, der Bücherkiste
einen Besuch abzustatten und vielleicht das Rätsel der zwei identischen Bücher zu lösen. Nach einem schnellen Frühstück, das aus einer Tasse Kaffee und einem Apfel bestand, schwang sie sich aufs Rad und fuhr am Watt entlang bis zum anderen Ende von Keitum. Inge hatte erzählt, dass hier früher die unansehnliche Bauruine einer Therme die Gemüter erregt hatte, doch die war vor Kurzem endlich abgerissen worden. In der Nähe befand sich – das hatte Siggi im Internet herausgefunden – die Bücherkiste
, in der Lenka offenbar die zwei Exemplare des gleichen Buches gekauft hatte.
Vor dem weißen Haus mit dem Reetdach stellte Siggi das Fahrrad ab und betrat den Laden. Die Buchhändlerin, eine hochgewachsene elegante Dame mit dunklen Haaren, war damit beschäftigt gewesen, Bücherstapel auf den Tischen gerade zu rücken, und wandte sich Siggi zu, als die Glocke über dem Eingang ertönte.
»Moin!«, grüßte Siggi.
»Guten Tag. Was kann ich für Sie tun?«, fragte die Dame, deren Blick etwas Strenges an sich hatte und spontan so etwas wie ein schlechtes Gewissen in Siggi auslöste, so als hätte sie ihre Hausaufgaben vergessen oder wäre zu schnell gefahren. Sie kramte die Kassenzettel und das Buch hervor.
»Ja, vielleicht können Sie mir weiterhelfen. Ich hab da eine Frage. Es geht um eine junge Frau, die hier bei Ihnen dieses Buch gekauft hat und …«
Die Augenbrauen der Buchhändlerin zogen sich zusammen, und sie musterte Siggi kritisch. »Sie meinen Lenka, die Schlagersängerin, die vor Kurzem gestorben ist. Sind Sie von der Presse?«
»Nein, nein«, wehrte Siggi ab. »Ich bin … war ihre Haushaltshilfe. Jetzt arbeite ich für Lenkas Schwester und helfe ihr, den Nachlass zu ordnen. Dabei bin ich auf dieses Buch gestoßen und habe festgestellt, dass sie es offenbar zweimal gekauft hat.«
»Richtig.« Die Buchhändlerin, deren Namensschild sie als
Frau Roth
auszeichnete, machte sich wieder daran, die Bücherstapel auf den Tischen ordentlich auszurichten. Sie wirkte nicht, als gedächte sie, Siggi Auskunft zu geben.
Siggi senkte die Stimme. »Ich sehe, Sie sind eine diskrete Person und werden diese Information vertraulich behandeln.«
Frau Roth sah von ihrer Arbeit auf. In ihrem Blick flackerte skeptisches Interesse.
»Die Sache ist die. Lenka, also Frau Rybakova, hat sich vor Kurzem von ihrem langjährigen Partner getrennt. Ihre Schwester vermutet, es könnte einen neuen Mann in ihrem Leben gegeben haben, von dem sie ihrer Familie allerdings noch nichts erzählt hatte. Wenn das der Fall war, wäre dieser Mann möglicherweise gern bei der Trauerfeier dabei, und die Familie würde ihn selbstverständlich einladen. Sie glauben, er traut sich womöglich nicht, die Familie deshalb anzusprechen. Frau Rybakova hatte ihrer Schwester gegenüber Andeutungen gemacht und wollte ihr offenbar von ihrer neuen Beziehung erzählen, doch dazu kam es dann nicht mehr, weil … na ja.«
Frau Roth nickte. Ihr Blick war ernst, aber weniger skeptisch als zuvor.
»Als wir die Kassenzettel gefunden habe, dachten wir gleich, dass Frau Rybakova das zweite Buch als Geschenk gekauft haben muss. Wenn Sie möglicherweise irgendeinen Hinweis für uns haben … Vielleicht war Lenka einmal in Begleitung hier?«
Die Buchhändlerin schien nachzudenken, dann schließlich entspannten sich ihre Gesichtszüge, so als wäre sie für sich zu einem Entschluss gekommen. »Nun gut. Sie machen mir einen vertrauenswürdigen Eindruck. Ich hoffe, ich muss es nicht später bereuen, Ihnen diesen Vertrauensvorschuss gegeben zu haben.« Wieder richtete sich der strenge, forschende Blick auf Siggi, die ihm standhielt. Auch wenn sie die Tatsachen ein wenig anders dargestellt hatte, in dieser Hinsicht war sie vollkommen ehrlich gewesen: Frau Roth konnte sich darauf verlassen, dass sie alle Details aus diesem Gespräch vertraulich behandeln würde.
»Ganz bestimmt nicht«, versicherte Siggi, und der kritische Blick ihres Gegenübers wurde gleich wieder weicher.
»Gut. Also, sie kam häufig her, um zu stöbern oder sich von mir beraten zu lassen. Stets ganz kurz vor Ladenschluss, wohl um zu vermeiden, von anderen Kunden erkannt zu werden. Tatsächlich hatte ich zunächst überhaupt keine Ahnung, wen ich da vor mir hatte. Sie trug immer Mützen oder Perücken, große Schals und Sonnenbrillen. Da wir öfter ins Gespräch kamen, habe ich sie dann aber doch erkannt. Sie klagte darüber, dass viele Leute sie für ungebildet und oberflächlich hielten. Ich habe ihr verschiedentlich Bücher empfohlen. Gehaltlose Strandkorblektüre werden Sie in der
Bücherkiste
vergeblich suchen, und das gefiel Lenka. Sie sagte, sie wolle ihren Horizont erweitern. Am besten haben ihr die Bücher dieser Autorin gefallen. Kein Wunder, es sind einige internationale Bestseller darunter. Die Autorin ist sehr gefragt, zu Recht, meiner Meinung nach. Sie hat einen wunderbaren Schreibstil, und es gelingt ihr hervorragend, unterhaltsam zu schreiben, ohne dabei oberflächlich oder banal zu werden.«
»Und dieses Buch hat Lenka wohl besonders gut gefallen?«, hakte Siggi nach.
»Richtig. Dieses hat sie sehr begeistert. Sie hat es mehrfach gelesen und gleich noch einmal gekauft, wie Sie richtig vermuten, als Geschenk. Ich erinnere mich noch so genau, weil Sie es in Geschenkpapier einpacken ließ, zuvor aber die Folierung entfernte und eine Widmung hineinschrieb.«
»Ich nehme an, Sie haben nicht gelesen, was sie hineinschrieb …«
»Natürlich nicht!«, betonte Frau Roth mit einem leicht pikierten Blick.
»Das dachte ich mir. Hm. Erinnern Sie sich sonst noch an etwas? Hat sie vielleicht angedeutet, wem sie das Buch schenken wollte?«
»Nein, tut mir leid. Sie sagte nur, dass es sie so begeistert habe und sie es deswegen jemandem schenken wolle.«
»Hm, schade, das bringt uns leider auch nicht weiter, was die Trauerfeier angeht, aber trotzdem vielen Dank für Ihre Hilfe.«
Etwas enttäuscht verließ Siggi die
Bücherkiste.
Was hatte sie auch erwartet? Dass Lenka die Buchhändlerin mit sämtlichen Details ihres geheimen Liebeslebens versorgt hatte? Die Tatsache, dass sie das Buch noch extra mit einer Widmung versehen hatte, bestätigte allerdings den Verdacht, es könnte sich um ein Geschenk für einen neuen Partner gehandelt haben. Eine persönliche Widmung schrieb man schließlich eher dann in ein Buch, wenn man dem Beschenkten nahestand. Natürlich konnte sie es immer noch einer guten Freundin geschenkt haben. Wieder musste Siggi daran denken, dass Gabriel von Gnietschfleth ebenfalls eine Ausgabe des Buches besaß. Allerdings hatte Frau Roth gesagt, dass die Autorin sehr gefragt war. Vermutlich ließ sich auf Anhieb eine ganze Reihe Leute auf Sylt finden, die ebenfalls gerade diesen Roman lasen. Diese Spur würde sie im Augenblick nicht weiterbringen. Vielleicht würde sie im Haus noch einen weiteren Hinweis entdecken. Allerdings schwand langsam ihre Hoffnung darauf, überzeugende Beweise finden zu können, dass es sich bei Lenkas Tod nicht um einen Selbstmord handelte.
Auf dem Weg dorthin machte Siggi bei Ingeborg Station, die ihr am vergangenen Abend einen Stapel alter Zeitungen in Aussicht gestellt hatte, die sie zum Einpacken des Geschirrs benötigen würde.
»Moin, Siggi!«, grüßte Ingeborg und bat sie herein. »Na? Mir scheint, du hast dich richtig gut eingelebt. Man bekommt dich ja kaum mehr zu Gesicht.«
»Ja, es war wirklich einiges los in letzter Zeit«, entgegnete Siggi und fasste kurz zusammen, was sich seit ihrem letzten ausführlichen Gespräch bei dem gemeinsamen Spaziergang mit Candy ereignet hatte.
»Genau so habe ich mir die von Gnietschfleths vorgestellt«, kommentiere Inge amüsiert, nachdem Siggi von der
Girlfriendz
-Party bei »Titi« erzählt hatte. »Aber schön, dass dein Geschäft so gut anläuft. Außerdem entwickelst du dich ja zu einer Art Sherlock Holmes.«
»Von wegen. Wenn ich Sherlock wäre, wüsste ich längst, wo der Hase langläuft. Leider tappe ich im Dunkeln, und die Spuren führen in eine Sackgasse. Ich weiß ja noch nicht einmal, ob es wirklich ein Mord war.«
»Das nicht, aber ich muss zugeben, dass es da doch einige Ungereimtheiten gibt«, fand Ingeborg.
»Bloß sind kleine Ungereimtheiten für die Polizei kein ausreichender Grund, eine Mordermittlung anzustoßen, wenn es keine konkreten Hinweise gibt, die auf einen Mord hinweisen.«
»Natürlich nicht. Es ist wirklich vertrackt«, meinte Inge, goss Kaffee in zwei Tassen und stellte sie auf den Tisch. »Ich nehme an, du möchtest auch eine.«
»Klar, Kaffee geht immer, danke.« Siggi lächelte. »Tja, jedenfalls finde ich es ziemlich frustrierend. Mein Gefühl sagt, da stimmt was nicht. Und ich denk mir die ganze Zeit: Das muss man doch beweisen können! Aber wahrscheinlich ist dat im Leben einfach so. Geht nicht alles gerecht zu.«
»Da könntest du richtigliegen«, bestätigte Inge. »Ich seh ja manchmal ganz gern diese Sendungen, in denen gezeigt wird, wie Ermittler und Experten einen kniffligen Fall aus dem realen Leben aufgeklärt haben. Ich erinnere mich noch, dass mich die Behauptung eines Rechtsmediziners ziemlich schockiert hat: Er sagte, wenn auf dem Friedhof alle aufstünden, bei denen eine natürliche Todesursache oder ein Unfall als Todesursache angenommen wurden, die jedoch in Wirklichkeit ermordet wurden, wäre es dort ziemlich voll. Der Rechtsmediziner sagte, es würde oft etwas übersehen oder aus Zeitnot nicht untersucht. In der Realität ist das anders als bei
CSI
und Co.«
»Ja, wahrscheinlich. So sehr mich dat auch anfrisst, wahrscheinlich muss ich die Sache irgendwie für mich abhaken«, überlegte Siggi laut. »Ende der Woche bin ich fertig mit Ausräumen, dann kommen die Sachen weg, Lenka wird beerdigt, das Haus verkauft und ein Schlussstrich unter alles gezogen.«
»So traurig das ist, ich glaube, so wird es wohl laufen«, meinte Inge. »Dein neues Leben hier auf Sylt fängt ja wirklich gut an, was?«
Obwohl ihr gar nicht danach war, musste Siggi lachen. »So hatte ich mir dat garantiert nicht vorgestellt. Und Törtchen erst recht nicht. Der kriegt ja jetzt schon die Motten wegen meiner Schnüffelei.«
»Wenigstens läuft dein Geschäft an, und das ist doch schon einmal fantastisch. Ihr fasst hier Fuß, und alles entwickelt sich. Du hattest zuerst doch Befürchtungen, ob du das Haus halten und deinen Lebensunterhalt bestreiten kannst. Versuche, das Positive zu sehen, Siggi.«
»Du hast recht, Inge. Die Party bei Tatjana von Gnietschfleth kann ich echt als Erfolg verbuchen. Hab ich dir eigentlich erzählt, dat die mich gestern Abend noch angerufen hat?«
»Die von Gnietschfleth? Nein, das hast du nicht erwähnt. Was wollte sie denn?«
Siggi setzte ein triumphierendes Lächeln auf. »Einen Termin machen: Brasilian Waxing und eine Anti-Aging-Gesichtsbehandlung. Scheint, als hätte ich ‘ne treue Kundin gewonnen, wa'?«
»Oh! Das sind tolle Neuigkeiten, Siggi. Leevke Cornelissen und ihre Freundinnen waren ebenfalls extrem angetan. Die hatten riesigen Spaß, und die Bestellungen sind auch schon angekommen. Ich soll dich noch mal ganz lieb grüßen. Geh mal davon aus, dass sich das rumspricht.«
»Dat baut mich jetzt richtig wieder auf, weißte das, Inge? Ich versuch einfach, mich auf den Job zu konzentrieren und mich nicht so auf diese Sache mit Lenka zu versteifen. Wer weiß, ob ich da je wat Brauchbares rausfinde? So, aber nun muss ich mich sputen. Ich hab noch ‘ne Menge Geschirr und Kram einzupacken und nachmittags dann den Termin bei ‘Titi'.«
Inge prustete. Sie hatte gerade einen Schluck Kaffee genommen, den sie bei Siggis Worten pustend auf der Tischplatte verteilt hatte. »Sag doch so was nicht, wenn ich gerade trinke!« Sie giggelte und griff nach dem Lappen auf der Spüle, um die Kaffeespritzer wegzuwischen. »Halt die Ohren steif, Siggi. Grüß mir Torsten und Candy und viel Spaß mit ‘Titi' nachher.« Sie legte den Lappen zur Seite und trank noch einen Schluck Kaffee.
»Na, Spaß ist relativ. Ich weiß, gehört inzwischen auch zum Job, aber ist für mich immer noch gewöhnungsbedürftig, anderen Frauen an der Muschka rumzufummeln.«
Wieder verteilte Inge einen Kaffeesprühregen über den Tisch.
»Lach nich'. Ich mein, keiner mag so ‘n Riesengestrüpp, doch warum erwachsene Frauen untenrum wie ‘ne Siebenjährige aussehen wollen, wird mir ein Rätsel bleiben.«
»Siggi! Nun sieh aber zu, dass du wegkommst! Jetzt hab ich schon wieder den guten Kaffee über den Tisch gespuckt. Schweinkram!« Inge griff erneut nach dem Lappen, um die Tischplatte abzuwischen.
»Ich geh ja schon!«, sagte Siggi und musste selbst lachen.
»Denk an die Zeitungen. Die hab ich dir schon rausgelegt: in der großen Tüte neben dem Eingang.«
»Danke, Inge!«
Mit dem Verpacken des Geschirrs und der Gläser kam Siggi zügig voran. Sie hatte wohl noch Übung von Nisis Umzug, bei dem Denise Omas altes Geschirr aus dem Keller mitgenommen hatte.
Als Siggi damit fertig war, suchte sie noch einmal nach Hinweisen, die darauf hindeuten konnten, wem Lenka das Buch zugedacht hatte, doch es fand sich nichts. Die Sängerin hatte zu kurz hier gewohnt, als dass sich viel Persönliches hätte ansammeln können. Es fanden sich keine Zettel, Notizen oder Briefe, die auf eine Affäre oder Beziehung hätten hindeuten können. Allerdings musste Siggi zugeben, dass sie selbst auch häufiger zum Smartphone und den entsprechenden Messenger-Apps griff oder schnell eine E-Mail schickte, anstatt Zettel oder Briefe zu schreiben. Und Lenka war noch einmal fast zwanzig Jahre jünger als sie gewesen. Für die Generation war das alles noch selbstverständlicher. Denise jedenfalls fand auch überhaupt nichts dabei, Textnachrichten statt Urlaubspostkarten zu versenden. Nicht einmal an Andi. Es gab ja Emojis mit Herzchenaugen. Tatsächlich fand Siggi in der Nachttischschublade ein Tablet und vermutete, dass es Lenka als Notizbuch und zum Kommunizieren gedient hatte. Natürlich war es mit einem Passwort gesichert.
Mit schlechtem Gewissen legte sie es zurück in die Schublade. Eigentlich sollte sie in so privaten Dingen überhaupt nicht herumwühlen.