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Ein ganz besonderer Kniff
Am Dienstag hatte Siggi gleich zwei Girlfriendz -Partys veranstaltet: einen Geburtstagsbrunch am Vormittag in Tinnum und eine weitere Party am späten Nachmittag in Westerland. Leevke Cornelissen und ihre Freundinnen hatten anscheinend die Werbetrommel gerührt, denn es kamen immer mehr Anfragen. Die allermeisten unter weit weniger exklusiven Adressen als der der Gnietschfleths, aber das war Siggi auch nur recht so.
Am Mittwochmorgen fuhr sie zu Lenkas Haus, um dem Fahrer vom Sozialkaufhaus aufzumachen, der das Geschirr und andere Küchenutensilien abholen wollte. Dann kümmerte sie sich um ihren eigenen sträflich vernachlässigten Haushalt. Sie hatte noch bis Donnerstagnachmittag, um mit den Sachen aus dem Wohnzimmer bei Lenka fertig zu werden. Zeit, sich endlich auch mal wieder ihrem eigenen Zuhause zu widmen. Noch war sie gar nicht so recht dazu gekommen, die Vorzüge ihres neuen Heims zu genießen. Allerdings hatten sie den alten Saunaofen wieder in Betrieb genommen und beschlossen, auf ein moderneres, umweltfreundlicheres Gerät zu sparen. Torsten hatte angefangen, Gartenratgeber zu lesen, weil keiner von ihnen so richtig Erfahrung mit einem eigenen Garten hatte. Siggi hatte sich als Teenager eine Zeit lang etwas Taschengeld dazuverdient, indem sie bei Onkel Klaus im Schrebergarten beim Unkrautzupfen geholfen hatte, aber das war auch schon alles. Trotzdem gefiel es ihnen, einen Garten und eine Terrasse zu besitzen, und sie genossen es, draußen zu frühstücken.
Nach getaner Arbeit räumte Siggi Putzeimer, Schrubber und Lappen wieder in die Abstellkammer und warf einen Blick auf die Uhr. Es wurde Zeit, sich für ihren Termin mit Tatjana von Gnietschfleth umzuziehen. Torsten war heute mit dem Rad zur Arbeit gefahren, sodass sie den Passat für die Fahrt nach Kampen nehmen konnte. Es wären zwanzig Kilometer zu radeln gewesen, und sie wollte nicht verschwitzt und mit zerzausten Haaren dort ankommen. Außerdem hätte sie die Ausrüstung mit dem Fahrrad auch nur schwerlich transportieren können. Für das Waxing wollte sie die faltbare pinkfarbene Massageliege mitnehmen, die sie sich für Hausbesuche angeschafft hatte.
Zu Hause duschte Siggi schnell, machte sich zurecht und packte ihre Utensilien zusammen. Dann fuhr sie zum Haus der von Gnietschfleths.
Titi begrüßte sie wie gewohnt mit zwei gezierten Luftküsschen. »Wie schön, dass es so kurzfristig geklappt hat! Wir haben das Haus auch ganz für uns. Gabi ist auf irgend so einer Benefizveranstaltung in Hamburg, und die Kinder sind mit Hendrik nach List gefahren. Hach! Sie sind ja schwer bepackt, Sie Ärmste! Kommen Sie durch.«
Heute trug Titi Jeans und ein eng anliegendes Tanktop, und ihre Absätze waren deutlich flacher. Dennoch musste Siggi an eine Giraffe denken, als Titi mit ihren langen Beinen in der hautengen Röhrenjeans voranstöckelte. Im Wohnzimmer baute Siggi die Liege auf und legte anschließend ein weißes Saunatuch darüber.
»Ich denke, wir sollten mit dem Waxing anfangen, sonst ist nachher der ganze Erholungseffekt der Gesichtsbehandlung gleich wieder futsch«, schlug Siggi vor.
»Jetzt machen Sie mir aber Angst«, sagte Tatjana, und Siggi lachte.
»So schlimm ist es nicht, ich gehe da schon ganz vorsichtig und sanft vor, aber gänzlich ohne Ziepen bekommt man das nicht hin.«
»Ich mache doch nur Scherze, meine Liebe. Ich gehe regelmäßig zum Waxing. Bisher bin ich dafür immer extra in den Salon gefahren. Aber zu Hause in den eigenen vier Wänden ist es doch etwas angenehmer. Es ist ja eine recht intime Angelegenheit, nicht?«
»Das stimmt. Es ist wichtig, dass Sie sich wohlfühlen und mir vertrauen.«
Kurze Zeit später lag Tatjana vor ihr auf der Liege, und Siggi begann, die Haut vorzubereiten, um Irritationen vorzubeugen. Schließlich kleisterte sie das erste Areal der Bikinizone ein, legte den Streifen auf die klebrige Masse und zog ihn mit einem geschickten Ruck ab.
Titi sog Luft zwischen den Zähnen ein. »Was tun wir nicht alles, um den Männern zu gefallen, nicht?«, sagte sie, während Siggi den nächsten Streifen Haut einstrich.
»Und meistens wissen die dat gar nicht ma' zu schätzen, die Dösköppe«, entgegnete Siggi.
»Wie recht Sie haben! Autsch!«, rief Titi. »Die sind wie die Kinder. Eine Zeit lang ist ein Spielzeug interessant, aber dann lassen sie es in der Ecke liegen. Aiii! Hu! Sie könnten die perfekte Frau sein … Oooah! Au! Na ja, man muss sich Mühe geben, um das Interesse lebendig zu halten, nicht?«
»Noch ein bisschen die Zähne zusammenbeißen, bald haben wir es geschafft«, verkündete Siggi und arbeitete rasch weiter.
»Wer schön sein will, muss leiden. Au! Haa! Hat schon meine Oma immer gesagt. Na ja, aber Gabi kann dann auch wieder supersüß sein. Neulich hat er mir Karten für eine Show der Smirnoff Bro-aua … Smirnoff Brothers geschenkt.«
»Ach, das sind doch diese Zauberer, von denen hab ich gehört. Die Show soll toll sein.«
»War sie au-auuch. Die waren eine Woche hier auf Sylt. Und weil Ga-haahaa-Gabriel da verreist war und nicht mitgehen konnte, hat er mir und Vero – die kennen Sie von der Party – Karten für die Vorstellung am Dienstagabend geschenkt. Ist das nicht sü-hüüüü… ah … süß?«
»So, jetzt haben wir es geschafft. Ich gebe schnell Pflegelotion drauf und lege ein Gelpack auf, das kühlt schön und verhindert Rötungen.«
»Haa! Das tut gut!« Tatjana schloss die Augen. »Ein Glück, dass so ein Waxing immer eine Zeit hält. Stellen Sie sich vor, man müsste so etwas täglich machen.«
»Bloß nicht!« Siggi lachte. »So, aber Sie können sich schon mal wieder anziehen. Jetzt kommt der angenehme Teil.«
»Prima. Darauf freue ich mich. Eine ausgiebige Gesichtsbehandlung ist ungemein entspannend.«
Titi schloss die Augen und überließ sich Siggis geübten Händen, die sich gleich ans Werk machten. Reinigen, klären, Brauen zupfen, peelen, ausreinigen und schließlich eine beruhigende Maske mit kühlenden Gelpads auf die Augen.
»Das muss jetzt eine Weile einwirken«, erklärte Siggi. »Dürfte ich vielleicht in der Zwischenzeit einmal aufs Örtchen verschwinden?«
»M-hm, natürlich«, murmelte Tatjana tiefenentspannt. »Sie wissen ja, wo es ist, nicht wahr?«
Siggi deckte sie mit Handtüchern zu, ließ sie auf der Liege zurück und suchte das Gäste-WC im Erdgeschoss auf. Dabei dachte sie über das Gespräch mit Titi nach. Offenbar hing bei den von Gnietschfleths der Haussegen schief. Tatjana schien zu befürchten, dass Gabriel das Interesse an ihr verloren hatte. Sie tat Siggi ein wenig leid, denn offensichtlich gab sie sich ja große Mühe, die Ehe lebendig zu halten, quälte sich durch Kosmetikbehandlungen und kaufte verführerische Dessous. Auch den einen oder anderen chirurgischen Eingriff hatte sie über sich ergehen lassen. Bei einer so schlanken Figur, wie Tatjana sie hatte, war es jedenfalls naheliegend, dass die üppige Oberweite nicht naturgegeben war, zumal sie trotz der drei Kinder auch noch verdächtig fest und straff aussah. Bei den hohen Wangenknochen hatte Siggi ebenfalls den Verdacht, dass der Natur etwas nachgeholfen worden war, von Filler-Injektionen und Botox ganz zu schweigen. Da setzte sich eine Frau all diesen Prozeduren aus und fürchtete doch stets, nicht schön, jung und straff genug zu sein. Da lobte sie sich ihr Törtchen. Der drückte ihr ab und zu mal einen blöden Spruch über das Altern, um sie zu necken, oder guckte einer hübschen Frau hinterher, doch Siggi war sich sicher, dass er wusste, was er an ihr hatte, und dass ihm das Herz wichtiger war als die Verpackung, in der es steckte. Allerdings hatte sie sich in ihrer Beziehung mit Torsten noch nie ernsthaft Sorgen gemacht, dass er ihr fremdgehen könnte. Er hätte auch wenig Gelegenheit dazu gehabt, schließlich wohnten sie zusammen, und er hätte schon eine gute Ausrede gebraucht, um über Nacht wegzubleiben. Klar, man konnte sich auch tagsüber zum Fremdgehen treffen, aber Torsten war einfach nicht der Typ für Heimlichtuerei, Lügen und Intrigen. Sie war sich sicher, dass sie sofort gemerkt hätte, wenn da etwas nicht stimmte.
Tatjana war sich bei Gabriel offenbar nicht so sicher. Klar, der war als Politiker ja auch ständig unterwegs. Eine Affäre hätte er ohne Weiteres tarnen können.
Der Gedanke durchfuhr Siggi wie ein Blitz. Und wenn nun doch eine Verbindung zwischen »Gabi« und Lenka bestanden hatte? War er möglicherweise ihre geheimnisvolle neue Liebe? Ein verheirateter Mann mit drei Kindern, noch dazu ein konservativer Politiker, der öffentlich von Familienwerten, dem besonderen Status einer Ehe und Tradition predigte … Wenn Lenka mit so einem Mann eine Affäre begonnen hatte, wäre das die perfekte Erklärung dafür, warum sie davon nicht einmal ihrer Schwester etwas gesagt hatte. Und wenn man dann noch eine ungeplante Schwangerschaft hinzugab, wurde daraus schnell ein recht explosiver Mix, der nicht nur die Ehe, sondern auch die politische Karriere von Gnietschfleths in null Komma nichts vollständig zerstören konnte.
Siggi war ganz hibbelig. Konnte ihre Theorie stimmen? Wenn ja, hatte Gabriel von Gnietschfleth das bisher plausibelste Motiv, Lenka zu töten. Allerdings müsste sie dazu erst einmal beweisen können, dass tatsächlich eine Verbindung zwischen den beiden bestanden hatte.
Sie verließ das Gäste-WC und sah sich im Flur um. Auf dem Schränkchen neben dem Telefon entdeckte sie ein ledergebundenes Büchlein. Vielleicht ein Adressbuch. Siggi klappte es auf und stellte fest, dass es sich um ein Notizbuch handelte. Sie blätterte durch die Seiten. Termine, Daten, Telefonnummern und Namen waren hier in ungeordneter Form auf die Seiten gekritzelt. Siggi stutzte. Auf einer Seite war das Datum von vergangenem Dienstag notiert, darunter ein Name: Dariusz Szymczak. Außerdem eine Handynummer. Siggi kramte ihr Handy heraus und fotografierte die Seite ab.
Außer der Notiz, die unter dem Datum von Lenkas Todestag eingetragen war, fand Siggi in dem Büchlein allerdings keine weiteren Hinweise. Aber wonach sollte sie auch suchen? Bisher war eine mögliche Affäre zwischen Gabriel von Gnietschfleth und Lenka lediglich eine wilde Theorie von ihr. Es gab doch keinerlei Verbindung zwischen den beiden, außer dass sie offenbar denselben Geschmack hatten, was Bücher betraf …
Aber natürlich! Siggi hätte mit dem Kopf gegen die Wand schlagen mögen. Es war doch so offensichtlich. Das Buch! Sie musste wissen, ob sich in der Ausgabe auf von Gnietschfleths Nachttisch eine Widmung befand. Kurz überlegte sie, sich ins Schlafzimmer zu schleichen. Tatjana lag mit Gelpads auf den Augen auf der Liege, doch das Risiko war zu hoch, dass sie hörte, wenn Siggi die Treppe hinaufging. Sie kehrte ins Wohnzimmer zurück, nahm die Gelpads ab und machte sich daran, die Reste der Maske zu entfernen.
»Das ist so herrlich entspannend, Siggi!«, murmelte Tatjana schläfrig.
Das war ihre Chance! Bei der anschließenden Massage kam es nicht selten vor, dass Kundinnen einschliefen. Es wäre doch gelacht, wenn sie es nicht schaffen würde, Titi ins Land der Träume zu massieren. Schließlich war sie »Siggi mit den magischen Fingern«.
Sie holte den Bluetooth-Lautsprecher aus dem Köfferchen, stellte ihn auf und wählte auf ihrem Handy die Meditationsmusik mit Klangschale, die sie im Studio immer für das Tiefenentspannungsprogramm verwendet hatte. Dann machte sie sich an die Gesichtsmassage. Unter ihren kundigen Fingern entspannte sich Tatjanas Gesichtsmuskulatur zusehends. Der Nacken wurde locker, die Atmung regelmäßiger und tiefer, schließlich begannen die Lider leicht zu flattern, bis das gesamte Gesicht locker und entspannt war.
Siggi beugte sich über Tatjana. Ein leichtes Schnarchen war zu hören. Na also! Sie hatte es noch immer voll drauf. Die Musik würde noch eine Zeit laufen. Sie musste jetzt schnell handeln.
Auf Zehenspitzen huschte sie aus dem Wohnzimmer und die Treppe hinauf, stieß die Schlafzimmertür auf und entdeckte das Buch auf dem Nachttisch. Mit klopfendem Herzen und leicht zittrigen Fingern blätterte sie es durch, konnte aber keine Widmung finden. Sie wollte es gerade auf den Nachttisch zurücklegen, als ihr etwas auffiel. Ganz vorne im Buch war eine kleine Ecke oben umgeknickt, ein kaum sichtbares Eselsohr, keines wie man es unabsichtlich durch ungeschicktes Weglegen hineinmachte. Es war ein scharfer, feiner Kniff, wie mit dem Fingernagel festgestrichen. Siggis Herz klopfte aufgeregt. Das hatte sie in den Deutscharbeiten bei Frau Schäfer immer gemacht, wenn sie eine Lektüre benutzen durften. Sie hatte zwei Seiten irgendwo in der Mitte ganz dünn mit Bleistift beschrieben, sich zum Beispiel rhetorische Stilmittel, Aufbau und Gliederung einer Interpretation oder Tafelbilder aus dem Unterricht dort hineingeschrieben und die beiden Seiten genau so zusammengeknickt wie diese. Beim schnellen Durchblättern öffnete sich das Buch nicht an dieser Stelle, sodass Frau Schäfer bei ihr stets vergebens nach Spickzetteln gesucht hatte.
Siggi öffnete die Falz und schlug die Seite auf. Die Luft wich aus ihren Lungen, und sie starrte auf das Buch. Mit Kugelschreiber war dort eine Widmung eingetragen:
Am Meer suchte ich mich, am Meer fand ich dich.
Mehr nicht, kein Name, kein Datum, nicht einmal ein Kürzel, und doch wusste Siggi, dass sie endlich auf die Spur gestoßen war, die sie so lange vergeblich gesucht hatte. Leider hatte sie bei ihrem genialen Plan nicht bedacht, dass sie das Handy zum Fotografieren gebraucht hätte. Das lag allerdings unten auf dem Wohnzimmertisch und dudelte Klangschalenmeditationsmusik, um Titi im Entspannungskoma zu halten. Mist. Siggi knickte die Seiten eilig wieder zusammen, legte das Buch so zurück, wie sie es gefunden hatte, und lief ins Wohnzimmer.